Rezension über:

Benjamin Hasselhorn: Die Bedeutung des Kronprinzen Wilhelm. Beiträge zur Nachgeschichte der Hohenzollern-Monarchie. Mit einer Edition eines unveröffentlichten Memoiren-Manuskripts. Unter Mitarbeit von Etienne-F. Hees (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte; Bd. 62), Berlin: Duncker & Humblot 2025, 159 S., ISBN 978-3-428-19399-8, EUR 59,90
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Rezension von:
Antonia Sophia Baraniuk
Technische Universität Chemnitz
Empfohlene Zitierweise:
Antonia Sophia Baraniuk: Rezension von: Benjamin Hasselhorn: Die Bedeutung des Kronprinzen Wilhelm. Beiträge zur Nachgeschichte der Hohenzollern-Monarchie. Mit einer Edition eines unveröffentlichten Memoiren-Manuskripts. Unter Mitarbeit von Etienne-F. Hees, Berlin: Duncker & Humblot 2025, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 10 [15.10.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/10/40355.html


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Benjamin Hasselhorn: Die Bedeutung des Kronprinzen Wilhelm

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Benjamin Hasselhorns Buch über die Bedeutung des letzten deutschen Kronprinzen löste unmittelbar nach seiner Veröffentlichung mediale Reaktionen aus. Rezensionen im "Spiegel" und in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" stellten kritisch die Frage, was Hasselhorn "noch zu entdecken hofft" [1] - schließlich sei doch anzunehmen, dass die durch "unberechtigte Entschädigungsforderungen, Geschichtsklitterungen und eine juristische Kampagne des 'Hauses Hohenzollern' gegen kritische Stimmen" ausgelöste Hohenzollerndebatte ein Ende gefunden habe [2]. Sowohl die schnelle mediale Reaktion als auch weitere angekündigte Buchpublikationen zu den Hohenzollern und ihrem Wirken vor und nach 1933 verdeutlichen jedoch [3], dass die Hohenzollerndebatte, die seit 2019 die deutsche Geschichtswissenschaft bewegt, keineswegs an Aktualität eingebüßt hat.

Hasselhorns Publikation widmet sich der bereits vielfach kontrovers diskutierten Frage nach der politischen Bedeutung des preußischen Kronprinzen Wilhelm (1882-1951) für den Aufstieg des Nationalsozialismus und die Etablierung der Hitler-Diktatur. Der Autor verfolgt dabei das doppelte Ziel, sowohl zur Versachlichung einer bislang oft undifferenzierten und emotional aufgeladenen Debatte beizutragen als auch innovative methodische Ansätze für die Erforschung der Nachgeschichte der Monarchie in der Weimarer Republik zu entwickeln.

Die Studie gliedert sich in sieben Hauptkapitel (A bis G) und zeichnet sich durch einen interdisziplinären Ansatz aus, der traditionelle geschichtswissenschaftliche Methoden mit Verfahren der Digital History verbindet. Nach einer prägnanten Einleitung (Kapitel A) bietet Hasselhorn in Kapitel B eine differenzierte Analyse des Forschungsstands zur Rolle des Kronprinzen in der Weimarer Republik. Dabei betont er, dass es in der Geschichtswissenschaft den so häufig behaupteten "Konsens" über die Bedeutung des Kronprinzen nicht gebe (11, 19, 26). Über Jahrzehnte hinweg wurde der Kronprinz "maximal als unbedeutende Randfigur" (11 f.) in den Forschungen zur Weimarer Republik wahrgenommen [4]. Erst im Zuge der juristischen Gutachten, die das Haus Hohenzollern und das Land Brandenburg im Rahmen der Entschädigungsdebatte einholten, erfuhr die Bedeutung des ältesten Kaisersohns für das Ende der Weimarer Republik und die Etablierung des Nationalsozialismus eine heterogene Neubewertung.

Den empirischen Kern der Arbeit bildet die Edition der bislang unveröffentlichten Memoiren des Kronprinzen für die Jahre zwischen 1910 und 1945 (Kapitel D). Diese zwischen 1945 und 1947 entstandenen autobiografischen Aufzeichnungen aus dem Hausarchiv der Hohenzollern in Hechingen werden in deutscher und englischer Sprache vollständig ediert und unter Berücksichtigung retrospektiver Selbstdarstellungsstrategien kritisch kontextualisiert (Kapitel C). Die Quelle offenbart vor allem anhand von vier Punkten die NS-Affinität des Kronprinzen: Während Wilhelm, erstens, seine persönlichen Kontakte zu Hitler als bloßes Interesse an der "Bekanntschaft berühmter Männer" (36) bagatellisierte, verraten seine Worte über Hitlers Auftritt beim "Tag von Potsdam" und seine ausdrückliche Bewunderung für die NS-Sozialpolitik (36) eine tiefergehende Identifikation mit dem Regime. Trotz der Beteuerungen Wilhelms, kein Antisemit zu sein, artikulierte er, zweitens, klassische antisemitische Ressentiments, wenn er "die Juden" nach 1918 für zu einflussreich hielt und die Überzeugung äußerte, dass sich "die Deutschen" auch ohne Hitler gegen sie gewendet hätten (35). Der Kronprinz begründete, drittens, seine Distanzierung vom Hitler-Regime nach 1934 primär mit der Ermordung seines Freundes Kurt von Schleicher und der "Nazifizierung" der Wehrmacht (68) - also nicht mit einer moralischen Ablehnung der NS-Ideologie, sondern mit der Verletzung preußischer Militärtraditionen und persönlichen Loyalitäten. Den nationalsozialistischen Massenmord, viertens, erwähnte Wilhelm nur andeutungsweise, während er das deutsche Volk als "systematisch" von Hitler "belogen und betrogen" (36, 73) darstellte und sich selbst zu den Getäuschten zählte. Hasselhorn sieht den Wert der Quelle in erster Linie darin, dass sie "die Beweggründe des Kronprinzen für eine Kollaboration mit Hitler" offenlege (37). Darüber hinaus verdeutlichen die autobiografischen Darstellungen des Kronprinzen die Grenzen seiner nachträglichen Selbststilinszenierung als unpolitischer Beobachter.

Besonders innovativ ist Kapitel E, das Hasselhorn in Zusammenarbeit mit Etienne-F. Hees - wie der Autor Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neueste Geschichte der Universität Würzburg - verfasste. Hier wird ein methodisch wegweisender Ansatz zur Lösung eines zentralen Problems der Weimar-Forschung entwickelt: Wie lassen sich in prädemoskopischer Zeit belastbare Aussagen über die gesellschaftliche Wahrnehmung und politische Bedeutung einzelner Akteure treffen, ohne in das "Rosinenpicken" passender Einzelquellen zu verfallen? Die Autoren schlagen vor, mithilfe computergestützter Verfahren der natürlichen Sprachverarbeitung (Natural Language Processing) digitalisierte historische Zeitungsbestände quantitativ zu analysieren, um der "faktisch irreführenden Quellenselektion" entgegenzuwirken, wie sie "im Kontext der Hohenzollerndebatte" erfolgt sei (99). Ihre erste - experimentelle - Anwendung dieser digitalen Methode liefert trotz der von den Autoren eingeräumten noch recht schmalen Quellenbasis bereits aufschlussreiche Befunde. Sie vergleichen die Häufigkeit, mit der der Kronprinz in Zeitungsartikeln zwischen 1918 und 1933 erwähnt wird, unter anderem mit Personen der politischen Rechten wie Alfred Hugenberg und Franz Seldte sowie mit Adolf Hitler und Reichspräsident Hindenburg. Ihr Ergebnis: Der Kronprinz spielt eine deutlich geringere Rolle in den ausgewerteten Zeitungen als die anderen Genannten. Besonders bemerkenswert ist jedoch die politische Verteilung: Während der Kronprinz elfmal mit Hindenburg assoziiert wird, erfolgt eine gemeinsame Nennung mit Hitler (jede davon in der sozialdemokratischen Zeitung Vorwärts), nur sechsmal. Die Autoren sehen dies als Bestätigung der von Lothar Machtan vertretenen These [5], dass "vor allem die politische Linke der Weimarer Republik dem preußischen Kronprinzen eine hohe Bedeutung für Hitlers Aufstieg beimaß, während die politische Rechte den Kronprinzen für unbedeutend hielt" (123).

In Kapitel F nimmt der Verfasser eine dezidiert kritische Position zur Diskussionskultur in der Hohenzollerndebatte ein. Hasselhorns Ziel ist es - auch angesichts seiner eigenen Erfahrungen als engagierter Akteur in der Auseinandersetzung -, die stark politisierte und polarisierte Debatte wieder auf die wissenschaftliche Sachebene zurückzuholen und diese von der politischen und der juristischen Dimension des Streites zu trennen. Hasselhorn kritisiert das "Wir-gegen-die-Denken" (138 f.), durch das sich die Debattenteilnehmer in zwei vermeintlich feindlich gegenüberstehenden "Lagern" (138) positionieren. Diese Polarisierung verstärke sich durch Framing-Strategien und unwissenschaftliche Polemik. Das daraus resultierende Denkmuster sei, so Hasselhorn unter Verweis auf Thomas Weber, nicht nur "demokratiegefährdend" [6], sondern auch "wissenschaftsgefährdend, weil es die für die Wissenschaft unerlässliche Auseinandersetzung über Sachfragen diskreditiert und durch einen Kampf um Deutungshoheit ersetzt" (139). Die Problematik der stark emotionalisierten und politisierten Debatte hat Hasselhorn selbst zu spüren bekommen. Nachdem er im Januar 2020 vor dem Kulturausschuss des Bundestages erklärt hatte, dass er beide Positionen der Debatte für wissenschaftlich legitim erachte, wurde er als "Hohenzollernfreund" angegriffen. Versachlichung, wie Hasselhorn sie fordert, wäre in jedem Fall wünschenswert.

Das hier besprochene Buch trägt dazu vor allem durch neue Quellen und neue Methoden bei. Die vollständige Edition der Kronprinzen-Memoiren macht ein wichtiges Dokument erstmals für die Forschung zugänglich. Dieses autobiografische Zeugnis bietet aller nachträglichen Selbstrechtfertigung zum Trotz Einblicke in die Überzeugungen des Kronprinzen, liefert konkrete Belege für seine ideologischen Affinitäten zum NS-System, verdeutlicht, dass seine Distanzierung vom Hitler-Regime nicht aus moralischen Motiven stattfand, und offenbart die begrenzte politische Urteilskraft Wilhelms. Das digitale Analyseverfahren ermöglicht zudem eine Quantifizierung der medialen Präsenz des Kronprinzen. Auch über die Hohenzollerndebatte hinaus kann dieses Digital-History-Verfahren die historische Forschung bereichern, da es eine Möglichkeit aufzeigt, zuverlässiger als bisher Bevölkerungsstimmung und öffentliche Meinung zu rekonstruieren.


Anmerkungen:

[1] Klaus Wiegrefe: Schlichtes Gemüt. Liebe zu Autos. Und braune Ansichten. Memoiren von Hohenzollern-Kronprinz Wilhelm, in: Spiegel Panorama, 14.6.2025; www.spiegel.de/panorama/hohenzollern-memoiren-von-ex-kronprinz-wilhelm-zeigen-ein-verheerendes-bild-a-0e983bf3-8eb2-4f8f-907f-7c41c5d146f1?sara_ref=re-xx-cp-sh (5.8.2025).

[2] Eckart Conze: Ein Versuch in Selbstmarginalisierung. Benjamin Hasselhorn ediert Aufzeichnungen des Kronprinzen Wilhelm von Preußen nach 1945, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.8.2025, Feuilleton, 10.

[3] Für Mitte September ist im Berliner BeBra-Verlag Jörg Kischsteins Buch "Der Erbe des Kaisers. Prinz Wilhelm von Preußen (1906-1940)" angekündigt - laut Vorschau eine eher populärwissenschaftliche Publikation mit zahlreichen Bildern.

[4] Hasselhorn zitiert hier aus einem Gespräch mit Horst Möller: "Diese Debatte ist absurd", in: Frank-Lothar Kroll / Michael Wolffsohn / Christian Hillgruber (Hgg.): Die Hohenzollerndebatte. Beiträge zu einem geschichtspolitischen Streit, Berlin 2021, 395-405, hier 402.

[5] Hasselhorn bezieht sich hier auf Lothar Machtan: Die Hohenzollerndebatte als historische Forschungskontroverse, in: Journal der Juristischen Zeitgeschichte 17 (2023), 47-52.

[6] Hasselhorn zitiert Thomas Weber: Streit in Zeiten der Pandemie. Die Auseinandersetzung um das Verhältnis der Hohenzollern zum Nationalsozialismus, in: Jürgen Zimmerer (Hg.): Erinnerungskämpfe. Neues deutsches Geschichtsbewusstsein, Stuttgart 2023, 105-127, hier 126.

Antonia Sophia Baraniuk