Wacław Pagórski: "Wem zu wohl ist, der ziehe in Pohlen". Zum Polenbild in der deutschsprachigen Reiseliteratur des 'langen' 17. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen des Nordost-Instituts; Bd. 29), Wiesbaden: Harrassowitz 2022, 269 S., ISBN 978-3-447-11883-5, EUR 38,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Wacław Pagórski behandelt in seiner 2021 als germanistische Dissertation von der Universität Poznań angenommenen Untersuchung das Bild der Polen und Polens in 51 deutschsprachigen Reiseberichten, die zwischen 1573 bis 1700 im Druck erschienen und mit den Mitteln der "literaturwissenschaftlichen Imagologie, der historischen Stereotypenforschung und der historischen Semantik" (12 f.) analysiert werden. Als "langes" 17. Jahrhundert gilt die Epoche vom Beginn der Wahlmonarchie bis zur sächsisch-polnischen Union. Pagórski analysiert nur im Druck erschienene Reiseberichte, und unter diesen nur die "authentischen" (46), entscheidet sich aber trotz des Ausschlusses fiktionaler Texte für die "imagologische" Methode, also die literaturwissenschaftlich-komparatistische Analyse "nationenbezogener Fremd- und Selbstbilder in der Literatur" (56), obwohl "die Mehrzahl der Forscher [...] alle nicht literarischen Texte aus den imagologischen Studien" (58) ausschließe. Weil Pagórski keine literaturwissenschaftliche Arbeit vorlegt, könnte man sich über die Heranziehung der "Imagologie" wundern; doch neben diesem Begriff erscheint - ebenfalls auf Seite 58 - in einem Zitat auch der Ausdruck "Imagebildung" und es geht imagologisch um die (bei Pagórski nur sprachliche) Konzeptionalisierung des Anderen. Zur Untersuchung des Begriffes "Stereotyp" schlägt der Autor "eine komplexe und kontextorientierte Analyse" (63), also Interpretation, vor. Die dritte, "historische Semantik" genannte Methode kann man auch "Begriffsgeschichte" nennen, denn es geht um die pragmatische Frage, "wie Begriffe angewandt" (65) werden in Bezug zu ihrem historischen Kontext, wobei Ordnungskonzepte wie "Nation" oder "Staat" gemeint sind. Überall im Theorieteil der Einleitung ist spürbar, dass die "Musterstudie" (23) von Hubert Orłowski [1] als theoretisches Vorbild gilt, deren Thema auch ein "Exkurs" (119) gewidmet ist.
Pagórskis Argumenten hätte eigenständige Theoriearbeit gutgetan. Der erste Teil der Arbeit zu "Forschungsstand und Methode" nennt zwar die zu erwartenden Problemfelder, aber diskutiert sie nicht. Von einem kulturwissenschaftlichen Standpunkt aus möchte man wissen, warum ein Begriff wie "Diskursanalyse" nicht fällt, vom linguistischen Standpunkt aus wäre die gesamte Forschung zu Emotion oder stance taking wesentlich aktueller als die von Pagórski unter dem Stichwort "historische Semantik" als sprachwissenschaftlich bezeichnete Literatur, als deren "Hauptwerk" Pagórski das "achtbändige Lexikon 'Geschichtliche Grundbegriffe: historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland' (1972-1997)" (64) bezeichnet. Nimmt man es genau, dann lassen sich weder das Lexikon noch seine Verfasser (Reinhart Koselleck, Otto Brunner, Werner Conze) der Sprachwissenschaft zuordnen. Auch "Bild" oder "Stereotyp" werden nicht definiert, sind aber im Gegensatz zu Urteilen Ausdruck eines "Ressentiments", was - etwa über den argumentativ-funktionalen Status der "Bilder" - methodisch hätte reflektiert werden müssen. Die mangelnde theoretische Schärfe schlägt sich im Hauptproblem der Untersuchung nieder, nämlich in der Frage, welche Bewertungen polnischer Realien in seinem Material authentisch und welche den Bedingungen der Textsorte geschuldet sind.
Das Fehlen einer Definition von "Stereotyp" beziehungsweise "Bild" macht sich schon eingangs bemerkbar, wenn Pagórski Kritik an Polen in der Chronik Thietmars im 11. Jahrhundert als "Instrumentalisierung des Polenbildes" (19) bezeichnet. Das mag sein, aber man muss es beweisen. Nicht jede Kritik ist schon eine "Instrumentalisierung"; das emotionale Interesse an einer übergeneralisierten, simplifizierenden Bewertung muss hinzukommen, um eine wertende Aussage als Stereotyp klassifizieren zu können, sonst ist es von einem möglicherweise wahren und wiederholt geäußerten Urteil nicht zu unterscheiden.
Theoretische Unschärfe ist nicht nur bei den Analysekriterien, sondern auch bei der Gegenstandsbestimmung des Verfassers zu beklagen. Die mangelnde Reflexion darauf, was eine Reise ist (das Verlassen des alltäglichen Habitats), was das räumliche Ziel von Reisen bedeutet (Wo beginnt die unvertraute Praxis?), welches Interesse eine Reise befriedigt (die eigene Lebensart im Fremden spiegeln) und unter welchen Bedingungen solch ein Interesse erwacht (urbane Bürgerlichkeit, die soziale Permissivität um den Preis entindividualisierenden Leistungsdenkens erkauft) - alle diese Fragen vorher zu durchdenken, hätte sicher dazu geführt, erstens Feldzüge [!] (74) nicht als Reise zu begreifen und zweitens das Material nicht thematisch, sondern nach seinem funktional-argumentativen Wert zu sortieren. Zusammenfassungen jeweils am Ende von Unterkapiteln bieten zwar eine thematische Ordnung, was zusammen mit den im Anhang beigebrachten Visualisierungen seiner Arbeit einen soliden dokumentierenden Wert verleiht; aber die zur Deutung des Materials aufgebotenen Argumente sind oft anfechtbar. So behandelt Pagórski an seinem Material zum Beispiel die Thematik, dass gedruckte Reiseberichte sich verkaufen mussten, woran sich unmittelbar die Frage anschließt, welches Interesse potenzielle Käufer an einem Reisebericht gehabt haben könnten (185 f.). Der Verfasser meint, die Popularität von Reiseberichten mit dem Interesse der Käufer an "frühneuzeitlich national[en]" (188) Themen erklären zu können. Indem er jedoch in seiner Theorie keinen existenziellen, also auf die Lebenssituation des Individuums bezogenen, Begriff von "Stereotyp" (Ressentiment) und von "Reise" (Gewohntes und Neues) vorsieht, steht ihm auch kein Interpretament für dieses existenzielle, aus der Lebenssituation der Rezipienten entstehende Interesse an Reiseberichten zur Verfügung. Hat das urbane Bürgertum als Käufer von Reiseberichten durch die Wahrnehmung stereotypisierter Fremde sein emotionales Interesse an frühneuzeitlichen Nationstheorien befriedigt - oder nicht vielmehr sein emotionales Interesse an sich selbst im Spiegel des Fremden? Pagórski hat ein Material gewählt, das als Medienereignis verkäuflich sein musste, diskutiert allerdings nicht die daraus folgende Produktionsästhetik, sondern interpretiert diese vielmehr als reale Diskursgeschichte (ohne dass der Begriff "Diskurs" je fällt). So meint der Verfasser einerseits, dass das bei den Autoren der Reiseberichte zu vermutende Vorwissen über Polen schwer ermittelbar sei (132), bescheinigt den Texten aber doch passim bzw. in der Zusammenfassung (206) ein Begriffsreservoir, das über die Vermittlung des Humanismus bis in das Mittelalter und die Antike zurückreiche.
Diese Hypothese ist nicht akzeptabel: Erstens wäre die Behauptung eines jahrhundertelangen Transfers von Fremdkonzepten also doch ein Beleg für das Vorwissen der Reiseberichtsautoren und hätte bildungs- und diskursgeschichtliche Konsequenzen. Zweitens aber macht die Wiederholung eines Begriffes diesen noch lange nicht zum Stereotyp, sondern erst das ressentimentgeladene Interesse an ihm, was bedeutet, dass eine Aussage, selbst wenn sie falsch ist, dennoch nicht als Stereotyp gemeint sein muss. "Wildes Volk" mag bei antiken Autoren negativ gemeint sein ("Barbaren"), ist aber in der polnischen Geschichtsschreibung der Frühen Neuzeit vielmehr positiv konnotiert als natürlich-lebenskräftiger Ursprung ("Sarmaten") und mag dann wiederum in einem deutschsprachigen Reisebericht tatsächlich als stereotype Abwertung ("unzivilisiert") geäußert werden, sofern eine ressentimentgeladene Absicht zu erkennen ist. Ob aber bei dem Begriff "wildes Volk" wirklich ein jahrhundertelanger Begriffstransfer oder nicht vielmehr die Schematik von Eigen- und Fremdbild vorliegt, hätte die Dissertation klären müssen, die jedoch, obgleich in der "Literaturwissenschaft" (55) angesiedelt, sich produktions- und rezeptionsästhetischen Kriterien quasi verweigert.
Während der Rezensent mit der Interpretation des Materials nicht glücklich ist, möchte er aber nochmals den materialdokumentierenden Wert von Pagórskis Arbeit betonen, was die Kenntnis nicht nur dieser Reiseberichte, sondern auch ihrer Autoren betrifft (ohne Sprachkenntnisse des Polnischen, eher aus Süddeutschland kommend, vorwiegend lutherisch, zu gleichen Teilen aus dem Adelsstand und aus dem Stadtbürgertum stammend, Polen oftmals nur als Durchgangsland Richtung Russland oder Litauen bereisend). Insgesamt ist ein empfehlenswerter und zum Nachschlagen geeigneter, aber theoretisch unterinstrumentierter Beitrag entstanden.
Anmerkung:
[1] Hubert Orłowski: "Polnische Wirtschaft". Zum deutschen Polendiskurs der Neuzeit, Wiesbaden 1996.
Thomas Daiber