Rezension über:

Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdenken. Grundzüge einer fachspezifischen Methodik (= Forum Historisches Lernen), Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2023, 504 S., ISBN 978-3-7344-1087-1, EUR 44,90
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Rezension von:
Andreas Körber
Arbeitsbereich Geschichtsdidaktik, Universität Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Körber: Rezension von: Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdenken. Grundzüge einer fachspezifischen Methodik, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2023, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 4 [15.04.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/04/38589.html


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Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdenken

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Hans-Jürgen Pandel hat die Zeit seit seiner Emeritierung genutzt, um in mehreren Bänden wesentliche Aspekte der ursprünglich stark von ihm mit geprägten neueren deutschen Geschichtsdidaktik zusammenzuführen und weitere Entwicklungen unter den Bedingungen der "Outcome"-Orientierung des deutschen Bildungswesens kritisch zu kommentieren. [1]

Theorie und Praxis werden jeweils konstitutiv sowie in eigenständiger Form miteinander verbunden: Insbesondere ist erstere nie nur Voraussetzung oder Reflexionsinstanz für Geschichtsunterricht, sondern wird immer pragmatisch auf dessen Ausgestaltung und auf die Korrektur als defizitär wahrgenommener Haltungen und Praktiken gerichtet. Solche erkennt der Autor vor allem dort, wo nicht im eigentlichen Sinne geschichtsdidaktische, sondern allgemeinpädagogische Gesichtspunkte und "Methoden" die Oberhand gewinnen. Es sind diese Stellen, in denen die Argumentation ihre Schärfe, ja ihren polemischen Charakter gewinnt.

Der nun nach "Geschichtstheorie. Eine Historik für Schülerinnen und Schüler - aber auch für ihre Lehrer" und "Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis" vorliegende dritte Band macht dabei keine Ausnahme. Sein Titel spielt auf den international inzwischen gebräuchlichen Begriff des "historischen Denkens" an, ohne dass dies ein Aufgreifen oder gar einen Anschluss an die jene Theoriebildung und Debatte signalisiert. Pandel liefert vielmehr eine eigenständige Zusammenschau und Weiterführung geschichtstheoretischer Einsichten als spezifisch unhintergehbarer Kern historischen Denkens im Unterricht. Diese wichtige Fokussierung findet sich auch in der einleitenden Abgrenzung eines auf spezifisch fachliche Erkenntnis zielenden geschichtsdidaktischen Methodenbegriffs von jenem der "Schulpädagogik", der (impliziert: "nur") der Organisation und Führung des Unterrichts diene. Auch hier gilt, dass das Bestehen auf der Notwendigkeit des disziplinären Fokus wichtig ist, die Abgrenzung aber insofern überscharf ausfällt, als gerade der geschichtsdidaktische Methodenbegriff nicht so sehr in einer elementarisierten Form allgemeiner Erkenntnisverfahren bestehen darf, sondern insbesondere auch den Zusammenhang beider Methodisierungen umfassen muss, soll es im Unterricht nicht nur um Geschichtsdenken gehen, sondern um das Erlernen dieses Denkens.

Hierzu passt, dass im Hauptteil des Bandes zwar alle 20 Operationen sowohl grundlegend erörtert als auch unterrichtspragmatisch exemplifiziert werden, sie aber - einschließlich z.B. des "Inszenieren" und "Gedenkens" - umstandslos unter "Erkenntnisoperationen" subsumiert werden, so dass die Ebene der Funktion dieses Geschichtsdenkens gar nicht erst in den Blick gerät.

Als eine Art mahnende Erinnerung unterrichtender Praktiker*innen an die Notwendigkeit theoretischer Fundierung ihres Tuns ist das Buch durchaus anregend. Zudem ist es ein notwendiges Plädoyer für mehr Souveränität und Verantwortung wissenschaftlich gut (aus-)gebildeter Lehrkräfte. Das gilt etwa für die sehr berechtigte Kritik daran, wie im Bereich der Aufgabenkultur der Zweck der Verwendung von Operatoren durch Bestrebungen der Herstellung von Berechenbarkeit durch schiefe Standardisierungen zur Herstellung von Berechenbarkeit geradezu konterkariert worden ist (33-34).

Vieles daran ist im Ansatz wichtig und bedenkenswert. Gleichwohl bleibt oft ein Nachgeschmack - und nicht nur bei der neuerlichen Verwechslung des analytischen "De-Konstruierens" der Kompetenzorientierung mit einem "Demontieren". So richtig etwa die scharfe Ablehnung (unreflektierten) "Hineinversetzens" und "Nachempfindens" (59-61) neben der Aufnahme (reflektierter) "Simulation" und "Fiktionalisierung" als Erkenntnisoperation ist, so sehr stört doch mitunter die schon lange bekannte polemische Abwertung der (allgemein-)Pädagogik. Zwar ist Pandel darin zuzustimmen, dass die als ein "Um den Tisch laufen" und als unverbindliches "Aufschreiben" ironisierte "Platzdeckchen"-Methode allein kein historisches Denken initiiert oder garantiert, und dass dort, wo solche Methodik dominiert, ein unverantwortlicher Umgang mit dem Konzept der Unterrichtsmethode vorliegt, jedoch sind solche Methoden keineswegs völlig sinnlos. Hier hätte die vom Autor eingangs (11-42) stark gemachte Differenzierung zwischen historischen Erkenntnis- und allgemeinen Unterrichtsmethoden auch seinen Blick darauf lenken müssen, wie gerade solche per se nicht-fachlichen Methoden dazu anregen können, nicht nur Ergebnisse "zusammenzutragen", sondern über unterschiedliche Deutungshypothesen zu verhandeln.

An einem anderen Beispiel sei verdeutlicht, wie die Behandlung eines Gegenstandes im Buch nötig und gewinnbringend, gleichzeitig aber fehlerhaft und problematisch ausfällt, und gerade dadurch als Anregung für weitere Entwicklungen über das bislang in der Disziplin Diskutierte hinausweist. Die Rede ist vom erneuten Aufgreifen der Theorie zum historischen Erklären als einer wesentlichen Operation des historischen Denkens (288-310). Pandel überarbeitet die Erklärungstypologie Rüsens ein weiteres Mal, insbesondere mittels der Einführung einer weiteren Erklärungslogik, nämlich jener, die Haussmann "statistisches" [2], Pandel aber ärgerlicherweise durchgängig "probalistisches" (statt richtig "probabilistisches") Erklären nennt. Die Ergänzung ist ebenso interessant wie hinsichtlich ihrer Plausibilität fraglich. So, wie Pandel es referiert, meint statistisches Erklären die Erklärung eines historischen Phänomens durch Verweis auf Parallelen, welche die Subsumtion des konkreten Falles unter eine gemeinsame Logik zulässig erscheinen lässt. Inwiefern damit aber wirklich der einzelne Fall im Sinne der kausalen Begründung seines Zustandekommens erklärt wird, ist fraglich. Zunächst liegt diesem Erklären eine auf Vergangenes angewandte exemplarische Sinnbildung nach Rüsen zugrunde: Nur unter der Prämisse, dass auch über zeitlichen Wandel hinweg ähnliche Regelhaftigkeiten gelten, kann auf der Basis ähnlicher Fälle auf die begründenden Mechanismen geschlossen werden. In den gegenwartsbezogenen Wissenschaften erlauben statistische Verfahren ohne anderweitige Hilfe gerade keine kausalen Schlüsse, und es bleibt zu fragen, ob nicht gerade diejenigen Fälle besonders relevant sind, bei denen der statistische Schluss nicht befriedigend gelingt. Erlaubt das statistische Erklären also tatsächlich die Feststellung des Vorliegens eines historischen Phänomens mittels einer Art von Kausalität - oder handelt es sich doch eher um eine spezifische Form für ein Schlussverfahren, das nicht die Tatsache eines Falles begründet, sondern seine Einordnung in eine Systematik? Leistet Probabilistik also wirklich ein "Erklären" im Sinne der Gewinnung neuer historischer Einsichten - oder doch eher ein "Erläutern" eines neuen Falls anhand anderweitig gewonnenen Wissens? Diese Problematik weist auf Pandels Kritik an den Operatoren zurück, die gerade für unser Fach oftmals nicht hinreichend zwischen einem erkenntnistheoretischen "Erklären" und einem unterrichtlichen "Erläutern" unterscheiden.

All dies tut dem Nutzen des Buches keinen Abbruch. Man darf es nur eben nicht als (die gemäß Vorwort auch nicht beabsichtigte) in sich geschlossene Methodik lesen, sondern muss es als engagierte und polemische methodologische Intervention zu Gunsten eines spezifisch fachlichen Erkenntnis- und Lernkonzepts für Geschichtsunterricht mit Ecken und Kanten verstehen. Für gegenwärtige Pläne, künftige Lehrpersonen "dual" oder ohne Fach- und Fachdidaktikstudium "auszubilden", eignet es sich (zu Recht) nicht - eher für Kolleg*innen in Forschung, Lehrkräftebildung und Praxis, die Richtlinien, Konzepte und Praktiken kritisch-konstruktiv reflektieren wollen. Das Buch verdeutlicht in seinen Ansprüchen und Herausforderungen, wie sehr dies eines wissenschaftlich anspruchsvollen fachlichen und fachdidaktischen Studiums bedarf - eine Einsicht, die in Zeiten diskutierter Reduzierung der Wissenschaftlichkeit von Lehrerbildung und vorschneller Praxisintegration von besonderer Bedeutung ist.


Anmerkungen:

[1] Hans-Jürgen Pandel: Geschichtstheorie. Eine Historik für Schülerinnen und Schüler - aber auch für ihre Lehrer, Schwalbach am Taunus 2017; Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis, Schwalbach am Taunus 2017.

[2] Thomas Haussmann: Erklären und Verstehen. Zur Theorie und Pragmatik der Geschichtswissenschaft mit einer Fallstudie über die Geschichtsschreibung zum deutschen Kaiserreich von 1871-1918, Frankfurt am Main 1991.

Andreas Körber