Rezension über:

Claudia Denk / Kai Uwe Schierz / Thomas Taschitzki (Hgg.): Friedrich Nerly - Von Erfurt in die Welt. Die Gemälde und Ölstudien des Nerly-Bestandes im Angermuseum Erfurt, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2024, 560 S., 450 Farb-Abb., ISBN 978-3-422-80257-5, EUR 62,00
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Rezension von:
Uwe Steinbrück
Jena
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Uwe Steinbrück: Rezension von: Claudia Denk / Kai Uwe Schierz / Thomas Taschitzki (Hgg.): Friedrich Nerly - Von Erfurt in die Welt. Die Gemälde und Ölstudien des Nerly-Bestandes im Angermuseum Erfurt, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 9 [15.09.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/09/40242.html


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Claudia Denk / Kai Uwe Schierz / Thomas Taschitzki (Hgg.): Friedrich Nerly - Von Erfurt in die Welt

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Friedrich Nerly (1807-1878) zählt zu den schillerndsten Künstlerpersönlichkeiten des 19. Jahrhunderts. Bei dem reformorientierten Kunstpädagogen Carl Friedrich von Rumohr ausgebildet, erkundete der gebürtige Erfurter zwischen 1828 und 1835 das Umland Roms, und schuf Ölstudien, die seit der Berliner Jahrhundertausstellung von 1906 als zukunftsweisende Meisterwerke früher deutscher Freilichtmalerei geschätzt sind. Zu Lebzeiten war Nerly aber vor allem als Maler romantisch verklärter Venedig-Ansichten bekannt. Nach dem Erfolg der oft wiederholten "Piazzetta bei Mondschein (1838)" residierte der frühe 'Malerfürst' im altehrwürdigen Palazzo Pisani, empfing Gäste aus aller Welt, und führte mit seinen ikonischen Traumbildern über vier Jahrzehnte lang Aufträge wohlhabender Reisetouristen aus.

Bereits wenige Jahre nach dem Tod des "Celebre pittore a Venezia" wurde der größte Teil des Ateliernachlasses nach Erfurt überführt. Die Schenkung, die neben graphischem Material 24 Gemälde und 144 Pleinairmalereien umfasste, gab den entscheidenden Anstoß zur Gründung der Vorgängerinstitution des heutigen Angermuseums. Im Rahmen eines von der Ernst von Siemens Kunststiftung geförderten mehrjährigen Forschungs- und Restaurierungsprojekts haben Claudia Denk und Sammlungsleiter Thomas von Taschitzki den Bestand an Gemälden und Ölstudien mit großer Sorgfalt aufgearbeitet, und das Ergebnis in einer Werkschau präsentiert. Neben Malereien aus Rom widmete sich das Projekt insbesondere dem venezianischen Bilder-Schatz, der selbst der Fachwelt bis dato kaum bekannt war. Eines der wichtigsten Anliegen dieser Schwerpunktsetzung postulierte die Begleitbroschüre: Erstmals zu würdigen, dass Nerly mit seinen Mondscheinbildern eine zentrale Idee der deutschen Romantik in die Welt getragen hat. Rund 200 Gemälde, Ölstudien und Graphiken waren ausgestellt, zumeist solche, die den Blicken der Öffentlichkeit für gewöhnlich entzogen sind; darunter herausragende Leihgaben aus Magazinen deutscher Museen und Werke in privatem Besitz. Zu den Glanzlichtern zählte "Schwäne verteidigen ihr Nest gegen eine Schlange (1859/60)" - ein verloren geglaubtes Hauptwerk, das mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder umfangreich restauriert werden konnte. Auch fälschlich Zugeschriebenes war zu besichtigen. Ein nicht enden wollender Zustrom an Besuchern führte letztlich zu dem Entschluss, die Ausstellung um mehrere Monate zu verlängern.

Projekt und Retrospektive dokumentiert ein 512-seitiger Katalog sämtlicher Gemälde und Ölstudien des Erfurter Nerly-Bestandes. Herausgegeben von Museumsdirektor Kai Uwe Schierz und den Kuratoren, wurde das Werk vom Deutschen Kunstverlag ansprechend gestaltet, und mit 439 Werkabbildungen in ausgezeichneter Qualität illustriert. Die Veröffentlichung aller drei Transportlisten zu den Nachlass-Sendungen aus Italien und sonstiger zeitgenössischer Lichtdrucke runden das Bild ab.

Der erste Teil enthält kunstwissenschaftliche Fachbeiträge, die allesamt von Projektbeteiligten verfasst sind. In dem einführenden Essay zur Geschichte der Nerly-Schenkung werden Verluste und deren Verbleib als auch spätere Bestandszugänge sorgfältig rekonstruiert. Darauf folgen zwei längere Beiträge über die Schaffenszeit in Venedig, worauf noch zurückzukommen sein wird. Abschließend informiert Diplom-Restauratorin Karin Kosicki über kunsttechnologische Untersuchungen, Konservierungs- und Restaurierungsprozesse, wobei objektbezogene Befunde im zweiten Teil detailliert nachlesbar sind. Hier im eigentlichen Bestandskatalog konnten Einzelwerke entsprechend ihrer topographischen und motivischen Identifikationen oftmals unter übergeordneten Sammelnummern abgehandelt werden. Dabei folgt der Katalog grundsätzlich einer chronologischen Anordnung, und ist entsprechend der Reisen und Lebensstationen Nerlys in vier Hauptkapitel unterteilt: Den Lehrjahren bei Rumohr, den Jahren der römischen Studienreise, einem kurzen Mailänder Zwischenstopp und der Hauptschaffenszeit in Venedig.

"Im Kreis der frühen Freilichtmaler in Rom" trifft man auf Kleinodien aus nahezu allen deutsch-römischen Refugien: Unter anderem den Albaner Bergen, der Campagna oder dem legendären Felsendorf Olevano, wo der junge Künstler im Sommer 1829 gemeinsam mit Malern wie Friedrich Preller und Ferdinand Marinus im Casino Baldi logierte, und in Serpentara und Sabinerbergen auf Motivsuche ging. Begleittexte informieren über die Region, deren Bedeutung für die Landschaftsmalerei und Nerlys bildkünstlerische Verarbeitung, wobei Maltechnik, koloristische Gestaltung und Lichtregie fundiert beschrieben sind. Motivgenealogische Bezüge oder maltechnische Parallelen zeigen hinzugezogene Vergleichswerke aus anderen Beständen auf. Darunter sind einzelne Blätter aus Nerlys nicht ansatzweise erschossenem graphischen Oeuvre, welches allein schon im Angermuseum hunderte Bleistift- und Pinselzeichnungen umfasst, und so manch in Privatbesitz verborgenes Gemälde. Als Beispiel sei nur die auf Seite 175 kleinformatig abgebildete "Italienische Landschaft mit Ruinen" erwähnt - ein additiv komponiertes Frühwerk mit ländlicher Staffage, das sowohl idyllische als auch heroische Momente in sich trägt.

Fast 200 Seiten beanspruchen "Die venezianischen Erfolgsjahre". Internationale Verkaufserfolge wechseln mit größeren und kleineren Ateliergemälden ab, die Venedigs Wahrnehmung bis heute prägen: Nachtbilder à la Piazzetta und glühende Sonnenuntergänge, in denen Sehenswürdigkeiten wie San Giorgio Maggiore, Santa Maria della Salute oder Seufzerbrücke zu sphärischen Erscheinungen stilisiert sind. Im Aufsatz "Mondbeglänzte Zaubernacht - Nerly und die Erfindung des venezianischen Mondschein-Bildes" wird der Entstehungsprozess dieser kontemplativ-romantischen Stimmungslandschaften minutiös nachvollzogen. Wechselnde Lichtsituationen, die der rasch über blaues Papier gleitende Pinsel bei nächtlichen Erkundungstouren durch die Stadt einfing, ordnet Claudia Denk völlig zu Recht als spektakulären Höhepunkt im Schaffen Nerlys ein. Auch anderes, weit von konventionellen Bildmustern entferntes Studienmaterial weist erstmals nach, dass Nerly die traditionelle Vedutenmalerei durch konsequentes Naturstudium erneuert hat. Zu den vielen weiteren Überraschungen zählen Kabinettstücke aus der Lehrzeit bei Rumohr, Hochgebirgslandschaften aus den Cadorischen Dolomiten und Motive fernab des historischen Venedigs - von den Lagunen-Inseln bis zum Lido -, die den traditionellen Motivkanon der Stadt nachhaltig erweitern.

"Friedrich Nerly - Von Erfurt in die Welt" zeichnet ein umfassendes Bild zu Leben und Werk, und sei Forschenden und Sammlern als leicht zu handhabendes Nachschlagewerk empfohlen. Für das restaurierende Gewerbe ist er zumindest relevant. Den Herausgebern gebührt das Verdienst, Nerlys einstige internationale Strahlkraft gebührend gewürdigt, und seinen Stellenwert an der Schwelle zur Moderne neu bestimmt zu haben. Nun definiert den umfangreichsten Bestand an gemalten Werken eine präzise gezeichnete Kontur, die es durch einen technikübergreifenden Catalogue raisonné auszufüllen gilt.

Uwe Steinbrück