Rezension über:

Sonja Ammann / Helge Bezold / Stephen Germany et al. (eds.): Collective Violence and Memory in the Ancient Mediterranean (= Culture and History of the Ancient Near East; Vol. 135), Leiden / Boston: Brill 2024, XVII + 283 S., ISBN 978-90-04-68317-4, EUR 124,12
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Rezension von:
Lennart Gilhaus
Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Lennart Gilhaus: Rezension von: Sonja Ammann / Helge Bezold / Stephen Germany et al. (eds.): Collective Violence and Memory in the Ancient Mediterranean, Leiden / Boston: Brill 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 10 [15.10.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/10/39856.html


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Sonja Ammann / Helge Bezold / Stephen Germany et al. (eds.): Collective Violence and Memory in the Ancient Mediterranean

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Gewaltereignisse können weitreichende Folgen haben: Sie können ganze Gesellschaften zerstören, zur Herausbildung und Bestätigung von Gruppenidentitäten beitragen und Unterscheidungen zwischen Siegern und Besiegten herstellen. Daher gehören Kriege, Schlachten und Belagerungen häufig zu den privilegierten Erinnerungsorten einer Gesellschaft. Es ist sehr begrüßenswert, dass sich Sonja Ammann, Helge Bezold, Stephen Germany und Julia Rhyder in dem vorliegenden Sammelband dem Zusammenhang zwischen kollektiver Gewaltausübung und Erinnerung in den Gesellschaften des antiken Mittelmeerraums widmen. Der Band entspringt einem von Sonja Ammann geleiteten Forschungsprojekt zu "Transforming Memories of Collective Violence in the Hebrew Bible". Entsprechend widmet sich fast die Hälfte der Beiträge dem antiken Israel und seinen Gewaltbeziehungen zu den umliegenden Mächten. Ergänzt werden diese Beiträge durch Artikel zu altorientalischen Reichen, zum pharaonischen Ägypten sowie zum klassischen Griechenland und zur römischen Republik.

In ihrer Einleitung definiert Sonja Ammann konzise die Konzepte kollektive Gewalt und kulturelle Erinnerung. Sie engt den Begriff der kollektiven Gewalt auf physische Gewalt, die von einer Gruppe ausgeübt wird, ein und betont dabei den inhärenten sozialen Charakter, den kollektive Gewaltausübung hat. Von dort ist der Bogen zur kulturellen Erinnerung an Gewalt nicht weit, da gerade durch kollektive Gewaltausübung Gruppenidentitäten konstruiert werden. Daher seien Repräsentationen kollektiver Gewalt auch niemals neutral, weil sie immer eine Unterscheidung zwischen "self" und "other" herstellen würden. Die Prozesse, Strategien und Muster, wie kollektive Gewalt gesellschaftlich erinnert wurde, stehen im Zentrum des Bandes, und Sonja Ammann betont ausdrücklich, dass nicht versucht werden soll, diese konstruierten Erinnerungen und Narrative gegen die historischen Ereignisse abzugleichen.

Aufbauend auf den Beiträgen des Bandes versucht Sonja Ammann dann, einige gemeinsame Muster aufzuzeigen. Sie betont dabei die Fluidität der Kategorien von Siegern und Besiegten, Opfern und Aggressoren. Weiterhin betont sie die Verbindungslinien zwischen den unterschiedlichen Medien, in denen kollektive Gewalt erinnert wurde. Dabei zeigt sie auf, dass literarische Texte, materielle Kultur und soziale Praktiken gemeinsam als multimedialer Diskurs angesehen werden sollten und die einzelnen Medien sich in aller Regel ergänzten und nicht im Widerspruch zueinander standen. Des Weiteren verweist sie auf die Problematik, dass die meisten Texte und Objekte sich zwar an ein größeres Publikum richten, allerdings von Eliten produziert wurden und damit häufig nur eine eingeschränkte Perspektive bieten, aber auch auf die Erwartungen des Publikums reagieren mussten. Entsprechend verweist Ammann richtigerweise darauf, dass Erinnerungsfiguren stets miteinander konkurrieren konnten und individuelle Erinnerungen durchaus andere Formen annehmen konnten.

Zuletzt verweist Ammann auf die Möglichkeiten transkulturellen Vergleichens und zeigt gemeinsame Muster der Formen, Praktiken und Narrative der Erinnerungen an Gewalt, zugleich aber auch Differenzen zwischen den griechischen Repräsentationen von Gewalt und den im levantinischen und mesopotamischen Raum anzutreffenden Motiven. Gleichzeitig zeigt sie, dass es durch einen vergleichenden Ansatz möglich sei, die Verbreitung bestimmter Formen der Erinnerung sowie Interaktionen zwischen unterschiedlichen Gruppen nachzuzeichnen. Diese Überlegungen bleiben aber weitgehend auf einer abstrakten Ebene, und hier wird viel Potenzial, das die Beiträge bieten, nicht genutzt. Das vergleichende Potenzial wird dabei kaum ausgeschöpft. Es werden weder Entwicklungslinien aufgezeigt noch mehr als in Ansätzen darüber nachgedacht, wie sich etwa Unterschiede sowohl innerhalb als auch zwischen den verschiedenen betrachteten Gesellschaften erklären lassen. Auch versäumt es die Einleitung, darauf einzugehen, wie nicht nur Erinnerung durch die Interessen, kulturellen Bedingungen und Akteure geprägt wurde, sondern umgekehrt auch, wie diese Erinnerungen die sozialen Praktiken selbst formten oder wie bestimmte literarische Genres und Objektgruppen die Repräsentationen kollektiver Gewalt beeinflussten. Solche Rückkopplungseffekte in den Blick zu nehmen, wäre sicher eine Bereicherung gewesen.

Die ersten Beiträge des Bandes widmen sich aus ganz unterschiedlichen Perspektiven der alttestamentarischen Überlieferung. Angelika Berlejung fragt in ihrem Aufsatz, wie sich die bronzezeitlichen Ruinen von Jericho zu einem Erinnerungsort entwickelten. Ausgehend von theoretischen Überlegungen zum Begriff der "Ruinen" stellt sie zunächst die materiellen Überreste von Jericho vor. Anschließend zeigt sie anhand von Josua 6, dass Jericho als Erinnerungsort auf die Wichtigkeit des absoluten Gehorsams gegenüber Gott als Leitlinie des Handelns verweist. Stephen Germany widmet sich der Erinnerung an die Kriege Sauls in den Samuelbüchern und den Chronikbüchern und identifiziert zwei Erzählmodi, in denen Sauls Kriegstaten dargestellt werden. Während die räumliche Orientierung sich in den Diskurs über die Zugehörigkeit bestimmter Räume zur israelischen Gemeinschaft eingliederte, zielte der auf Performanz abzielende Darstellungsmodus vor allem auf das Bild von Sauls Nachfolger David. Die Rechtfertigungen für extreme Formen kollektiver Gewalt im Buch Esther analysiert Helge Bezold und zeigt, dass die Schreiber griechische literarische Muster adaptierten und durch fiktionales Erzählen die Gewalthandlungen ihres eigenen Volkes legitimierten. Ganz ähnlich zeigt Julia Rhyder, wie in den makkabäischen Büchern Feste wie Chanukka zur Feier des Widerstands etabliert wurden und man dabei griechische Muster adaptierte.

Zwei konkreten Bildmotiven und ihrer Bedeutung widmet sich Izak Cornelius. Er untersucht die Darstellung von abgetrennten Köpfen und von Pferden niedergetrampelten Feinden in Karkemiš und Samʾal. Beide Motive zeigen vor allem die totale Vernichtung des Gegners an und fungieren als sichtbare Erinnerungsmarker, die die Sieghaftigkeit der frühen Könige anzeigen. Der Darstellung von Feinden widmet sich auch Antonio Loprieno, der zeigt, dass sich die ägyptischen Schreiber des ersten Jahrtausends v. Chr. der jüdischen Selbstrepräsentation sehr bewusst waren und diese mit den eigenen Erinnerungsfiguren verbanden, um das Bild von Israel als Aggressor gegen Ägypten zu schaffen. Im demotischen Inaros-Petubastis-Zyklus identifiziert Damien Agut-Labordère zwei unterschiedliche Prozesse der Memorialisierung und erklärt so, dass die Texte sowohl komische als auch epische Aspekte aufweisen.

Die letzten vier Beiträge widmen sich der griechisch-römischen Welt. Nathan Arrington verweist auf die Vielfalt der materiellen Objekte und Medien, mittels derer im klassischen Griechenland kollektive Gewalt erinnert wurde, und zeigt, dass in ihrer Vielfalt die unterschiedlichen Objekte eine kontinuierliche Erinnerungslandschaft bildeten, die stets an den Einsatz für die Gemeinschaft erinnerte. David C. Yates widmet sich der athenischen Erinnerung an die Plünderung Athens durch die Perser. Er zeigt, dass sich die kollektive Erinnerung vor allem auf die materiellen Überreste stützte, die in der Stadt zurückgebliebenen und getöteten Athener jedoch weitgehend ignorierte, weil im Zentrum der athenischen Erinnerung vor allem die eigene Sieghaftigkeit stand. Wie Simon Lentzsch anhand einiger Beispiele insbesondere aus dem Zweiten Römisch-Karthagischen Krieg zeigt, erinnerten die Römer vor allem an ihre schweren Niederlagen, weil sie diese zu wertvollen Lektionen für zukünftiges Handeln reinterpretieren und ständig aktualisieren konnten. Im letzten Beitrag des Bandes blickt Jessica H. Clark auf das lateinische Vokabular für Rebellion und Desertierung und weist nach, wie nuanciert Autoren wie Caesar mit diesen Termini umgingen und damit auch unterschiedliche Erwartungen bei der Leserschaft weckten, wie die römischen Feldherren mit Aufständischen und Rebellen umgehen sollten.

Der Band deckt eine große Bandbreite an verschiedenen Genres, Medien und Kulturräumen ab und zeigt vor allem, dass man es stets mit einer Pluralität unterschiedlicher Erinnerungsfiguren zu tun hat und selbst äußerst dominante Narrative andere Erinnerungsmodalitäten komplett überdecken konnten. Stets lassen sich komplementäre oder konkurrierende Stränge der Erinnerung festmachen, die bisweilen sogar miteinander verwoben sind. Weiterhin zeigen die Beiträge eindrücklich, wie sehr die unterschiedlichen Erinnerungskulturen des östlichen Mittelmeerraums im ersten Jahrtausend v. Chr. miteinander interagierten und sich gegenseitig beeinflussten. Insbesondere in der Abgrenzung nach außen wurden dabei nicht selten Praktiken und Muster anderer Gesellschaften adaptiert und eingepasst. Insofern zeigt sich auch, dass Erinnerung stets offen für die unterschiedlichsten Interpretationen, Deutungen und Aktualisierungen sein konnte. Über die Modalitäten dieser gegenseitigen Beeinflussung hätte man gerne noch mehr erfahren; der Band lässt dies aber weiterer Forschung überlassen. Auch bleibt die Frage offen, inwiefern Phänomene der kollektiven Gewalt anders erinnert wurden als andere Ereignisse, inwiefern also der Gegenstand auch die Modalitäten der Erinnerung prägte.

Dennoch bieten die Einleitung und die Beiträge des Bandes wichtige Impulse und konzentrieren sich allesamt auf ein klar definiertes Oberthema - schon für diese Geschlossenheit ist der Sammelband zu loben. Er leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Erforschung kultureller Erinnerung an Gewalt und lädt zugleich dazu ein, die aufgezeigten Ansätze in künftigen, stärker vergleichend angelegten und interdisziplinären Studien weiterzuführen.

Lennart Gilhaus