Olaf Glöckner / Günther Jikeli (Hgg.): Antisemitismus in Deutschland nach dem 7. Oktober 2023, Baden-Baden: Georg Olms Verlag 2025, 315 S., ISBN 978-3-487-16727-5, EUR 29,00
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Der brutale und systematische Massenmord an 1200 Jüdinnen und Juden am 7. Oktober 2023 durch die islamistische Hamas bildet eine Zäsur für das jüdische Leben in Israel und in der Diaspora: Handelt es sich dabei doch um den größten antijüdischen Gewaltausbruch seit der Shoah. Auch für die historische Antisemitismusforschung besteht die Notwendigkeit, sich mit aktuellen Erscheinungsformen zu befassen: Schließlich geht es darum, Antisemitismus als komplexes soziales und historisches Phänomen zu begreifen, um es überwinden zu können. Einen kompakten Überblick über die jüngsten Entwicklungen des Antisemitismus bietet der Sammelband "Antisemitismus in Deutschland nach dem 7. Oktober 2023". Ursprünglich war das Buch als "aktualisierte, überarbeitete Neuauflage" (10) eines 2019 veröffentlichten Sammelbandes mit dem Titel "Das neue Unbehagen. Antisemitismus in Deutschland heute" gedacht, doch hätte der 7. Oktober "wie ein Katalysator vor allem für judenfeindliche Bewegungen und Strömungen, die man in Deutschland wie in ganz Europa bis dato wohl stark unterschätzt hatte" gewirkt (11), weshalb es umkonzipiert wurde. Erklärtes Ziel ist daher nun, "den verheerenden Anstieg von Antisemitismus in Deutschland nach dem 7. Oktober 2023 in seiner Komplexität" zu veranschaulichen (18).
Die einzelnen Beiträge nähern sich diesem Sachverhalt aus unterschiedlichen Perspektiven und mit heterogenen Methoden an. Der Theologe Abdel-Hakim Ourghi befasst sich eher philosophisch mit dem islamischen Antisemitismus und bezeichnet ihn als "adaptierten Sekundärantisemitismus" (21), als eine Form von Antisemitismus, die infolge des 2. Weltkriegs ihren antisemitischen Charakter verleugnet. Der Begriff des sekundären Antisemitismus bezeichnet antijüdische Ressentiments der deutschen Bevölkerung der Nachkriegszeit, die sich zwar vom Nationalsozialismus distanzierte, aber jede Verantwortung für die Shoah bestritt und diese daher wahlweise leugnete, Jüdinnen und Juden zuschob oder zu einem von ihnen angewandten politischen Instrument stilisierte. In Abgrenzung zu einem offenen und genuin islamischen Antisemitismus, dessen Entstehung Ourghi in die Mitte des 19. Jahrhunderts verortet, würde auch der islamische Sekundärantisemitismus seinen antisemitischen Charakter verleugnen und unter dem Deckmantel einer Kritik an der israelischen Regierung und eines Wunsches nach einer friedlichen Lösung des Nahostkonfliktes antisemitische Topoi verbreiten, indem er z. B. Israel eine Verantwortung für den 7. Oktober zuschiebe oder die Handlungen der Hamas als legitimen Widerstand bagatellisiere.
In anderen Beiträgen stehen eher empirische Befunde im Vordergrund. So führte Johannes Sosada für seine Dissertation 30 Interviews mit Studierenden an deutschen Universitäten und diskutiert in seinem Artikel einen Teil seines Datenmaterials. Dabei kommt er zum Schluss, dass antisemitische Vorstellungsmuster über Israel bei vielen Befragten bereits vor dem Pogrom virulent waren, der "als Katalysator für die ungehemmte Äußerung von Antisemitismus" (99) gewirkt hätte. Auch die Direktorin des Berliner Internationalen Instituts für Bildung, Sozial- und Antisemitismusforschung (IIBSA), Kim Robin Stoller, widmet sich diesem Thema. Gewissermaßen als Ergänzung zum Beitrag Sosadas liefert sie einen empirischen Befund aus der Sicht von Betroffenen und von sensibilisierten Beobachter:innen und weist nach, dass antisemitische Vorfälle nach dem Hamas-Pogrom deutlich angestiegen sind. Abschließend widmet sie sich der Frage nach sinnvollen Gegenmaßnahmen zu dieser Entwicklung: Diskutiert werden die Übernahme der IHRA-Arbeitsdefinition und der Einsatz von Antisemitismusbeauftragten an Hochschulen oder die Einrichtung von Safe Spaces und psychologischen Beratungsangeboten. Auch für Historiker:innen im akademischen Betrieb ist es unerlässlich, sich mit dieser Problematik zu befassen und in Solidarität mit jüdischen Studierenden eine Haltung gegen jede Form von Antisemitismus zu entwickeln.
Die Kognitionswissenschaftlerin Monika Schwarz-Friesel betont in ihrem Beitrag, dass auch der in der Gegenwart virulente israelbezogene Antisemitismus "konzeptuell auf dem alten Anti-Judaismus" (155) fuße, also eine lange Geschichte habe und mit dem christlichen Glauben verknüpft sei. Über den langen Zeitraum seiner Existenz sei dem Antisemitismus inhärent eingeschrieben, dass bei Hassausbrüchen wie etwa am 7. Oktober oder auch bei früheren Pogromen "die uralten Muster reproduziert und dabei lediglich opportun-kontextuell" angepasst würden (157). Daher trete der Antisemitismus in unterschiedlichen politischen und sozialen Milieus auf, nicht nur in der extremen Rechten, sondern auch in der radikalen Linken, in der sogenannten "Mitte" der Gesellschaft oder in der muslimischen Gemeinschaft.
Die beiden Beiträge Sebastian Voigts und Martin Klokes befassen sich mit der Geschichte des linken Antisemitismus in Deutschland. Dabei kommt es zu gelegentlichen inhaltlichen Redundanzen, die so weit gehen, dass im Falle des ersten Briefs Dieter Kunzelmanns aus Amman sogar aus derselben Quelle zitiert wird. Erstaunlich ist auch, dass beide dieselbe Behauptung aufstellen, der Sechstagekrieg 1967 hätte zu einer antizionistischen Umkehr der ursprünglich israelsolidarischen deutschen Linken geführt, ohne Belege für diese einstige Israelsolidarität zu liefern. Beide erklären den Antizionismus der bundesdeutschen Antizionismus zudem als Ausdruck einer Schuldabwehr gegenüber den nationalsozialistischen Verbrechen. Für den von ihnen untersuchten Kontext ist das sicher nicht unplausibel, doch stellt sich die Frage, wie die weltweite Eskalation des linken israelbezogenen Antisemitismus zu erklären ist, die außerhalb Deutschlands mit Schuldkomplexen hinsichtlich der Shoah nichts zu tun haben dürfte. Zur Aussage Voigts, dass ein bis heute unaufgeklärter Anschlag auf ein jüdisches Altenheim in München 1970 möglicherweise auf Linke zurückgeht, ist als jüngste Entwicklung zu ergänzen, dass im Mai 2025 neue Ermittlungen eingeleitet wurden, die ins rechtsextreme Lager führen. [1] Auch wenn beide Beiträge auf dringenden Forschungsbedarf verweisen, bieten sie einen gelungenen und lesenswerten Überblick über die antisemitischen Verstrickungen der deutschen Linken nach 1967.
Trotz oder vielmehr wegen der unterschiedlichen Zugänge, auch zu Themen wie Antisemitismus in der Kulturindustrie, dem Umgang der AfD mit dem 7. Oktober oder dem Genozidvorwurf gegen Israel, liefert der Sammelband einen kompakten Überblick über aktuellen Antisemitismus, der sowohl zu einer vertiefenden Erforschung dieses Phänomens anregt als auch zu einer Solidarität des wissenschaftlichen Betriebs mit den jüdischen Betroffenen in- und außerhalb des Unibetriebs mahnt.
Anmerkung:
[1] https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-anschlag-juedisches-altenheim-ermittlungen-rechtsextremist-li.3245862, zuletzt aufgerufen am 13.05.2025.
Andreas Rentz