Rezension über:

Andreas Spreier: Kriegsgefangene oder Kriminelle? Internierungslager, Gericht und Gefängnis im Nordirlandkonflikt 1968-1981 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 134), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2024, XI + 554 S., 15 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-077422-1, EUR 79,95
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Rezension von:
Sabine Korstian
Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Sabine Korstian: Rezension von: Andreas Spreier: Kriegsgefangene oder Kriminelle? Internierungslager, Gericht und Gefängnis im Nordirlandkonflikt 1968-1981, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 10 [15.10.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/10/39124.html


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Andreas Spreier: Kriegsgefangene oder Kriminelle?

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Der Nordirlandkonflikt oder die troubles 1968-1998 sind schon Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Arbeiten geworden. Aufgrund ihrer Zentralität im Konflikt gilt dies auch für die Themenkomplexe britische Nordirlandpolitik und deren rechtlichen Grundlagen, Umsetzung und Folgen. Gibt es noch etwas Neues zu entdecken oder erhellende neue Perspektiven auf Bekanntes?

Andreas Spreier fragt in seiner über fünfhundert Seiten langen Dissertation, wie Großbritannien als konsolidierter demokratischer Rechtsstaat mit den Herausforderungen nicht-staatlicher politischer Gewalt von 1968 bis 1981 umging. Er ordnet sich so in die Forschung und Debatten zum Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit ein (3). Dabei begreift er staatliche Politik als Aushandlungsprozesse, in denen versucht werde, die Balance zwischen rechtsstaatlichen Anspruch, Gewaltkontrolle und Konfliktlösung zu finden. Insofern ist der Titel des Buches "Kriegsgefangene oder Kriminelle?" leicht irreführend.

Der bekannten chronologischen Einteilung der britischen Nordirlandpolitik in eine Periode des "reactive containment" von 1969-1975, der "criminalisation" von 1976 bis 1981 mit den Hungerstreiks in den Gefängnissen als Höhe- und Wendepunkt und der "normalisation" ab 1981, hält Spreier entgegen. Stattdessen trägt er vor, dass die britische Politik als Abfolge gescheiterter und widersprüchlicher Versuche gedeutet werden könne, politische Lösungen durch Kompromisse zu finden, rechtsstaatliche Prinzipien zu retten und nicht-staatliche Gewaltakteure mittels Exklusion, zum Beispiel körperlich in Räume außerhalb der Gesellschaft - wie Gefängnisse - und semantisch durch Umdeutung ihrer Handlungen und Motive, zu kontrollieren (17).

Er untersucht diese Prozesse und die dabei entstandenen Konflikträume - Internierungslager, Gericht und Gefängnis - mithilfe verschiedener theoretischer Perspektiven: so die des Securitization-Konzepts, das ausgehend von Sprechakt- und Diskurstheorien danach fragt, wie ein Phänomen als sicherheitsgefährdend konstruiert wird sowie wer diese Definitionen auf welche Weise durchsetzen und so Ausnahmeregelungen legitimieren kann. Darüber hinaus nutzt er verschiedene Ansätze von Performanz-Konzepten, die außersprachliche Handlungen analytisch erfassen können, und zieht als Analysewerkzeug die Erzähltheorie heran (13). Basierend auf einschlägiger Fachliteratur, Quellen aus staatlichen Archiven und Presse sowie den Debatten des britischen Unterhauses entfaltet Spreier seine Analyse in drei umfangreichen Hauptkapiteln mit zahlreichen Unterkapiteln.

Im ersten Hauptkapitel "Internierungslager" zeichnet er die Abwägungen und Entscheidungsprozesse nach, die zur Einführung der Internierung (ohne Gerichtsverfahren) im August 1971 führten: ihre Durchführung und Folgen auf verschiedenen Ebenen von der Eskalation der Gewalt über detaillierte Analysen der entstandenen Orte, die nun die "men of violence" von den "people of good will" trennen sollten, bis hin zu den vielen Dilemmata in die sich die britische Regierung damit - zum Teil wider besseren Wissens - selbst gebracht hatte, um andere aufzulösen. Zum Beispiel gelang es bekanntlich nicht, gleichzeitig das nordirische System halten und reformieren zu wollen, denn aufgrund der Konflikteskalation wurde Nordirland 1972 unter die Direktherrschaft Londons gestellt. Spreier zeigt in seinen Analysen von Deutungen und Narrativen, die sich aus den Verlautbarungen aus London ergeben und den Gegen-Narrativen aus Nordirland, unter anderem auf, wie damit die Versuche der britischen Regierung hinfällig wurden, sich nicht zuletzt in Abgrenzung zum nordirischen "Stormontsystem" als scheinbar externer, der Fairness, dem "common sense" und der Rechtsstaatlichkeit verpflichteter Akteur zu präsentieren.

Das zweite Hauptkapitel "Gericht" widmet sich der Entwicklung des Justizsystems, dessen Widersprüchlichkeit der Autor aufzeigt und als Ausdruck weiterer Versuche interpretiert, rechtsstaatlichem Selbstverständnis gerecht zu werden und die Gewaltkontrolle zurückzugewinnen. Die Eskalation der Gewalt, die immer weiter um sich greifende Entfremdung von Teilen der Bevölkerung und die "no-go-areas", die gegensätzlichen Forderungen von unionistischen und nationalistischen Politikern, die unterschiedlichen Logiken von militärischem und politischem Konfliktmanagement, die Aufhebung von Grundrechten, die massiven Militäreinsätze und die immer weitere Aufstockung des Sicherheitsapparats, führte nach Spreier zu einer "Neuinszenierung der Internierung", die "dem Dialog zwischen den Konfliktparteien den Weg ebnen sollte" (231). Dazu wurden "Tribunale" und später "Diplock Courts", also Gerichtsverfahren ohne Jury, eingeführt und der Terrorismusbegriff in der juristischen Semantik verankert. Ausführlich beschreibt er die sich etablierenden Routinen des Ausnahmezustandes und schließlich die Debatten und Ereignisse, die zur Abschaffung der Internierung führten, denn es wurde offiziell daran festgehalten, die "Terroristen" mit der "rule of law" zu bekämpfen (369), was zu dem führte, was als "Kriminalisierung" bekannt wurde.

Damit beginnt der dritte Hauptteil "Gefängnis", in diesem Fall Konfliktorte, die zwar, die Internierungslager ablösend, erst einmal gebaut werden mussten, aber diskursiv und konkret vor/im Ort zu einer Hauptarena des Konflikts werden sollten. Wie dies möglich war vor dem Hintergrund einer allen beteiligten Akteuren dämmernden Einsicht, dass man sich auf einen "long war", wie es im Jargon der (Provisional) Irish Republican Army hieß, einrichten musste, beschreibt dieser Teil des Buches. Ausführlich und immer mit Sinn für Details analysiert Spreier diskursive und andere Strategien und zeigt, wie aus Protesten und Gegenmaßnahmen einerseits Routinen wurden, andererseits die Angriffe auf Routinen die Lage immer weiter eskalierten. Entgegen der staatlichen Erzählung der schrittweisen Rückkehr zur Normalität (411), steuerte Nordirland auf einen weiteren Höhepunkt, aber - wie schon gesagt - auch Wendepunkt des Konflikts zu. Mit dem Verlauf der Hungerstreiks endet dieser Teil.

In seiner Schlussbetrachtung "Die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit" fasst Spreier zusammen, dass es zwar eine Phase der Eindämmung gegeben habe, die aber mit Übernahme der Direktherrschaft 1972 geendet habe und bis 1975 von einer Phase abgelöst worden sei, die er "Kompromiss" nennt und die mit einer diskursiven Politisierung der Gewalt einherging, wie der "Special Category Status" zeigt, bevor die Phase der "Kriminalisierung" 1976 begann. Diese sei weniger ein Wendepunkt gewesen als eine "Verschiebung der staatlichen Sicherheitspolitik von den Ausnahmepraktiken [...] und den kolonialen Militäraktionen hin zu den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit" und insofern eine "Dekolonisierung" der inneren Sicherheit nach anfänglicher "Rekolonisierung" (510).

Gerade bei seiner Schlussbetrachtung fällt es schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, dass Spreier selbst die koloniale Dimension, die für die Konfliktparteien die größte Selbstverständlichkeit des Konflikts war, erst spät für sich entdeckt hat. Zwar kann man ihm kaum ein mangelndes kritisches Bewusstsein gegenüber der britischen Nordirlandpolitik vorwerfen, aber Verweise auf koloniale Dimensionen finden sich vorher nur vereinzelt. Auch überzeugt die Abgrenzung zur oben genannten Phaseneinteilung nur bedingt; schon allein deshalb, weil zumindest mir niemand einfällt, der oder die als Nordirlandexpert/in gilt und diese Einteilung so rigide interpretiert hat, wie Spreier es macht, um seine eigenen Ergebnisse davon absetzen zu können.

Positiv ist zu vermerken, dass er seine Analysen für eine Leserschaft, die über keine Expertise bezüglich des Nordirlandkonflikts verfügt, immer wieder kenntnisreich in die historischen Kontexte einbettet, Ereignisse erläutert und Konfliktverläufe verständlich macht. Allerdings ist dieses Buch eine Fleißarbeit im besten Sinne, die den Enthusiasmus des Autors für sein Thema zeigt, und daher mit all seinen Details und argumentativen Schleifen nur für diejenigen spannend bleibt, die einen ähnlichen Enthusiasmus aufbringen können. Originell und durchaus gewinnbringend sind die genutzten theoretischen Perspektiven und die punktuellen Anleihen aus der Soziologie. Doch um auf die Eingangsfrage zurückzukommen: Für alle, die sich mit dem Nordirlandkonflikt gut auskennen, ergeben sich aus dieser Lektüre keine grundlegend neuen Erkenntnisse oder Überraschungen. Das ist auch nicht weiter schlimm, denn es bleibt trotzdem eine solide Arbeit mit vielen interessanten Ansätzen, die tatsächlich über eine historische Analyse des Nordirlandkonflikts hinausweisen. Die Dilemmata zwischen Sicherheit und Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und dem Umgang mit politischer Gewalt und anderen Herausforderungen wie Migration werden sich nicht auflösen, aber auch nicht unabhängig von der Frage beantworten lassen: Wessen Sicherheit und wessen Freiheit?

Sabine Korstian