Maren Röger: Karten in die Moderne. Eine visuelle Geschichte des multiethnischen Grenzlandes Bukowina 1895-1918 (= Visuelle Geschichtskultur; 20), Dresden: Sandstein Verlag 2023, 200 S., ISBN 978-3-95498-690-3, EUR 39,90
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Dass die Postkarte als ein "Organ der Welterzeugung" (Eva Tropper) betrachtet werden kann, beweist der Band zur visuellen Geschichte der Bukowina von Maren Röger, vormals Leiterin des Bukowina-Instituts der Universität Augsburg, inzwischen Direktorin des Leibniz-Instituts für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) und Professorin für Geschichte des östlichen Europa/Ostmitteleuropa an der Universität Leipzig.
In der Forschung gelten die Jahre 1890 bis 1918 als "goldene Ära der Postkarten" (8). Die kleine Karte brachte die große Welt in die Wohnzimmer, Vitrinen- oder Küchenschränke der Haushalte und erfüllte dabei einen erzieherischen Zweck: Unbekannte Städte, Gegenden und Länder konnten anschaulich präsentiert und die prätentiöse Reiseliteratur auf massenwirksame Bilder heruntergebrochen werden. Zudem war die Ansichtskarte ein willkommenes "Schmiermittel" (8) der Tourismusbranche - mit einem Bild und einigen wenigen Zeilen oder Grüßen konnte jeder Mensch zeigen, dass er an einem fernen, schönen Ort zu Besuch war, und diesen zu einem Sehnsuchtsort für die anderen deklarieren. Indirekt empfahl die kleine Karte den Ort, den sie abbildete, und legte dem Empfänger nahe, irgendwann in der Zukunft eine Reise dorthin zu erwägen oder gar ins Auge zu fassen. Die Karte erwies sich demnach als dankbarer Werbeträger.
Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert waren Massenmedien in aller Munde - und die Postkarte vor aller Augen. Durch ihre Visualität leistete sie eine massentaugliche Wissensvermittlung. Mit den unkomplizierten Vervielfältigungs- und Vertriebsmöglichkeiten kam sie - selbst in kleineren Städten am Rande der Habsburgermonarchie wie Czernowitz (Czerniwci, Cernăuți) in der Bukowina - gut an. Zur Jahrhundertwende zählte die Stadt weniger als 70 000 Einwohner, trotzdem gibt es - wie Röger anschaulich vorführt - mehrere Hundert Postkartenmotive aus dieser Zeit. Das "Postkartenfieber" (7) hatte auch das östlichste Kronland der Monarchie erreicht. Da die anspruchsvollen Reiseführer, wie beispielsweise der Baedeker, der dem Kronland Bukowina in seiner Ausgabe zu Österreich-Ungarn von 1898 lediglich 16 von 530 Seiten widmete, die Region als "wenig bedeutend" (7) klassifizierten, wurde es für die Zeitungen aus der Bukowina ein großes Anliegen, ihre Heimatgefilde via Postkarten bekannter zu machen. So warb die Bukowiner Post für "unser leider so wenig gekanntes, schönes Buchenland" (7), indem sie das Album mit 200 Postkarten des Verlegers Leon König aus dem Jahr 1899 vorstellte. Mit dieser neu aufgekommenen Hoffnung ging auch ein ökonomischer Mehrwert einher: Nicht nur Verleger, sondern auch Fotografen, Papier- und Schreibwarenhändler sowie Druckereien profitierten von der kleinen Karte. Gleichzeitig erkannte man mehr und mehr die Macht der Bilder und setzte sie auch medial geschickt und gewinnbringend ein. In vielerlei Hinsicht leistete die Postkarte einen erheblichen Beitrag zum Um- und Aufbruch in die Moderne.
Die spezifischen bukowinischen "Entwicklungen und Erzählungen" (10) präzise und bilderreich darzustellen, ist Rögers großes Verdienst, zumal das östliche Europa - selbst, wenn es um globale Trends geht - in der Forschung unterbelichtet ist. Über die Akteure der Bildmedienproduktion, wie etwa das Druck- und Verlagswesen an den östlichen Rändern des Habsburgerreiches, wussten wir bislang wenig. Diese Lücke schließt Röger, indem sie die Akteure, bei denen die verheißungsvolle Ware "Postkarte" (damals "Correspondenzkarte" genannt) entstand, en detail vorstellt. Die verschiedenen Medienproduzenten organisierten sich - um beispielsweise die Preisabsprachen durchzusetzen - in einem "Verband der Postkarten-Interessenten" und gaben eine Verbandszeitung, die Papier- und Schreibwarenzeitung, heraus. Doch nicht nur die Akteure, sondern auch die jeweiligen Narrative sowie die Darstellungen der ethnischen Gruppen werden unter die Lupe genommen. Die Multiethnizität ist im östlichen Europa kein Sonderfall. Wenn es um Regionen der Habsburgermonarchie geht, sind Mehrsprachigkeit, Plurikulturalität und Multikonfessionalität der adäquate Leitfaden - so auch im Fall der Bukowina.
"Das Habsburger Imperium kam auch da ins Bild, wo es endete" (74) - die Grußkarten von Angehörigen des Habsburger Militärs oder von Bahnbeamten, die an die Grenze zwischen Habsburgerreich und Russländischem Reich entsandt wurden, erzählen Geschichten der Menschen, die sich mit Grüßen an die daheimgebliebenen Bekannten, Verwandten und Vorgesetzten richten. Jede Postkarte bietet "Mikroeinblicke in den Alltag von Schichten, die üblicherweise wenige Egodokumente hinterlassen haben" (94). Das Leben sei in Czernowitz "ganz anderes als bei uns im Westen", teilt Bertha mit (94). Die Hauptstadt der Bukowina sei "fad wie überal in der Provinz" (94), informiert Leo und lässt die Regeln der Rechtschreibung - wie viele andere Postkarten-Schreibende - außen vor. Erna wird sehnsüchtig von ihrer Freundin erwartet, um deren Alltag zu erfrischen. Und ein Schüler einer Czernowitzer Schule fiebert den Ferien bei den Eltern auf dem Dorf entgegen. Dass es Musik- und Theaterveranstaltungen an verschiedenen Orten, dass es eine Universität, zahlreiche Buchhandlungen und Zeitungen in der Hauptstadt der Bukowina gab, scheint diesen Schreibenden entgangen zu sein.
Postkarten von Sakralbauten zeigen eindrücklich, dass den Menschen bis Mitte des 20. Jahrhunderts die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession wichtig war: So lobt ein polnischsprachiger Schreibender das Innere der römisch-katholischen Kirche in Czernowitz. Auch die zahlreichen Synagogen der Bukowina zählten zu beliebten Postkartenmotiven; sie wurden meist ohne Bezug auf das rege jüdische Leben sowie die nuancenreiche jüdische Kultur in der Region versandt. Auf diesen Karten ist kaum eine Spur von Antisemitismus auszumachen. Bei Postkartenmotiven mit Personen jedoch, die physiognomische Stereotype transportieren, verrät häufig auch ein "abwertender Text" eine antisemitische Haltung, was den Schluss nahelegt: "Die Gebäude konnten als Teil des zivilisatorischen Fortschrittsdiskurses akzeptiert, sogar willkommen geheißen werden; die Menschen nicht." Letztere verfolgte in der Bukowina das Stigma des "als rückständig markierten Ostjuden" (154), das wenige Jahrzehnte später fatale Folgen zeitigen sollte.
Die Postkarte - "ein hochmodernes und beliebtes Massenkommunikationsmittel" (77) - erzählt Geschichten und Geschichte, sogar in Form von Leerstellen. War das Kronland Bukowina Randgebiet, so galt der südliche, rumänische Teil rund um Suceava als Peripherie der Peripherie. Anhand des Fehlens von Postkarten lässt sich ablesen, wie wenig Interesse die Zentrale in Wien an der Region und ihrem Kulturerbe bekundete und wie sehr die Übernahme dieser östlichen Gegend ins Imperium allein militärstrategischen Zielen diente. Das Angebot der Czernowitzer Verleger zu den Sehenswürdigkeiten der "einst stolzen Fürstenstadt Suczawa" (74) und den moldauischen Klöstern war dürftig - einige wenige Motive des Geschäftsmanns König und des rumänischen Verlags Școala Română konnte die Verfasserin ausfindig machen.
Ob in Ost oder West - es sind immer dieselben "lieben Grüße", die hin und her wandern: nichtssagend, doch einst für jene, die sie empfingen, von großer existenzieller Bedeutung. Sie zeugten davon, dass der Absender am Leben war. Im Ersten Weltkrieg sind europaweit rund 29 Milliarden Feldpostkarten verschickt worden (165). Während das Bildmotiv einer Postkarte aus dieser Zeit meist propagandistischen Zwecken diente, drehten sich die hinzugefügten Kurztexte um Krankheiten und Verletzungen, um Not und Tod. Von der Front schreibt ein Soldat seinem Freund nach Czernowitz: "Lieber Freund! Ich mache Dir bekannt das ich lebe noch ..." (165). Die einzige Verbindung zwischen den Menschen und ihrer Heimat war im "Großen Krieg" die kleine Karte: "Sprach der Text von Verwüstungen, zeigte die Bildseite die unversehrte Hauptsehenswürdigkeit der Stadt - ansprechend koloriert" (167). Auch diese Geschichten, die ein Zeugnis von Dissonanzen und Diskrepanzen ablegen, fasst Röger in ihrem ansprechenden und anspruchsvollen Buch zusammen.
Ingeborg Szöllösi