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Rezension von:
Dietmar Süß
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Dietmar Süß: (Rezension), in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8 [15.07.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/07/6714.html


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Wolfgang Bönitz: Feindliche Bomberverbände im Anflug

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Inzwischen hat sich der Rauch der Debatte verzogen. Und es dürfte nicht wenige in den Feuilleton-Redaktionen der Republik geben, die meinen, das Thema sei nun spätestens mit der neuen ARD-Serie endgültig "erledigt". Zwei Jahre ist es her, dass Jörg Friedrich mit seinem Buch "Der Brand" [1] im In- und Ausland für Aufsehen gesorgt und auch aktuelle mediale Aufbereitungen des Bombenkriegs angestoßen hat. Nicht zuletzt eine geschickte Medien-Kampagne verschaffte dem umstrittenen Publizisten ein Echo, von dem die meisten Historiker nur träumen dürfen: angefangen von einem Vorabdruck in der Bild-Zeitung bis in die geistigen Höhen der Kulturredaktionen und abendlichen Nachrichtensendungen. Ein großartiger PR-Erfolg - aber sicher mehr als das, passte das Buch doch in eine literarische Konjunktur, in der seit Mitte der 1990er-Jahre die "Opfer-" und "Leidensgeschichte" der Deutschen im Zweiten Weltkrieg eine immer größere Rolle spielte. Nun kann man Friedrichs Buch und die in der Folge kaum zu überblickende Flut lokaler, erfahrungsgeschichtlicher und publizistischer Veröffentlichungen aus mindestens zwei unterschiedlichen Perspektiven lesen: als Teil und Medium einer erinnerungskulturellen Debatte um das Erbe des Nationalsozialismus in beiden deutschen Staaten und ihre Aneignungs- und Verwandlungsgeschichte [2] oder, und darum soll es im Folgenden vor allem gehen, als Beitrag zur Geschichte des Totalen Krieges in Europa.

Über das Für und Wider der Darstellungsform von Jörg Friedrich ist inzwischen ausführlich gestritten worden. [3] Während die meisten Historiker den "Brand" scharf kritisierten und vor allem die fehlende Kontextualisierung, die bewusste sprachliche Parallelisierung zum Holocaust, die groben Überzeichnungen und Fehlinterpretationen der britischen und amerikanischen Militärstrategie bemängelten, gab es in der publizistischen Öffentlichkeit viel Applaus. Auffällig dabei war, dass die Resonanz vielfach quer zu den klassischen politischen Frontlinien der "alten" Bundesrepublik verlief und es vor allem die Generation der in der NS-Zeit und im Krieg Geborenen war, die das Buch als "Epos" feierte oder gar die Etablierung der "deutschen Opferperspektive" als eine Aufgabe der "Linken" [4] empfand. Wer sich einen Überblick über die Auseinandersetzung verschaffen will, der ist mit dem von Lothar Kettenacker herausgegebenen Sammelband gut beraten. Kettenacker hat die wichtigsten Beiträge zusammengefasst und um einige kluge, vor allem aus britischer Feder stammende Kritiken erweitert. So widerspricht Richard Overy energisch Friedrichs These, die Luftkriege seien nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch strategisch sinnlos gewesen; und Nicholas Stargardt weist darauf hin, wie stark sich der "Brand" in seiner Reduktion auf die alliierten "Terrorakte" an Deutungsmustern und Begriffen orientiert, die ihren Ursprung in der Goebbelsschen Propagandamaschinerie hatten und bis in die frühe Bundesrepublik fortwirkten. Zugleich vertritt er die provokante und originelle, indes empirisch noch nicht gesicherte These, dass die deutsche Gesellschaft erst durch die letzte Kriegsphase, durch den "Schlamm der Ostfront und in den Trümmern der deutschen Städte mehr als je zuvor in ihren moralischen Werten nazifiziert und brutalisiert" (69) worden sei - also keine allmähliche Distanzierung, kein schrittweises Abwenden angesichts des deprimierenden Kriegsverlaufes und der Erschütterung der Lebensgrundlagen, sondern die gesellschaftliche Durchsetzung des brutalen NS-Rassismus erst im Zeichen der apokalyptischen Niederlage. Darüber wird man, vor allem auch in Abkehr der Arbeiten Ian Kershaws, künftig intensiver streiten. Antworten auf diese, unser Grundverständnis des NS-Regimes berührenden Fragen, sucht man bei Friedrich jedenfalls vergeblich.

"Good War", Dresden und Citizenship

Nicht unwesentlich dürfte für die Rezeption des "Brands" gewesen sein, dass das Buch zunächst in England für einige Empörung gesorgt hatte und dann der Konflikt nach Deutschland reimportiert wurde. Auf der "Insel" rührte die Geschichte des Luftkrieges, die "Battle of Britain", wie Lothar Kettenacker in seiner pointierten Einführung deutlich macht (9-14), an einen zentralen Bezugspunkt britischen Selbstverständnisses. Winston Churchill, der gerade noch - vor Prinzessin Diana - zum "Greatest Briton" gekürt worden war, der Held, der das Empire gegen den kontinentalen Despoten verteidigt und das Land aus einer beinahe ausweglosen Situation zum Sieg gegen die Diktatur geführt hatte, sollte ein Schlächter und gewissensloser Befehlsherr von "Einsatzgruppen", ja Massenmörder wehrloser Zivilisten gewesen sein? So zumindest verkürzten die britischen Medien den Buchinhalt. Das war natürlich Gift für die heldenepische Rückbesinnung auf den "Good War". Umso willkommener war Anfang 2004 das Buch von Frederick Taylor über den alliierten Bombenangriff auf Dresden, das geradezu euphorische Reaktionen auslöste. [5] Das Buch schien wie eine Erlösung und wirkte wie die britische Antwort auf Jörg Friedrich: Endlich keine falschen moralischen Anschuldigungen mehr für "Massaker" aus der Luft, endlich die "Wahrheit" über jenen dunklen Fleck auf der sonst so sauberen Weste britischer Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg.

Bemerkenswert waren weniger die Forschungsergebnisse Taylors - das Buch stützt sich weitgehend auf die Arbeiten Götz Berganders [6], der bereits Ende der 1970er-Jahre erstmals ausgewogen und empirisch gesättigt die Hintergründe des vernichtenden Angriffs und die Entscheidungsprozesse innerhalb des Bomber Command erläutert hatte -, sondern das große Aufatmen, das in allen Besprechungen zu spüren war. "Nur" rund 25.000 bis 40.000 und keine hunderttausende Tote, wie oft vor allem in rechtsradikalen Kreisen behauptet wurde; ein Angriff, der "by the standards of the time a legitimate military target" (xiii) und nicht ausschließlich ein Terrorangriff war, sich gegen einen wichtigen Verkehrsknoten richtete, zudem den alliierten Vormarsch unterstützen und dem NS-Regime in seinem blindwütigen Überlebenskampf einen vernichtenden Stoß versetzen sollte. Die Nationalsozialisten hatten - auch daran erinnert Taylor - den Angriff dazu genutzt, mit viel propagandistischem Aufwand die Alliierten an den internationalen Pranger zu stellen und die Deutschen als Opfer einer barbarischen Militärmaschinerie erscheinen zu lassen, deren Antreiber Churchill und Arthur Harris, der Chef des Bomber Command, gewesen seien - eine Interpretation, die nicht zuletzt, wenn auch unter anderen Vorzeichen, von der DDR-Propaganda unter dem Diktum des "faschistischen anglo-amerikanischen Terrors" staatlich sanktioniert wurde. Taylor spitzt in seiner Darstellung, die im Hinblick auf die Stadtgeschichte Dresdens eher impressionistisch bleibt, die militärische Legitimität und Zweckmäßigkeit des Angriffs allerdings stark zu - was man, ohne in revisionistische Aufrechnerei zu verfallen, durchaus bezweifeln kann und vermutlich auch als Reflex der britischen Erinnerungskonjunkturen verstehen sollte.

Im Windschatten solch aufgeregter Debatten hat Sonya O. Rose eine Arbeit von ganz anderem wissenschaftlichem Kaliber vorgelegt. [7] Nicht die militärischen Planungen oder einzelnen Luftgefechte der "Battle of Britain" stehen bei ihrer diskursgeschichtlich angelegten Studie im Mittelpunkt, sondern der "People's War", die Rückwirkungen des Luftkrieges auf die britische "homefront". Im Kern geht es um die Frage nach der Konstruktion von Identität und Citizenship im und durch den Krieg. Wer war wann und mit welchen Eigenschaften "britisch", und was machte den "guten" Staatsbürger und die "gute" Staatsbürgerin aus? Rose untersucht dies anhand der drei Kategorien: "race, class and gender", wobei ihr Hauptaugenmerk auf den geschlechtsspezifischen Formen von "nationhood" und der Wandelbarkeit nationaler Identitätskonstruktionen liegt. Sie reiht sich damit in eine Tradition revisionistischer Arbeiten zur Geschichte Englands im Zweiten Weltkrieg ein, die darauf abzielen, den "Mythos von 1940" zu dekonstruieren und die fortdauernden und sich neu konstituierenden Formen sozialer und geschlechtsspezifischer Ungleichheit im Krieg offen zulegen. Plausibel kann sie zeigen, wie der neue Diskurs über "Nation" und den "People's War" dazu führt, Klassengrenzen und soziale Konflikte, die England noch in den 1930er-Jahren schwer erschüttert hatten, rhetorisch "verschwinden" zu lassen und in der Forderung nach einem allgemeinen, staatsbürgerlichen, britischen Bewusstsein endeten - wobei ein latenter Antisemitismus, wie Rose zeigt, die Juden als "aliens" und damit Fremde im Diskurs um Gemeinschaft markierte. Der Krieg wird, so Rose, zum zentralen Katalysator von "nationhood" als politischem Kollektiv, "an ideological discourse that produces common belief" (11). Gleichzeitig waren damit spezifische Normen von Männlichkeit und Weiblichkeit, von Familie, Arbeit und Haushalt verbunden. Der wachsende Einsatz von Frauen für die Kriegswirtschaft war beispielsweise begleitet durch den Versuch verschärfter Disziplinierung.

Besonders anregend ist ihre Untersuchung der Evakuierung: Rund vier Millionen Briten wurden in den Jahren zwischen 1939 bis 1944 aus Angst vor drohenden deutschen Luftangriffen aus den Industriestädten und London aufs "Land" evakuiert; das führte nicht nur zu einer teils selbstorganisierten, teils staatlich gelenkten "Völkerwanderung", sondern zu einer neuen Debatte um die "soziale Frage", die Rolle des Staates und den Charakter der britischen Nation. Denn neben den wohlhabenden bürgerlichen Schichten wurden eben auch zahlreiche Kinder vor allem ärmerer Schichten aufs "friedliche" Land geschickt, wo man geradezu geschockt war über den Einbruch des urbanen sozialen Elends. "Armut" und deren Bekämpfung, dazu Vorschläge und Anweisungen für ein "moralisch einwandfreies Leben" wurden zu wichtigen Elementen der öffentlichen Diskussion und die Evakuierungen damit zu einer Art Lackmustest für die Schmerzgrenzen der britischen Klassengesellschaft. Dabei waren es nicht nur, wie lange angenommen, helfende Hände, die auf die Flüchtlinge aus den Großstädten warteten, sondern gravierende soziale und rassistische Vorbehalte gegen die "Städter" - womit die Parallelen zu ähnlichen Verhaltensmustern anderer Kriegsgesellschaften wie Deutschland förmlich auf der Hand liegen. Rose sorgt, so kann man zusammenfassend sagen, zwar nicht als Erste, aber doch mit einiger Überzeugungskraft, abgewogen und methodisch reflektiert, für einige tiefe Kratzer am öffentlich noch immer wirksamen Schwarzweißgemälde der "homefront at war".

Deutschland und der Luftkrieg

Während in England die Erfahrung der Bombennächte wichtiges Element kollektiver Erinnerung und damit alles andere als "tabu" war, prägten die Begriffe "Verdrängung" und "Tabuisierung" von Beginn an die jüngste deutsche Debatte. Zuerst war es der Literaturwissenschaftler W.G. Sebald, der in einem sprachgewaltigen Essay den fehlenden Platz des Luftkrieges im kulturellen Gedächtnis der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft beklagte. [8] Die deutsche Nachkriegsliteratur habe die Zerstörungen des alliierten "area bombings" "nie wirklich in Worte gefasst" [9] und dazu beigetragen, dass "die Bilder dieses grauenvollen Kapitels unserer Geschichte nie richtig über die Schwelle des nationalen Bewusstseins getreten" [10] seien. Die Verdrängung der Schrecken nannte Sebald ein "skandalöses Defizit" [11], an dem nicht nur die Schriftsteller der jungen Bundesrepublik mit Schuld trügen, sondern auch die seriöse Geschichtswissenschaft. Beide Disziplinen seien unfähig gewesen, "die Tiefen der Traumatisierung in den Seelen derer auszuloten, die aus den Epizentren der Katastrophe kamen".

Zwei von Volker Hage, Literaturredakteur beim SPIEGEL, verantwortete Bände zeigen indes [12], wie brüchig Sebalds These ist. Hage stellt in einer knappen und eher referierenden als analytischen Studie die breite Palette an Werken vor, die sich schon während des Krieges und auch im Exil (zum Beispiel Thomas Mann und Bert Brecht) mit den Bombenangriffen beschäftigen; hinzu kommen Autoren der unmittelbaren Nachkriegszeit, so der kaum beachtete Hans Leip oder Gert Ledig, später die "Kinder des Bombenkrieges" (84-112), allen voran Dieter Forte, der im zweiten Teil des Bandes, einer Sammlung von Interviews mit Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern, auch noch einmal selbst zu Wort kommt. Die Bilanz von Hages akribischer Recherche: "Trägt man die einzelnen Ergebnisse zusammen und forscht weiteren Beispielen nach, so ergibt sich am Ende ein literaturhistorisches Gesamtbild, das schon rein quantitativ zu einer Korrektur von Sebalds Ansicht zwingt." (119). Nicht nur in den Interviews mit Wolf Biermann, Harry Mulisch oder Walter Kempowski, sondern auch in Hages literarischer Anthologie über Hamburg im "Feuersturm" wird deutlich, wie wenig "tabuisiert" der Luftkrieg in den ersten Nachkriegsjahrzehnten tatsächlich war und wie häufig und vielfältig über die traumatischen Erfahrungen der Bombennächte reflektiert wurde.

Empirische Untersuchungen zu diesem Thema darüber stehen noch aus, und unklar ist auch die Antwort auf die Frage, wie sich die Erinnerung an den Luftkrieg und die Bombennächte seit den Sechziger- und Siebzigerjahren zu verändern begann und wie neben die vielfältigen Versuche der luftkriegszerstörten Kommunen, die kollektive Erinnerung an die Bombennächte zu formen, konkurrierende Erinnerungsmuster traten und wie schließlich die Erzählung vom "Tabu der Nachkriegsgeschichte" entstand.

Im Gefolge dieser Debatte und als Reaktion auf die öffentliche Resonanz von Friedrichs Buch riefen Tageszeitungen ihre Leser dazu auf, Erinnerungen und Augenzeugenberichte an die Bombennächte niederzuschreiben, um so die vermeintliche "Black box" der deutschen Erinnerungslandschaft zu füllen - eine Form der Erinnerungsarbeit, die in vielen Städten bereits in den frühen 1950er-Jahren und 1960er-Jahren begonnen hatte und gleichsam ein Ventil aufgestauter Gewalterfahrungen waren. Die in großer Geschwindigkeit zusammengestellten Sammlungen von Einzelgeschichten über Bombennächte, Evakuierungen und Flakhelferschicksale sind zum Teil sehr ähnlich angelegt: unkommentiert aneinander gereiht, bündeln sie die Erinnerungsfragmente vor allem der Kinder und Jugendlichen des Bombenkrieges, die sich nach Zeitungsaufrufen zu Wort gemeldet hatten. Das Spektrum der Erinnerung ist breit. [13] Von Erlebnissen in den Luftschutzkellern, deren tiefe Traumatisierung auch nach mehr als 60 Jahren noch zu spüren sind (55 f.) und die Menschen an den Rand des Zusammenbruchs führten (120), von Verschüttungen und familiären Verlusten, vom Bombenkrieg als jugendlichem "Abenteuer" bis hin zu genauen Beschreibungen der rassistischen Ausgrenzung und Hierarchisierung des Bunkerlebens (43 f.) reichen die Schilderungen. Wenigstens im Band von Kellerhoff / Wieland gibt es kurze, von den Zeitzeugen selbst verfasste biografische Angaben und dazu auch eine kurze Einführung über den Luftkrieg in Berlin - die im Band über das Ruhrgebiet fehlt. Von einer methodisch reflektierten Oral-History sind die Beiträge jedenfalls ein gutes Stück entfernt, weshalb ihr Quellenwert für die Geschichte des Krieges, anders als für eine Geschichte der Erinnerung, nur von begrenztem Nutzen ist. Sie bestätigen in ihrer Tendenz Ergebnisse, die bereits im LUSIR-Projekt Anfang der 1980er-Jahre aus erfahrungsgeschichtlicher Perspektive sichtbar geworden und die angesichts veränderter historiografischer Konjunkturen beinahe schon wieder in Vergessenheit geraten sind [14]: die Zerstörung sozialer Strukturen und Netzwerke und der gleichzeitige Bedeutungsgewinn familiärer Bindungen, die gleichsam das letzte Element der Kontinuität in einer sich in Auflösung befindlichen und extrem (zwangs-) mobilisierten Kriegsgesellschaft waren. Evakuierungen und "Kinderlandverschickungen" gehören dazu genauso wie Flucht und Vertreibung, Dienstverpflichtungen oder die Verlagerung von Betrieben. Erst in Ansätzen ist bisher sichtbar, welch entscheidende Bedeutung der Arbeitsplatz als Element regimekonformer Integration und Eckpfeiler einer Überlebensstrategie angesichts weitgehend zerstörter Infrastruktur besaß.

Die meisten dieser, von regionalen Medien initiierten Augenzeugenberichte dürften daher als Versuche lokaler Sinnstiftung gelesen werden, in denen die urbane Katastrophe als Teil der sich radikalisierenden alliierten Kriegsgewalt erscheint - ohne allerdings den Charakter und Impuls des deutschen Vernichtungskrieges sowie die sich radikalisierenden Exklusionsformen mit in das Stadtgedächtnis zu integrieren. [15] Dazu passt, dass neben die Opfer- und Schreckenerzählungen auch neue "Heldenepen" des Überlebens traten, die vor allem den Kampf gegen das Feuer und das Chaos, das die "Partei" bei der Beseitigung der Brände angerichtet hatte, rühmten. [16]

Wissenschaftliche Deutungsversuche

Viele der Fragen, die auch die Erinnerungsberichte berühren, sind bislang nur in Ansätzen geklärt. Angesichts der Dominanz der "klassischen" Militärgeschichte beschränkten sich die wissenschaftlichen Untersuchungen vielfach nur auf die Planungs-, Operations- und Strategieebene, die Geschichte der Luftwaffe oder Ideen- und Technikgeschichte des Luftkrieges. Die Verbindung zur Gesellschaftsgeschichte des Krieges blieb vielfach ausgeklammert und den allgemeinen NS- und Stadthistorikern überlassen, die sich überdies schwer taten, das Jahr 1939 zu überschreiten und nach dem Wechselverhältnis von Front und Heimat im Totalen Krieg zu fragen. [17] Einer der wenigen, die sich für dieses zentrale Thema der Geschichte des Zweiten Weltkrieges interessierten, war Olaf Groehler. [18] Sein Buch über den "Bombenkrieg gegen Deutschland" dürfte immer noch die mit Abstand umfassendste Darstellung zur Sozial- und Militärgeschichte des Luftkrieges sein - woran auch die wiederholte Kritik an seiner Vergangenheit als DDR-Historiker nichts ändert.

Kein Wunder also, dass ihm viele Darstellungen eine Fülle an Ideen und Anregungen verdanken. Das gilt insbesondere für Wolfgang Bönitz' rasch nach der Friedrich-Debatte erschienene Darstellung "Feindliche Bomberverbände im Anflug". [19] Man weiß nicht genau, worüber man sich mehr ärgern soll: Über den Autor, der die Arbeit Groehlers bis in die Fußnoten und Archivsignaturen ausschlachtet hat, oder über den renommierten Aufbau-Verlag, der, wohl beflügelt durch die Hoffnung auf raschen Umsatz, das Buch publizierte. Die Anlehnung an Groehler geht so weit, dass Bönitz Signaturen aus dem "Zentralen Staatsarchiv in Potsdam" benutzt, das es ja nun schon einige Zeit nicht mehr gibt, die just die gleichen sind, die der inzwischen verstorbene Groehler noch zu DDR-Zeiten einsehen konnte (zum Beispiel die Fußnoten 23 und 61). Das mag Zufall sein - doch daran glauben mag man nicht. Auch die übrigen, angeblich benutzen Aktenbestände, vor allem die aus dem Public Record Office London, dem Bundesarchiv Koblenz oder regionalen Archiven, sind meist identisch mit denen, die Groehler gesehen und zitiert hatte. Bisweilen findet sich zwar der Hinweis auf die entsprechenden Seitenzahlen bei Groehler, nicht aber, dass es wohl andere waren, die die intellektuelle und empirische Kärrnerarbeit geleistet haben. Diese eigenwillige Arbeitsweise dürfte mit ein Grund dafür sein, dass das Buch auf den ersten Blick einen soliden Eindruck macht, zumal Bönitz auch die Sekundärliteratur der Zeit nach 1990 auswertet und sich zudem für die Sozialgeschichte des Kriegsalltags unter "Bomben und Sirenen" interessiert.

Größere Resonanz dürfte Rolf-Dieter Müller vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) für seine Geschichte des Bombenkrieges erhalten, die als Begleitband zur gelungenen ARD-Dokumentation entstand. Müllers profunde Sachkenntnis hat der Produktion, die sich wohltuend von den "Guido-Knopp-Produktionen" unterscheidet und durch eine ausgewogene Kommentierung besticht, sichtlich gut getan. [20] Die Unterschiede zu Bönitz könnten größer nicht sein, handelt es sich bei Müllers Buch doch um eine im besten Sinne "klassische" Geschichte des Luftkrieges, die ganz in der historiografischen Tradition des MGFA steht - und sich daran explizit orientiert (235). In drei Kapiteln - "Angriff", "Gegenschlag", "Untergang" - zeichnet Müller den Weg der stufenweisen Eskalation des Bombenkrieges nach: Von der deutschen Aggression, dem "Blitz" gegen England bis zur Eröffnung einer "zweiten Front" gegen Hitler, der Entscheidung für das "area bombing" und schließlich zur systematischen Zerstörung des "Dritten Reiches". Müllers Hauptinteresse gilt der strategischen Kriegführung, den militärischen Stäben auf deutscher und alliierter Seite, technischen und rüstungswirtschaftlichen Entwicklungen sowie den großen Luftschlachten des Zweiten Weltkrieges. Endpunkt seiner Darstellung ist der Abwurf der Atombombe auf Hiroshima, das "Fanal zu einem enthemmten Bombenkrieg, der die kühnsten Träume der Technokraten und Propagandisten um ein Vielfaches übertraf" (228).

Müllers Anspruch ist nicht der einer Neuinterpretation, und seine Studie basiert vor allem auf der systematischen Auswertung der Sekundärliteratur. Dies geschieht kenntnisreich und in seiner Deutung treffend [21]: So lässt er keinen Zweifel, dass, trotz aller Formen der Entgrenzung und Radikalisierung, der Einsatz der alliierten Bomberpiloten ein zentrales Element der Kriegführung war, das mit der Zerstörung von Rüstungsfabriken, Energiereserven und Verkehrswegen das Nervenzentrum des "Dritten Reiches" und seines aggressiven Expansionskrieges traf. Mit Blick auf Jörg Friedrich hält Müller ebenso entschieden wie zutreffend fest: "Bei nüchterner historischer Betrachtung gibt es keinen Anlass für eine Täter-Opfer-Debatte. Völlig verfehlt wäre es, von den Briten als den Hauptverantwortlichen für die Flächenangriffe auf deutsche Städte womöglich ein Schuldeingeständnis zu erwarten. Churchill hat Hitler besiegt, und dafür können wir ihm dankbar sein. Hoffnungen, die Deutschen selbst könnten sich dieser Bestie entledigen und zur Besinnung kommen, erfüllten sich jedenfalls nicht" (230 f.).

Müllers Perspektivenwahl hat allerdings zur Folge, dass andere Dimensionen des Luftkrieges etwas zu kurz kommen: Das gilt insbesondere für Probleme der Gesellschaftsgeschichte des Krieges, für die radikalisierende Dynamik und sozialutilitaristischen Ausgrenzungsstrategien im Prozess der wachsenden Verschmelzung von "Front" und "Heimat". Auch die Rolle der NSDAP, die Rückkopplungseffekte des Luftkrieges auf das polykratische Herrschaftssystem oder das enge Beziehungsgeflecht von Konzentrationslagern, Stadtgesellschaften und Luftkrieg, von "Arisierung" und Fliegergeschädigten-Versorgung streift er nur am Rande. Ähnliches gilt auch für die durch den Luftkrieg beschleunigte Entinstitutionalisierung von Rationalitätskriterien oder das sich wandelnde Verhältnis von Staat und Partei, Zentrum und Peripherie in den Kriegsphase. Nicht, dass er diese Fragen ausblenden würde - so weist er knapp, aber nachdrücklich auf die Folgen des Luftkrieges für KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter oder den verschärften Einsatz von Polizei und Justiz (137) hin; aber seine Interpretation der Militärgeschichte zwingt Müller doch zu deutlichen Abstrichen.

Bei Müllers Buch handelt es sich um das Begleitbuch zu einer Fernsehdokumentation, und es sollte deshalb nicht mit zu großen Erwartungen überhäuft werden. Es macht aber deutlich, dass der Bombenkrieg und die durch ihn erzwungenen Versuche zu seiner politischen und institutionellen Krisenbewältigung die deutsche Gesellschaft weit tiefgreifender veränderten, als dies bislang zur Kenntnis genommen worden ist - und das nicht nur für die Geschichte des NS-Staates, sondern auch für andere europäische Staaten im Totalen Krieg. Das galt beispielsweise neben Großbritannien auch für Frankreich, Italien, Polen und die Sowjetunion. Selbst wenn also nach der ARD-Dokumentation und den jetzt anstehenden 60-Jahre-Gedenktagen 2005 eine gewisse mediale Sättigung eintreten sollte - "erschöpft" ist die Gesellschaftsgeschichte des Luftkrieges vor allem in ihrer vergleichend europäischen Dimension jedenfalls nicht. Vielleicht steht sie sogar erst am Anfang. [22]


Anmerkungen:

[1] Jörg Friedrich: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg, Berlin/München: Propyläen 2002; dazu Dietmar Süß: Mongolensturm und Massenmord. Zur Diskussion um das Buch von Jörg Friedrich, in: Historisches Jahrbuch 2004 (i. E.); Ralf Blank: Rezension von: Jörg Friedrich: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg, Berlin/München: Propyläen 2002, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 12 [15.12.2002], URL: http://www.sehepunkte.de/2002/12/2675.html ; Klaus Naumann: Bombenkrieg - Totaler Krieg - Massaker. Jörg Friedrichs Buch "Der Brand" in der Diskussion, in: Mittelweg 36, 12 (2003) H. 4, 40-60.

[2] Vergleiche für diese Perspektive die ausführliche Besprechung von Jörg Arnold: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/type=rezbuecher&id=2861

[3] Lothar Kettenacker (Hg.): Ein Volk von Opfern? Die neue Debatte um den Bombenkrieg 1940-45, Reinbek: Rowohlt Verlag GmbH 2003, 192 S., ISBN 3-87134-482-6, EUR 14,00.

[4] Norbert Seitz: Deutsche Opfergeschichte, in: Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte 50 (2003), H. 3, 69-71, hier 71.

[5] Frederick Taylor: Dresden. Tuesday, February 13, 1945, London: HarperCollins 2004, XVI + 518 S., ISBN 0-06-000676-5, USD 26,00.

[6] Götz Bergander: Dresden im Luftkrieg. Vorgeschichte, Zerstörung, Folgen, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Weimar u.a. 1994; ders: Vom Gerücht zur Legende. Der Luftkrieg über Deutschland im Spiegel von Tatsachen, Erlebter Geschichte, Erinnerung, Erinnerungsverzerrung, in: Thomas Stamm-Kuhlmann / Jürgen Elvert / Birgit Aschmann / Jens Hohensee (Hg.): Geschichtsbilder. Festschrift für Michael Salewski zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2003, 591-616.

[7] Sonya A. Rose : Which People's War? National Identity and Citizenship in Wartime Britain 1939 - 1945, Oxford: Oxford University Press 2003, XIII + 328 S., ISBN 0-19-925572-5, GBP 30,00.

[8] W.G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch, München/Wien 1999.

[9] Sebald: Luftkrieg, 18.

[10] Ebd., 19.

[11] Ebd., 82.

[12] Volker Hage: Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg. Essay und Gespräche, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2003, 304 S., ISBN 3-10-028901-3, EUR 19,00. Volker Hage (Hg.): Hamburg 1943. Literarische Zeugnisse zum Feuersturm, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2003, 320 S., ISBN 3-596-16036-7, EUR 12,00.

[13] Sven Felix Kellerhoff / Wieland Giebel (Hg.): Als die Tage zu Nächten wurden. Berliner Schicksale im Luftkrieg, Berlin: Giebel 2003, 237 S., ISBN 3-929829-12-6, EUR 14,00.; Nina Grontzki / Gerd Niewerth / Rolf Potthoff (Hg.): Als die Steiner Feuer fingen. Der Bombenkrieg im Ruhrgebiet. Erinnerungen, Essen: Klartext 2003, 144 S., ISBN 3-89861-208-2, EUR 9,80.

[14] Ulrich Herbert: Zur Entwicklung der Ruhrarbeiterschaft 1930 bis 1960 aus erfahrungsgeschichtlicher Perspektive, in: Lutz Niethammer / Alexander von Plato (Hrsg.): "Wir kriegen jetzt bessere Zeiten". Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern. Bd. 3, Berlin / Bonn 1985, 19-52, hier 34ff.

[15] Das gilt besonders für Egbert A. Hoffmann: Als der Feuertod vom Himmel stürzte - Hamburg Sommer 1943. Gudensberg-Gleichen: Wartberg-Verlag 2003, 48 S., ISBN 3-8313-1389-x, EUR 9,90.

[16] Hans Brunswig: Feuersturm über Hamburg. Die Luftangriffe auf Hamburg im 2. Weltkrieg und ihre Folgen, Stuttgart: Motorbuch Verlag 2003, 472 S., 161 Abb., ISBN 3-613-02367-9, EUR 14,90.

[17] Vgl. u.a. Wilfried Beer: Kriegsalltag an der Heimatfront. Alliierter Luftkrieg und deutsche Gegenmaßnahmen zur Abwehr und Schadensbegrenzung, dargestellt für den Raum Münster. Bremen 1990; Gerd Ueberschär: Freiburg im Luftkrieg: 1939 - 1945, Freiburg/Würzburg 1990.

[18] Olaf Groehler: Bombenkrieg gegen Deutschland, Berlin 1990.

[19] Wolfgang Bönitz: Feindliche Bomberverbände im Anflug. Zivilbevölkerung im Luftkrieg, Berlin: Aufbau-Verlag 2003, 240 S., 21 Abb., ISBN 3-7466-8105-7, EUR 8,50.

[20] Rolf-Dieter Müller: Der Bombenkrieg 1939-1945. Unter Mitarbeit von Florian Huber und Johannes Eglau, Berlin: Christoph Links Verlag 2004, 271 S., ISBN 3-86153-317-0, EUR 24,90.

[21] Bei der zentralen Frage der Quantifizierung der Luftkriegstoten wäre wohl ein etwas ausführlicherer Hinweis angebracht gewesen, auf welche Basis sich sein Zahlenmaterial stützt. Die von Müller angegebene Zahl von 570.000 deutschen Zivilisten, die auf der amtlichen Statistik basiert, umfasst auch die Zahl der Luftkriegstoten aus den Vertreibungsgebieten, die auf der Flucht durch Bomben ums Leben kamen. Für das Deutsche Reich in den Grenzen von 1937 gibt die Statistik die Zahl von 410.000 toten deutschen Zivilisten an, wobei noch 32.000 "Ausländer und Kriegsgefangene" sowie 23.000 Personen von Polizei und Wehrmacht hinzukommen, insgesamt also 465.000 Luftkriegstote; vgl. Statistisches Bundesamt, Wirtschaft und Statistik 1962, Hans Sperling, Die deutschen Luftkriegsverluste im zweiten Weltkrieg, 139-141; Groehler gibt auf der Basis eigener Berechnungen die Zahl der Luftkriegstoten mit 420.000 an; ders.: Bombenkrieg, 320.

[22] Vergleiche zum Beispiel das von Ralf Blank organisierte Portal mit eigenständigen Beiträgen auf historicum.net: http://www.historicum.net/themen/bombenkrieg/

Dietmar Süß