Marcus Handke: Einsamkeit. Bestimmung, Funktion und theologische Dimensionen in der monastischen Reformzeit des 11. und 12. Jahrhunderts (Kamaldulenser, Kartäuser und Zisterzienser) (= Vita regularis. Ordnungen und Deutungen religiosen Lebens im Mittelalter; Bd. 85), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2024, X + 610 S., ISBN 978-3-643-15624-2, EUR 54,90
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Einsamkeit ist spätestens durch die Einrichtung eines 'Ministry of Loneliness' in Großbritannien 2018 zum Symptom gegenwärtiger gesellschaftlicher Probleme geworden. Das stieß auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Einsamkeit in transkultureller und transepochaler Perspektive an. [1] Das Phänomen der Einsamkeit war schon in der Vormoderne Gegenstand weitreichender Diskurse. Besonders im religiösen Zusammenhang wurde sie als Überwindung von Hindernissen auf dem geistlichen Weg und somit als prinzipiell erstrebenswert angesehen. [2]
Hier setzt die 2020 an der TU Dresden eingereichte Dissertationsschrift von Marcus Handke an, die 'Einsamkeit' als Kategorie der vita religiosa bei den Kamaldulensern, Kartäusern und Zisterziensern im 11. und 12. Jahrhundert untersucht. Die drei Orden eignen sich, da sie sich im Untersuchungszeitraum in einer institutionellen Frühphase befanden und in ihnen Eremitentum und Koinobitentum gleichzeitig existierten. Grundlage für diese Auswahl ist, dass Einsamkeit "Ortsstabilität, nicht aber das individuelle Alleinsein in der 'Wildnis' meinte" und damit auch für "dauerhafte, gemeinschaftlich organisierte Institutionen" relevant war (29). Dabei sollen negative und positive Funktionen von Einsamkeit, semantische Entwicklungen, potentielle neue Räume der Einsamkeit sowie eine mögliche Institutionalisierung der Einsamkeit fokussiert werden (26).
Seine Fragestellung, sein Vorgehen und das Quellenmaterial führt der Autor in Kapitel I aus. Kapitel II erörtert den Forschungsstand und geht auf den Begriff der Einsamkeit ein. Die Zeitgenossen verwendeten Begriffe wie solitudo, eremus oder desertum zur Beschreibung des Phänomens. Handke zielt aber auch auf eine ideengeschichtliche Untersuchung des Phänomens. Er nimmt eine vorläufige, grobe Begriffsmatrix mit den Achsen 'äußerlich' vs. 'innerlich' und 'positiv' vs. 'negativ' vor, wobei die erste Unterscheidung grundlegend für den Hauptteil der Studie werden soll.
Kapitel III führt zentrale spätantike Zeugnisse an, welche Konzepte der Einsamkeit enthalten und religiose Einsamkeitsdiskurse des Hochmittelalters potentiell beeinflussten. Darauf folgt in Kapitel IV die Erörterung dreier Faktoren, welche die Auseinandersetzung mit Einsamkeit im untersuchten Zeitraum bedingten: die Rolle der Einsamkeit in der eremitischen Reform, der Trend zur Individualisierung im 12. Jahrhundert sowie die Aufwertung der Seele in der monastischen Spiritualität. In Kapitel V kommt Handke auf seine Quellengrundlage zu sprechen, namentlich paränetisch-didaktische Texte, Heiligenleben und legislatorisch-normative Schriften mit Provenienz der drei untersuchten Orden.
Nach den recht ausführlichen Hinführungskapiteln beginnt mit Kapitel VI der eigentliche Hauptteil der Arbeit. Dieser widmet sich nun den funktionalen und assoziativen Aspekten der Einsamkeit, unterteilt nach den bereits in Kapitel II angeschnittenen Dimensionen 'äußerlich' und 'innerlich'. Handke konzentriert sich, wie für eine geschichtswissenschaftliche Studie erwart- und nachvollziehbar, weniger auf tatsächliche (bspw. architektonische) Aspekte als vielmehr auf die Beschreibungen (ficta) der Einsamkeit.
Für die äußerliche Dimension lassen sich drei Ebenen herausarbeiten. Erstens wird die Umgebung der Gemeinschaften mit Einsamkeitstopoi bedacht, wie sie bereits bei den spätantiken Eremiten begegnen (Wüste, Einöde etc.). In der kamaldulensischen Klosterregel und den kartäusischen Consuetudines wird die Einsamkeit anhand vorbildhafter Figuren wie Moses heilsgeschichtlich verortet, die Ethik einsamen Lebens expliziert und appellativ in Beziehung zu den zeitgenössischen Gemeinschaften als Vorbild vermittelt. Zweitens wird das Kloster als Fluchtpunkt der Einsamkeitssuche beschrieben. Neben typischen Bildern wie dem Kloster als Stadt oder Hafen versuchen v.a. zisterziensische Autoren, eremitische mit koinobitischen Idealen zu verknüpfen. Kartäusische und kamaldulensische Texte sehen den Einzelnen über die Kontemplation mit der Gemeinschaft verbunden. Drittens wurde innerhalb des Klosters besonders die Zelle als Kulminationspunkt der Einsamkeit betrachtet, in dem der Religiose von der Welt abgeschirmt und zugleich Gott besonders nah sein konnte. Die Zelle galt - auch für Zisterzienser wie Wilhelm von Saint-Thierry, die das Ideal der Zelle in ihren Klöstern selbst gar nicht nachdrücklich verfolgten - als "Ermöglichungsraum" (335) bei der Suche nach Gott. Handke interpretiert die äußeren Aspekte der Einsamkeit als "spirituelle Raumordnungen" (343), was auf die Relevanz der Introspektion hinweist.
Diese steht bei der Analyse der innerlichen Dimension im Mittelpunkt. Die Reformautoren entwerfen eine innere Architektur des Menschen, der sich auch intim der Einsamkeit zuwenden muss, um sich selbst und schließlich Gott zu erkennen sowie zu seinen Tugenden zu finden. Das Innere kann auch als Zufluchtsort vor der Welt dienen. Es wird dabei auf einen bestimmten Raum reduziert oder erstreckt sich landschaftlich scheinbar unendlich weit. Doch die innere Einsamkeit entfaltet ihre Wirkung nicht nur im Inneren selbst: In der Vita Bernardi, so kann der Autor zeigen, werden die Lebensstationen Bernhards von Clairvaux stets mit Etappen zur Erlangung der Seeleneinsamkeit parallelisiert. Diese erscheint somit als "herausfordernde Tätigkeit, die nicht ohne Vorprägung und langes Training erreicht werden" (406) kann, schützt den Protagonisten aber auch vor schädlichen äußeren Einflüssen. Auch negative Qualifizierungen der Einsamkeit werden berücksichtigt, womit die Vielschichtigkeit des Untersuchungsgegenstandes deutlich wird. Die Einsamkeit kann etwa zu Trägheit (acedia), Selbstbezogenheit (singularitas) oder Transzendenzverlust durch Schlaf führen. Diese Eigenschaften legen verborgene Sünden frei und evozieren Techniken, mit denen der Einsame an seiner Beziehung zu Gott arbeiten muss.
In vier Synthesekapiteln (Kapitel VII-X) resümiert der Autor seine Untersuchung: Im Gegensatz zu den spätantiken Vorbildern lässt sich für das 11. und beginnende 12. Jahrhundert der Versuch nachweisen, eine für die Einsamkeitsideale korrekte Praxis im institutionalisierten Gefüge der Orden zu finden. Die analysierten Quellen zeigen, dass die Einsamkeit mühelos für die koinobitische Lebensweise appliziert wurde und sich dabei zwar kein klar umrissenes Konzept, gleichwohl aber ein Bündel an Praktiken und Evokationen herauskristallisierte, das die Religiosen Gott näher bringen sollte. Als Vorbild hierfür diente Christus. Letztlich erweitert Handke die Dichotomie in 'äußerlich' und 'innerlich' um sieben Konturen, welche für jede Dimension spezifische Funktionen und Bedeutung der Einsamkeit artikulieren, zu einer "Analysematrix" (Schaubild 498; bspw. Kontur "Lokalität": äußerlich geographische, innerlich anthropologische Einsamkeitsorte). Dass dieses Schema auf der vorliegenden Fallstudie aufbaut und für andere Studien gegebenenfalls modifiziert werden muss, wird reflektiert.
Marcus Handke gelingt mit seiner Dissertation eine nuancierte, detailliert recherchierte Studie zur Einsamkeit im Hochmittelalter. Er geht dabei nicht nur quellenkritisch genau, sondern auch mit einer Freude an theoretischen Zugriffen vor, wie das abschließende Schema zeigt. Die Unterteilung in 'äußerliche' und 'innerliche' Dimensionen der Einsamkeit kann überzeugen, um das zweifellos komplexe Phänomen aufzugliedern und die Funktionen der Einsamkeit für die Klostergemeinschaften und die Religiosen als Individuen deutlich zu machen. Eine ausführlichere Diskussion dieser Strukturierung wäre wünschenswert gewesen, um deren Grenzen aufzuzeigen oder Alternativen zumindest vorzuschlagen. Gleichwohl ist nachvollziehbar, warum der Autor sich für dieses Schema entschieden hat. Insgesamt liegt eine aufschlussreiche Studie vor, welche Einsamkeit zwischen Institutionalisierung der Orden, koinobitischer und (semi-)eremitischer Lebensweise sowie semantischen und lebenspraktischen Ebenen des Klosterlebens gekonnt verortet.
Anmerkungen:
[1] Exemplarisch Ina Bergmann / Dorothea Klein (Hgg.): Kulturen der Einsamkeit, Würzburg 2020 (Würzburger Ringvorlesungen; 18).
[2] Karl A. E. Enenkel / Christine Göttler (eds.): Solitudo. Spaces, Places, and Times of Solitude in Late Medieval and Early Modern Cultures, Leiden / Boston 2018 (Intersections. Interdisciplinary Studies in Early Modern Culture; 56).
John Hinderer