Benny Morris: 1948. Der erste arabisch-israelische Krieg. Aus dem Englischen übersetzt von Johannes Bruns / Peter Kathmann, Berlin / Leipzig: Hentrich & Hentrich 2023, 644 S., ISBN 978-3-95565-609-6, EUR 32,00
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Diese Übersetzung war seit langem überfällig. Erst 15 Jahre nach der englischsprachigen Originalausgabe ist die deutsche Fassung des Buchs von Benny Morris zum israelischen Gründungskrieg 1948 erschienen. Diese Verzögerung verwundert insofern, als die Geschichte und Aktualität des Nahostkonflikts regelmäßig die Gemüter erhitzt und Morris zu einem der führenden israelischen Historiker zu diesem Themenkomplex zählt. Als Vertreter der sogenannten Neuen Historiker stellt er mit seinen Forschungen viele Annahmen der bisherigen israelischen Geschichtsschreibung in Frage. Dass keines seiner Werke bislang ins Deutsche übertragen wurde, verwundert noch mehr angesichts der Tatsache, dass zahlreiche Bücher des bekennenden Antizionisten Ilan Pappe übersetzt wurden.
Umso verdienstvoller ist deshalb, dass die Gesellschaft für kritische Bildung sich dieses Mangels angenommen und die Übersetzung in die Wege geleitet hat. Dem Buch voran steht ein Interview von Jörg Rensmann mit dem Autor. Danach teilt es sich in elf Kapitel, abschließend folgt ein Nachwort von Stephan Grigat, Leiter des Centrums für Antisemitismus- und Rassismusstudien (CARS) an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen.
Im ersten Kapitel beschreibt Morris die historischen Hintergründe des Konflikts seit dem späten 19. Jahrhundert. Ohne sie seien die Ereignisse von 1948 nicht zu verstehen: "Der Krieg 1948 war das nahezu unvermeidliche Resultat von über einem halben Jahrhundert arabisch-jüdischer Zusammenstöße und Konflikte, an deren Anfang die Ankunft der ersten jüdischen Einwanderer aus Osteuropa in Eretz Israel (dem Land Israel), oder Palästina, in den frühen 1880er Jahren stand" (29).
Sie flohen vor antisemitischen Pogromen und folgten dem Traum, in der alten Heimat der Juden wieder einen Staat zu errichten. Diese Hoffnung nährte auch der Zionismus, der sich als jüdische Nationalstaatsbewegung in diesen Jahren formierte. Palästina war seinerzeit verarmt und rückständig, besaß aber durch Jerusalem eine große Bedeutung für die drei abrahamitischen Religionen. Zu Beginn der ersten jüdischen Einwanderungswelle lebten dort circa 450.000 Araber und 25.000 Juden. Zunächst verlief die Immigration unstrukturiert und chaotisch, aber bald begannen zionistische Organisationen, gezielt Land von arabischen Grundbesitzern zu erwerben.
Die Araber vertraten keine einheitliche Position, die Familienclans waren zerstritten. Viele waren bereit, Geschäfte mit Juden zu machen. Doch mit der vermehrten jüdischen Einwanderung stieg die Ablehnung. Sie befeuerte den arabisch-palästinensischen Nationalismus, der im frühen 20. Jahrhundert vermehrt in Gewalt gegen Juden umschlug - ein Vorbote der größeren pogromartigen Ausschreitungen in den 1920er und 1930er Jahren.
Nach dem Ersten Weltkrieg hatten Großbritannien und Frankreich den Nahen Osten unter sich aufgeteilt. Palästina war seit 1918 zu einem britischen Mandatsgebiet und zu einem immer dringlicheren Problem der Kolonialmacht geworden. Angesichts der Spannungen schlug die Peel-Kommission bereits 1937 die Teilung des Gebiets in einen kleinen jüdischen und größeren arabischen Staat vor. Die jüdische Seite akzeptierte zähneknirschend diesen Vorschlag, während die arabische ihn unter Führung von Mohammed Amin Al-Husseini rundweg ablehnte und ganz Palästina beanspruchte.
Als glühender Antisemit schlug sich die Führungsfigur der Palästinenser nicht nur auf die Seite des nationalsozialistischen Deutschland, sondern verbrachte auch seit 1941 vier Jahre im Exil in Berlin. Von dort verbreitete Al-Husseini jihadistische Propaganda in die arabische Welt und rekrutierte bosnische Muslime für die Wehrmacht und die Waffen-SS.
Der Jischuw, die jüdische Gemeinschaft in Palästina, engagierte sich für die Alliierten. Viele Juden meldeten sich für die britische Armee. Morris beschreibt diese Entwicklungen vor 1948 gekonnt und differenziert, da er stets die unterschiedlichen Sichtweisen der jüdischen und der arabischen Seite darlegt, ohne jedoch eine neutrale Position einzunehmen.
Der Zweite Weltkrieg und der Holocaust zeitigten schließlich massive Auswirkungen auf die Situation im Nahen Osten: "Für die Juden bedeutete der Weltkrieg in erster Linie den Holocaust. Der Holocaust zerstörte dem Zionismus einerseits sein wichtigstes Arbeitskräftepotenzial, das osteuropäische Judentum, machte die Bewegung andererseits aber auch zu einem mächtigen Vehikel für die Opfer und Staatenlosen, die nun die Sympathie der internationalen Gemeinschaft genossen" (54).
Zugleich setzte nach 1945 eine Welle der Dekolonisierung ein. Auch die Mandatsmacht Großbritannien beabsichtigte, sich perspektivisch aus Palästina zurückzuziehen. Vor diesem Hintergrund verabschiedete die Vollversammlung der Vereinten Nationen im November 1947 einen Teilungsbeschluss des Gebietes in einen jüdischen und einen arabischen Staat.
Morris beschreibt detailliert die Anstrengungen der zionistischen Organisationen, eine Mehrheit für diese Abstimmung zu erhalten. Letztlich akzeptierte die jüdische Seite den Beschluss, wohingegen die arabische Seite strikt dagegen war. Unmittelbar danach entwickelte sich ein Bürgerkrieg, da arabisch-palästinensische Milizen jüdische Siedlungen und ihre Einwohner attackierten.
Zunächst waren die jüdischen Verteidigungskräfte, die Haganah, in der Defensive, wandelten sich aber im Zuge der Auseinandersetzung zu einer gut organisierten, schlagkräftigen Armee, die von vielen ausländischen Veteranen unterstützt wurde. Bereits im Bürgerkrieg verübten beide Seiten Grausamkeiten.
Noch mehr als die palästinensischen Milizen fürchtete die jüdische Führung aber eine drohende Invasion der arabischen Staaten. Sie hatten bereits massiv gegen den UN-Beschluss agitiert und verbreiteten antisemitische Propaganda. Sie drohten, die Juden ins Meer zu treiben und lehnten jede jüdische Staatlichkeit im Nahen Osten ab.
Dennoch rief David Ben Gurion am 14. Mai 1948 die Gründung eines jüdischen Staates aus. Am Tag danach überfielen mehrere arabische Armeen den neuen Staat. Die Haganah war zunächst zahlenmäßig unterlegen und schlechter ausgerüstet. Allerdings waren ihre Kämpfer hochmotiviert, kannten das Terrain und führten einen existenziellen Verteidigungskampf. Eine Niederlage hätte das Ende Israels und wahrscheinlich wieder einen Massenmord bedeutet. Um diesen Ausgang zu verhindern, bemühten sich zionistische Unterhändler weltweit darum, Waffen zu kaufen. Erfolgreich waren sie vor allem in der Tschechoslowakei. Ferner waren die arabischen Staaten untereinander zerstritten, verfolgten unterschiedliche Kriegsziele, und ihre Armeen erwiesen sich als schlecht organisiert. Morris legt detailliert die verschiedenen Fronten des Krieges dar, beschreibt den Verlauf und die einzelnen militärischen Operationen.
Viele Palästinenser verließen seinerzeit ihre Dörfer in der Annahme, dass Israel bald vernichtet sei und sie dann zurückkehren könnten. Dazu wurden sie auch von der arabischen Propaganda animiert. Viele weitere flohen wegen der Kriegshandlungen, und andere wurden von israelischen Streitkräften vertrieben. Morris weist bei allen Gräueln überzeugend nach, dass es keinen zionistischen Generalplan für Vertreibungen gab. Vielmehr waren sie eine tragische Konsequenz des Krieges: "Obwohl es in den kritischen Monaten des Krieges zu Vertreibungen kam und eine Atmosphäre herrschte, die man später als ethnische Säuberung bezeichnete, wurde die Umsiedlung während des Krieges von 1948 - von jüdischer Seite allgemein als Krieg ums Überleben angesehen - nie zu einer allgemeinen oder erklärten zionistischen politischen Leitlinie"(534).
Auf einen weiteren Aspekt, der in der Debatte häufig keine Erwähnung findet, geht Morris ebenfalls ein, nämlich dass im Zuge des Krieges nahezu alle Juden aus den arabischen Ländern vertrieben wurden. Neben wilden Pogromen führten auch staatliche Maßnahmen dazu, dass die arabischen Juden ihr Hab und Gut zurücklassen und ihre Heimat verlassen mussten. Im Gegensatz zu den vertriebenen Palästinensern wurden sie aber in Israel aufgenommen und in die Gesellschaft integriert. Die Palästinenser waren in den meisten arabischen Ländern hingegen gezwungen, als Staatenlose in Flüchtlingslagern zu leben. Die arabischen Staaten mach(t)en - außer Jordanien - keinerlei Anstalten, die Geflüchteten wirklich aufzunehmen. Die bis heute aufrechterhaltene Forderung nach einem Rückkehrrecht der Palästinenser stellt ein unüberwindliches Hindernis auf dem Weg zu einem langfristigen Frieden dar, wie Morris betont. Nicht zuletzt deshalb, weil sich der Flüchtlingsstatus über die Generationen hinweg vererbt, so dass es sich heute nicht mehr um 700.000 Flüchtlinge, sondern um ca. 5 Millionen Menschen handelt. Die Forderung nach ihrer Rückkehr ist deshalb gleichbedeutend mit der Forderung nach einem Ende des jüdischen Staates.
Gerade vor dem Hintergrund der Eskalation im Nahen Osten nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 scheint es umso notwendiger, sich mit der historischen Entwicklung des Konflikts zu beschäftigen. Nur eine Kenntnis der komplexen Zusammenhänge kann vor allzu simplen und vorschnellen Positionierungen schützen. Hierfür ist das Buch von Benny Morris von unschätzbarem Wert.
Sebastian Voigt