Stina Rike Barrenscheen-Loster: Neue Arbeitswelten, alte Führungsstile? Das mittlere Management in westdeutschen Großunternehmen (1949-1989), Frankfurt/M.: Campus 2023, 491 S., ISBN 978-3-593-51749-0, EUR 49,00
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Die Dissertation von Stina Rike Barrenscheen-Loster über das westdeutsche Management der alten Bundesrepublik verspricht gleich in mehrfacher Hinsicht wertvolle Erkenntnisse für die Unternehmensgeschichte, denn hier werden Ansätze der Wirtschafts-, Sozial- und Wissensgeschichte miteinander verschränkt. Zum einen stellte die dynamische Wirtschaftsentwicklung die Unternehmensführungen immer wieder vor tiefgreifende Herausforderungen, zum anderen beeinflusste die Ausdifferenzierung der Betriebswirtschaftslehre, die rasante Entwicklung der Elektronischen Datenverarbeitung (EDV) und die zunehmende Internationalisierung der Geschäftswelt die Praxis der Unternehmensführung an sich. Dass Barrenscheen-Loster ihren Schwerpunkt auf das mittlere Management legt, ist nur folgerichtig, gewann dieses doch aufgrund der wachsenden Komplexität angesichts der oben aufgeführten Veränderungen eine immer größere Bedeutung für die Steuerung des Unternehmens. Die Autorin konzentriert sich bei ihrer Untersuchung auf drei Unternehmen: VW, BMW und Bayer. Das erlaubt ihr nicht nur, die Entwicklung des mittleren Managements über verschiedene Branchen hinweg zu vergleichen, sondern auch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in einer Branche herauszuarbeiten.
Die Untersuchung gliedert sich in fünf Kapitel. Zunächst erörtert Barrenscheen-Loster die Begriffe Management und Manager und grenzt diese von dem in Deutschland tradierten Bild des Unternehmenspatriarchen ab. In den beiden folgenden Kapiteln beschreibt sie den Transformationsprozess, der etwa ab den 1960er Jahren einsetzte und nicht bloß einen reinen Generationen-, sondern einen regelrechten Mentalitätswechsel darstellte. Begleitet und beeinflusst wurde dieser Prozess von den politischen und kulturellen Umwälzungen im Zuge der 1968er Bewegung, aber auch von der Adaption vornehmlich US-amerikanischer Managementmethoden, einem wachsenden und immer stärker ausdifferenzierten Angebot von Unternehmensberatungen, Fachzeitschriften und Weiterbildungsmöglichkeiten. Das vierte Kapitel widmet sich der Reaktion der Unternehmen auf diese vielfältigen Einflüsse und Ansprüche. Hier rücken die drei Fallbeispiele VW, BMW und Bayer wieder stärker in den Mittelpunkt. Barrenscheen-Loster kann detailliert rekonstruieren, wie die Unternehmensführungen den Prozess der Managemententwicklung gestalteten, neue Führungsmethoden und Personalstrukturen adaptierten und dabei durchaus ihre eigenen Akzente setzten. Auch reflektiert sie hier die zeitgenössische Kritik an den neuen Führungsstilen. Im letzten Kapitel fasst sie ihre Ergebnisse zusammen: Alte, patriarchalische Führungsstile wurden von einer demokratischen, kooperativen Führungskultur abgelöst. Die Professionalisierung des mittleren Managements stützte sich dabei auf die Tendenz zur Verwissenschaftlichung und der damit einhergehenden Schematisierung. Diese Tendenz war von einer sich abzeichnenden sozioökonomischen Planungseuphorie geprägt, die sich auch in einem wachsenden Markt für Weiterbildungsmöglichkeiten widergespiegelte.
Mit 491 Seiten ist Barrenscheen-Losters Untersuchung durchaus umfangreich. Das ist vor allem auf die Erörterung zahlreicher, sehr interessanter Details der spezifisch deutschen Managemententwicklung zurückzuführen, was neben der Fülle der angeführten Forschungsliteratur für die Gründlichkeit der Autorin spricht. Der Lesefluss wird dabei allerdings durch zwei Aspekte gestört: zum einen durch den Verzicht auf das generische Maskulinum, zum anderen durch die häufigen, beinahe mantrahaften Wiederholungen zur Demokratisierung und Humanisierung der deutschen Unternehmen. Gerade hier hätte sich anhand der Auseinandersetzung mit der wechselseitigen Beziehung von Globalsteuerung, Kybernetik und der EDV eine interessante Kritik an der womöglich nur scheinbaren Humanisierung der Arbeitswelt entwickeln lassen können. Denn mit der Etablierung des mittleren Managements zeichnete sich eben auch der Eindruck ab, dass sich die unmittelbare, persönliche Führung in eine mittelbare, unpersönliche Führung wandelte. Barrenscheen-Looster hätte sich dafür auf den von ihr aufgeführten, aber nicht weiter rezipierten James Burnham ("The Managerial Revolution") beziehen können, der diese Entwicklung bereits in den 1940er Jahren antizipierte.
Ein weiterer Kritikpunkt richtet sich gegen die regelrecht fahrlässige Annahme der Autorin, dass die westdeutschen Unternehmen "in den ersten Nachkriegsjahrzehnten kaum Eigenleistungen erbringen [mussten], wie von ihnen selber gerne angenommen wurde, da durch die Rekonstruktionskräfte der Prozess des Wiederaufbaus geradezu ein Selbstläufer war. Die Unternehmer oder Geschäftsführer der unmittelbaren Nachkriegsjahre mussten in dieser phänomenalen Wachstumsphase nur wenige Entscheidungen für den künftigen Unternehmenserfolg fällen." (80 f.) Belegt wird dies durch den Verweis auf einen zweiminütigen Ausschnitt einer ARD-Dokumentation und eine Seite aus der Überblicksdarstellung zur deutschen Wirtschaftsgeschichte von Werner Abelshauser. Ausgehend von dieser wenig fundierten Prämisse kann die Autorin die eigentliche, nämlich wirtschaftliche Notwendigkeit zur Entwicklung des mittleren Managements kaum erklären. Wäre die Nachkriegsprosperität wirklich ein "Selbstläufer" gewesen, hätte es für die westdeutschen Unternehmen nämlich keinerlei Anlass gegeben, bereits vor den ersten Rezessionserscheinungen Ende der 1960er Jahre neue Führungsmethoden zu adaptieren oder selbst zu entwickeln.
Trotz der aufgeführten Kritikpunkte stellt Barrenscheen-Losters Untersuchung einen wichtigen Beitrag zur westdeutschen Unternehmensgeschichte dar.
Johannes Marquardt