Martin Thomas: The End of Empires and a World Remade. A Global History of Decolonization, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2024, XVI + 651 S., ISBN 978-0-691-19092-1, USD 39,95
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Ende November 2017 sorgte der Oxforder Theologe Nigel Biggar mit einem Times-Artikel über die akademische Welt hinaus für Aufsehen. Er forderte die Briten dazu auf, ihr koloniales Erbe nicht allein durch die Brille von Scham und Schuld zu betrachten. Was folgte, war die Öffnung eines weiteren Kapitels in den Kulturkriegen unserer Zeit, die Biggar nicht zuletzt an seiner eigenen Universität ausfechten musste, wo beispielsweise die Bewegung Rhodes Must Fall - vergeblich - für die Entfernung der Cecil-Rhodes-Statue von der Fassade des Oriel College agitierte. Anfang dieses Jahres zog Biggar dann auf Vorschlag der konservativen Oppositionsführerin Kemi Badenoch, die einen Teil ihrer Kindheit in Nigeria verbrachte, als Baron ins britische Oberhaus ein. Martin Thomas könnte anhand dieser Begebenheiten eine zentrale These seiner beeindruckenden Globalgeschichte der Dekolonisation stützen: Die Welt, die aus dem windungsreichen Prozess der Dekolonisierung hervorgegangen ist, wird durch "considerable elements of continuity" (31) geprägt. Theoriegesättigt seziert Thomas das koloniale Erbe, das sich in einer ungleichen Verteilung des Wohlstands, einem unterschiedlichen Zugang zu sicherheitsrelevanten Ressourcen sowie im Fortbestand rassistischer Denkweisen offenbare. Da bereits der Kampf gegen die Imperien oft "more visceral than ideological" (3) gewesen sei, müsse auch der Prozess der Dekolonisation - immerhin "the biggest reconfiguration of world politics ever seen" (7) - differenzierter, d. h. weniger aus der eurozentrischen Perspektive eines überkommenen Souveränitätsdiskurses analysiert werden. Zu den zentralen Kontinuitätslinien zählt Thomas eine stabile "north-south geometry of global capitalism" (14), an der sich unvermindert das Streben nach wirklicher Freiheit von kolonialen Strukturen breche. Immer wieder kommt Thomas auf die Wechselwirkung zwischen Dekolonisation und Globalisierung zu sprechen. So sei es möglicherweise keine Laune der Geschichte gewesen, dass die unter der Ägide der Bretton-Woods-Institutionen nach 1945 forcierte Liberalisierung des Welthandels mit dem Ende der westlichen Überseeimperien einherging.
Auf verschiedenen Ebenen zerlegt Thomas den Anspruch des liberalen Internationalismus, den sichersten Weg zu Freiheit und Selbstbestimmung zu weisen. So wurden Grenzen in kolonialisierten Territorien ohne Rücksicht auf die ethnische Zugehörigkeit der Bewohner gezogen. Der Schutz von Minderheitenrechten und die Warnung vor einer Balkanisierung Afrikas dienten als Vorwand für die Verzögerung von Schritten hin zur Unabhängigkeit. Und obwohl der Treuhandrat des Völkerbunds nach 1920 den Imperialmächten gewisse humanitäre Verpflichtungen auferlegte, die von einer Globalisierung des öffentlichkeitswirksamen Antikolonialismus flankiert wurde, verschärfte sich in den 1920er Jahren das gewaltsame Vorgehen Großbritanniens und Frankreichs in den Mandatsgebieten des Nahen Ostens. Ohnehin verflüchtige sich - 1918 wie 1945 - der Gedanke einer Nachkriegszeit, je weiter man sich von den Metropolen Europas entfernte. Der um 1930 grassierende Protektionismus erwies sich als "globally disastrous and locally devastating" (105). Dass die britischen Behörden nicht einmal in der Lage waren, die Opfer der Hungernot in Bengalen 1943/44 zu beziffern, apostrophiert Thomas als moralische wie ökonomische Bankrotterklärung, die sich allerdings in die alliierte Heuchelei eines Krieges füge, der zwar den Faschismus besiegte, an den Rassenschranken der siegreichen Nationen aber einstweilen wenig änderte. Der britische Versuch, den letztlich überstürzten Rückzug aus Indien, ganz zu schweigen von der regelrechten Flucht aus Palästina 1948, als ordentliche, von langer Hand geplante Übergabe zu deklarieren, kann Thomas zufolge nur als "sanitizing something that was anything but transitory or clean" (171) gewertet werden.
Exemplarisch für die nach 1945 - allen Reformanstrengungen zum Trotz - in vielen Kolonialkonflikten sichtbare "determination to coerce with purpose instead of murdering without it" (152) war die Kollaboration der Vereinigten Staaten, Frankreichs und Großbritanniens bei der Rekolonisation Vietnams, die das südostasiatische Land "on a road to forty years of ruin" (145) schickten, obwohl die Niederlage des französischen Expeditionskorps bei Dien Bien Phu 1954 bereits dafür sorgte, dass "decolonization's Asian scales had tipped decisively" (162). Die europäischen Kolonialmächte mussten erkennen, dass ihr überseeisches Engagement ohne die zumindest finanzielle Unterstützung vonseiten der USA zusehends auf tönernen Füßen stand. Die "brave new world of technocratic benevolence" (185) in afrikanischen Territorien sollte das freundliche Gesicht des Spätkolonialismus zeigen, der allerdings sozial die schlimmsten Verheerungen zeitigte, wie Thomas am Beispiel Kenias und Algeriens veranschaulicht, wo neue Mittel der Repression, sozialpsychologische Methoden der Manipulation und die fortgesetzte Konstruktion eines ethnisch Anderen westliche Bemühungen um eine fortschrittliche Dekolonisationsstrategie Lügen straften und Aufständischen mehr Anhänger zuführten als jegliche Ideologie. Dieser technokratische Mix brachte "the worst of Western diffusionism" (244) hervor und ignorierte unter dem Signum der Moderne die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung, die nun für die Unabhängigkeit gerüstet werden sollte, welche für die Kolonialmächte seit den 1950er Jahren oft die strategisch opportunere Alternative zu einem gewalttätigen Festhalten am Status quo war. Koloniale Gewaltexzesse lösten indes in den Mutterländern oft nur einen "storm in a colonial teacup" (198) aus, denn das überseeische Interesse derjenigen, die mit ihrer Wählerstimme unter Umständen eine andere Imperialpolitik hätten bewirken können, hielt sich in engen Grenzen.
Die postkoloniale Kontinuität, die Thomas auch in den Bretton-Woods-Institutionen am Werk sieht, lässt sich an globalen Netzwerken ablesen, die sich etwa in der Londoner Welt der Banken und Versicherungen manifestieren. Sie verkörpern einen pragmatischen Ansatz, für den die Dekolonisation "not a question of thinking the unthinkable but of adjusting to the probable" (266) bedeutete, zumal die Menschen in den imperialen Metropolen ihre Friedensdividende einforderten, die sie nicht auf spätkolonialen Schlachtfeldern vergeudet sehen wollten. Thomas kritisiert die durch den imperialen Handel beschleunigte kapitalistische Akkumulation als Ursache verschiedener Übel der Gegenwart: Ausbeutung natürlicher Lebensgrundlagen, fossil befeuerte Industrialisierung und der daraus resultierende Klimawandel. Kein Wunder also, dass westlich kontrollierten Ölkonzernen bisweilen die Funktion eines Gesslerhuts zukam. Im Gegensatz dazu formierte sich auf der Konferenz von Bandung 1955, die Thomas überschwänglich als Kontrastprogramm zu den Pariser Vorortkonferenzen charakterisiert, die Bewegung eines Internationalismus des Südens, der seine argumentative Wucht aus einem genuin antiimperialistischem Impuls schöpfte, dessen revolutionäre Akteure daheim indes oft wie "models of bourgois propriety" (307) erschienen. Dass nach dem Ende des Ost-West-Konflikts just im globalen Süden die inner- und zwischenstaatliche Gewalt zunahm, könnte als Ausfluss eines unvollendeten Dekolonisationsprozesses gedeutet werden.
Thomas' analytisch profunde Studie, die allenfalls von gewissen chronologischen Sprüngen beeinträchtigt wird und deren Anmerkungsapparat fast die Hälfte des Bandes umfasst, legt den Finger in die Wunde eines Abschieds von den Imperien, der in vielen Fällen alles andere als sauber und final war. Der Palästinakonflikt hält bis heute die Weltgemeinschaft in Atem, auch der im Frühjahr 2025 abermals blutig eskalierte Dauerstreit zwischen den Atommächten Pakistan und Indien hat seine Wurzeln nicht zuletzt in chaotischen Ablösungsprozessen. Und die im Zeichen des Postkolonialismus geführten Debatten über Schuld und Sühne bergen das Potential, öffentliche Diskurse in westlichen Gesellschaften zu vergiften.
Gerhard Altmann