Jens Christian Wagner: Produktion des Todes. Das KZ Mittelbau-Dora, Göttingen: Wallstein 2001, 688 S., ISBN 978-3-89244-439-8, EUR 49,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Erstaunlicherweise blieb das historiografische Interesse an den Konzentrationslagern lange Jahre auf wenige Hauptlager beschränkt. Jens-Christian Wagner hat sich dieses Mangels angenommen; sein Buch füllt eine Lücke. Die an der Göttinger Universität bei Bernd Weisbrod entstandene Dissertation leistet eine Gesamtdarstellung zur Geschichte des Nebenlagers Dora beziehungsweise des selbstständigen KZ-Hauptlagers Mittelbau, das zwischen dem 28. August 1943, als die ersten 107 Häftlinge mit ihren SS-Bewachern aus Buchenwald am Kohnstein eintrafen, und dem 11. April 1945, dem Tag der Befreiung durch die Amerikaner, bestand.
Das umfangreiche Buch thematisiert am Beispiel des dortigen Lagerkomplexes "das Wechselverhältnis von Arbeit und Vernichtung sowie die gesellschaftliche Durchdringung des KZ-Systems" (12). Wagner geht es vor allem um das Spannungsverhältnis zwischen ökonomischer Nutzung der Häftlingsarbeitskräfte und der Vernichtungsabsicht des NS-Regimes. An konkreten Beispielen will er die für die Lebens- und Arbeitsbedingungen der mehr als 60.000 Häftlinge konstitutive Wechselwirkung zwischen Bau- und Produktionskommandos und die Segregationsmechanismen der Häftlingsgesellschaft aufzeigen. Die Untersuchung fragt außerdem nach der "Wahrnehmung der Lager durch die Bevölkerung" (15) und schließlich nach der "Motivationsstruktur der Mittäterschaft" (15). Dies alles führt tief in die Aporien der nationalsozialistischen Kriegsgesellschaft hinein.
Bei der Bewältigung dieser Aufgabe sah sich der inzwischen zum Leiter der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora berufene Historiker mit einer durch Zersplitterung charakterisierten Quellensituation konfrontiert, die die Auswertung von mehr als 20 Archiven im In- und Ausland erforderlich machte. Darüber hinaus griff Wagner unter Berücksichtigung der bei Forschungsvorhaben zur Geschichte der Konzentrationslager üblich gewordenen Quellenkritik auf Zeugenaussagen, Erinnerungsberichte und Interviews mit ehemaligen Häftlingen, Anwohnern und Direkttätern zurück. Seine Ausdauer belohnt den Leser mit der Zusammenfügung von zerstreuten Informationen.
In sieben Kapiteln nähert sich der Verfasser seinem Thema an. Der "Erweiterung durch Zwangsarbeit" genannte einleitende Überblick über "Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager im Krieg", der auch eine Kurzgeschichte der Raketenrüstung, der Untertageverlagerung und der Rüstungssonderstäbe der Jahre 1944/45 bietet, bereitet das schon andernorts ausgebreitete Strukturwissen auf. Das Kapitel "Tatort" schildert die Entwicklung der Wirtschaft und der NS-Gesellschaft im Südharz: Nach Überwindung parteiinterner Querelen bereiteten die Nationalsozialisten die traditionell durch die Arbeiterbewegung geprägte Region im Zuge der Aufrüstungspolitik und der damit einhergehenden schleichenden Gewöhnung an die Ausbeutung ausländischer Zwangsarbeiter auf die Nutzung von Häftlingsarbeitskräften vor.
Auf Seite 181 stößt der Verfasser schließlich zum Kern vor: Das 'Unternehmen Mittelbau'", von ihm als "tödliches Konstrukt" bezeichnet, entwickelte sich aus einem kurzfristigen Notbehelf nach dem Bombenangriff auf Peenemünde vom 17./18. August 1943 binnen Jahresfrist zu einem Rüstungszentrum, das in der ökonomischen Zuständigkeit des Staatsunternehmens "Mittelwerk GmbH" lag. Neben der Serienfertigung der Heeresrakete A 4 lief dort im Spätsommer 1944 auch die Fertigung der Fi 103, der V 1, an. Außerdem erhielt die Mittelwerk GmbH mit dem Programm "Schildkröte" den Auftrag zur Untertagefertigung des Heinkel-Jägers He 162. Darüber hinaus sollten in den unterirdischen Räumen von der Junkers- Flugzeug- und Motorenwerke AG in großer Stückzahl Messerschmitt-Strahljäger vom Typ Me 262, schließlich auch Flugabwehrraketen hergestellt werden.
Dieses Hin und Her fand auf dem Rücken der Häftlingsarbeitskräfte statt. Die strukturelle Ungeregeltheit der deutschen Rüstungsentwicklung, insgesamt die systemtypische Widersprüchlichkeit des NS-Regimes schlugen auf das Mittelbau-Vorhaben durch. Die Ferne des Autors zu unternehmenshistorischen Themen, die sich etwa bei der Darstellung der Gründungsgeschichte und der ökonomischen Ausrichtung der Mittelwerk GmbH zeigt (194 ff.), macht die Darstellung dieser voluntaristischen Ökonomie etwas atemlos. Mitunter spiegelt sie die hektischen Wirrungen der Rüstungsentwicklung und der damit verwobenen KZ-Baukommandos eher wider, als dass die chaotisierenden Strukturen herausgestellt würden.
Wagner kommt überzeugend zu dem Befund, dass der KZ-Komplex Mittelbau-Dora vor allem als "Bau-KZ" (13, 245) bezeichnet werden muss, dessen Hauptprodukt der Tod der Häftlinge war. Die am 28. Oktober 1944 erfolgte organisatorische Verselbstständigung zum KZ-Hauptlager Mittelbau wird in Zusammenhang mit den Baulagern des Kammler-Stabes gestellt, die seit Frühjahr 1944 an verschiedenen Orten entstanden waren. Die Häftlingszahlen stiegen auf über 40.000 Häftlinge an, und das Netz von Außenlagern wurde engmaschiger. NS-Illusionen und Rüstungsfiktionen bildeten den Gewaltbeschleuniger.
Einen detaillierten Blick auf das SS-Personal des KZ-Komplexes und die innere Struktur ermöglicht das gesonderte Kapitel "Zwischen Dachauer Modell und Improvisation" (289 ff.), das die beiden Kommandeure Otto Förschner und Richard Baer porträtiert, und die Lagerführer als besonders prägend für die konkreten Verhältnisse zeigt. Den schließlich mehr als 3.300 Köpfe zählenden SS-Totenkopfsturmbann Mittelbau stellten zu mehr als der Hälfte Wehrmachtssoldaten, was mancherorts die Brutalitäten begrenzte, wenngleich der "Terror" das "zentrale Ordnungsprinzip des Konzentrationslagers" (345) blieb.
Für die Häftlinge der Lagergesellschaft standen Arbeit und Vernichtung in einem unmittelbaren Zusammenhang. Tatsächlich zeigt die Analyse des "Lageralltags" (453 ff.) und des "Leidensweges" der Häftlinge, dass rund ein Drittel der in den dortigen KZ-Kosmos eingewiesenen Menschen zu Tode gebracht wurde: durch den Raubbau an ihrer Gesundheit, durch die Unterbringungsverhältnisse, die Mangelernährung, die unzureichende medizinische Versorgung, durch Folter und Hinrichtungen, schließlich durch die "Methode der mobilen Selektion" (500), die die entkräfteten und ernstlich erkrankten Häftlinge dem Tod auslieferte. Die Zwangsarbeit wurde "zum konstitutiven Element der KZ-Haft" (394), während "Arbeitsfähigkeit" (394) und berufliche Qualifikation die Überlebenswahrscheinlichkeit der Häftlinge präformierten.
Wagner verweist in diesem Zusammenhang auf die unterschiedlichen Arbeits- und Überlebensbedingungen in den Bau- und Produktionskommandos, in der "Lagerwirtschaft" der Häftlingslager und in den Strafkommandos. Er lässt aber keinen Zweifel daran, dass die Zwangsarbeit die Häftlinge tötete (499), insgesamt mindestens 20.000 Menschen (287). Gleichwohl sei das Begriffspaar "Vernichtung durch Arbeit" als analytischer Begriff ungeeignet, da dieser ein "bewusst geplantes Vernichtungsprogramm suggeriert" (500). Stattdessen setzt in der Wahrnehmung von Jens-Christian Wagner die "Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben der Häftlinge" die "in den Mittelbau-Lagern praktizierte Logik des Todes" (500) in Gang. Vor dem Hintergrund der kalkulierten Vernutzung der Häftlingsarbeitskräfte ermöglichte ein "System der funktionalen Hierarchisierung" es der SS die "Faktoren Erhalt der Arbeitskraft und Vernichtung gleitend dem jeweiligen Wert anzupassen, den sie der Arbeitskraft der Häftlinge beimaßen" (500). Damit pflichtet er materialgesättigt der Position bei, die beispielsweise Budraß/ Grieger 1993 unter dem Stichwort der ambivalenten "Moral der Effizienz" eingenommen hatten.
In einem gesonderten Kapitel analysiert Wagner die Beziehungen zwischen den KZ-Lagern und ihrem Umfeld und räumt mit dem älteren Vorurteil auf, dass Konzentrationslager isoliert von der übrigen Gesellschaft existiert hätten. Die Lager bestanden dagegen inmitten der "Tätergesellschaft" (534). Zahlreiche Berührungspunkte bestanden, und der Autor führt zahlreiche Beispiele an, in denen Anwohner zum Nachteil der Häftlinge handelten. Die von Raul Hilberg geprägte Kategorie des "bystander" wird hier greifbar, so wie die Repressionsinstitutionen, Gestapo, SD, Abwehrbeauftragte und Werkschutz, die Existenz der Mittelbau-Lager als "Disziplinierungselement" (509) nutzten. Ob dies als "wechselseitige gesellschaftliche Durchdringung" (580) angesehen werden kann und ob der Begriff der "Mittäterschaft" (581) exakt umrissen ist, ließe sich ausgiebig diskutieren; der positiven Bewertung steht das nicht entgegen.
Der wohl wichtigste Einwand betrifft die strukturellen Gesichtspunkten folgende Gliederung, die nicht eben für Übersichtlichkeit sorgt. Zwar kann es akademischem Gebrauch entsprechen, die betreffenden Großthemen kapitelweise abzuarbeiten, jedoch sind hierbei Wiederholungen unvermeidlich, die für den Leser ermüdend wirken, etwa wenn die ersten Häftlinge schon auf den Seiten 86, 151 und 180 den Kohnstein erreicht hatten, bis auf Seite 184 diese 107 Häftlinge mit dem Ausbau der Stollenanlage begannen. Manche Entwicklung, beispielsweise die für mein Empfinden bedeutsame organisatorische Verselbstständigung zum KZ-Hauptlager am 28. Oktober 1944 (245, 259), verschwimmt gleichsam.
Ungeachtet dessen hat Jens-Christian Wagner ein wichtiges Buch geschrieben, das von Bestand sein dürfte. Wer sich für die Geschichte des Kohnsteiner Lager-Komplexes und für das Verhältnisses von Arbeit und Vernichtung im KZ-System interessiert, kommt an diesem Buch nicht vorbei.
Manfred Grieger