Martin Hose (Hg.): Große Texte alter Kulturen. Literarische Reise von Gizeh nach Rom, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004, 196 S., ISBN 978-3-534-17561-1, EUR 24,90
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Mit der Paraphrase "Von Gizeh nach Rom" wird die Zielsetzung dieses Sammelbandes zusammengefasst. Die einzelnen Autoren, die sich als "Führer durch die Säle eines imaginären literarischen Museums" (11) präsentieren, versuchen einem modernen Publikum nicht nur einen Überblick über die vielleicht noch aus Schulzeiten bekannten literarischen Zeugnisse der griechisch-römischen Antike zu geben, sondern gleichermaßen über die in Ägypten, Mesopotamien, Israel, China und Indien entstandenen "großen Texte".
Das Adjektiv "groß" wird jenen Texten vor allem aufgrund ihrer die jeweilige Kultur überschreitenden hohen Wirkungsmacht beigemessen. Mit ihrer Präsentation wird, wie im Vorwort explizit dargelegt wird, nicht das Ziel verbunden, sie in musealer Absicht vor ihrer fortschreitenden Vergessenheit zu bewahren, sondern ihre Aktualität für moderne Bedürfnisse unter Beweis zu stellen.
Zur Erläuterung dieses Vorhabens machen die Autoren Gebrauch von der von Uvo Hölscher geprägten Vorstellung der Antike als dem so genannten "nächsten Fremden". Denn, wie gleich zu Beginn des Sammelbandes konstatiert wird, die permanente Suche der Moderne nach Identität resultiere gerade aus der "Monotonisierung der Welt" (10) sowie der daraus entstandenen Ermangelung eben jenes Identität stiftenden Fremden.
Es ist unschwer zu erkennen, dass sich der vorliegende Sammelband mit dieser Programmatik in einen breiteren Kontext einfügt. Dass es ein Geschichtsbedürfnis und entsprechende Projekte, die darauf zu reagieren versuchen, gibt, zeigen die großen Erfolge von Ausstellungen zur Antike in nicht geringerem Maße als das ebenfalls vermehrte Interesse an Verfilmungen vormoderner Vergangenheiten.
Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang zwei weitere Sammelbände, die eine vergleichbare Zielrichtung haben. Es handelt sich zum einen um die von K. Brodersen herausgegebene Aufsatzsammlung [1], die statt großer Texte große Gestalten wählt, um dem Leser einen "Zugang zu[r] Kultur und Geschichte der griechischen Antike" zu eröffnen, und zum anderen um den in jüngster Zeit erschienenen Sammelband über den "Sinn (in) der Antike" [2], der die zeitübergreifende Kategorie "Sinn" aufgreift, um die Identitäten und Differenzen zwischen einer vergangenen Lebenswelt und unserer Gegenwart auszumessen und um die allgemeine Frage zu beantworten, ob es überhaupt eine Möglichkeit gibt, beide Zeiten "sinnvoll" aufeinander beziehen zu können.
Auch in den hier zu besprechenden Aufsätzen geht es gewissermaßen um die Berücksichtigung zweier verschiedener Ebenen, insofern der literarische Rang wie auch der ästhetische Reiz jener Texte nicht nur auf der inhaltlichen Ebene gesucht wird, sondern auch durch die Herausarbeitung der jeweiligen Bedingungen der Geschichtsschreibung erneut unter Beweis gestellt werden soll.
Martin Hose gelingt es beispielsweise, ausgehend von der Frage nach den Kriterien von Historiografie, das alte, aber immer noch aktuelle Problem der Glaubwürdigkeit der herodoteischen Geschichtsschreibung zu neuen Ergebnissen zu führen. Der Interpretation wird die Auffassung zu Grunde gelegt, dass man erst dann von Historiografie sprechen könne, wenn sich ein Text auf einen anderen beziehe. Unter dieser Voraussetzung werde jedoch Thukydides, der sich auf Herodot beziehe, zum Begründer der Historiografie, wohingegen Herodot, dem seinerseits eine solche Referenz fehle, nicht mehr als Historiker zu interpretieren sei. Die Frage, welcher literarischen Gattung Herodot zuzuordnen sei, sei nur dann sinnvoll zu beantworten, wenn man statt einer diachronen Analyse, die von den methodischen Vorgaben ausgeht, die erst später in der Historiografie etabliert worden sind, eine synchrone Analyse zu Grunde lege, die ihn mit anderen Prosaschriftstellern des 5. Jahrhunderts vergleiche.
Hans von Ess, der das Geschichtswerk des chinesischen Historiografen Ssu-ma Ch'ien vorstellt, schickt seinen Ausführungen die Erkenntnis voraus, dass die Historiografie niemals zeigen kann, "wie es wirklich gewesen" ist, sondern immer abhängig von der gesellschaftlichen oder politischen Situation des Verfassers ist.
Mit einer radikalen Historisierung des Textes widerlegt Ess die von der modernen Forschung vertretene Auffassung, dass die Zielsetzung des Historiografen, der einzelne Geschichten aus vielen verschiedenen Blickwinkeln in immer anderer Schattierung erzählt, gar nicht zu ermitteln sei. Ess' Argumentation führt demgegenüber zu dem Ergebnis, dass die so genannten Standardgeschichten, die die chinesische Geschichte in Form von biografischen Darstellungen erzählen, eine eminent politische Absicht enthalten. Ssu-ma Ch'ien (145-86 vor Christus), der unter dem unmittelbaren Eindruck der mit dem im 3. Jahrhundert vor Christus herrschenden Reichseiner Ch'in Shih-huang ti (bekannt durch dessen Tonarmee) einsetzenden Zentralisierung und Bürokratisierung in China lebt, erzählt vornehmlich von solchen Menschen, die diesem Prozess durch die Verteidigung einer lokalen Autonomie entgegen zu wirken versuchten. Diese so genannten "Attentätergeschichten" weisen die erste Standardgeschichte Chinas als ein oppositionelles Buch aus, das zugleich den Zusammenbruch einer alten Welt und die Verfehlungen beim Aufbau einer neuen Ordnung beschreibt.
Auch Niklas Holzberg, der Caesars 'Bellum Gallicum' untersucht, zeigt in Abgrenzung von einer rein philologischen Lesart, dass jeder Text, wie auch moderne literaturtheoretische Ansätze nachzuweisen versuchen, ebenfalls eine Form gesellschaftlicher Macht darstellt. Grundlage seiner Interpretation sind die ethnografischen oder historiografischen Exkurse, die von der modernen Forschung wegen ihrer Echtheit bezweifelt werden, da sie dem ansonsten durchgängigen Commentarius-Stil des Werkes nicht entsprechen. Bei näherer Betrachtung falle jedoch auf, dass alle Exkurse auf militärische Aktionen reagierten und die psychagogische Funktion übernähmen, die tatsächlich stattgefundenen Niederlagen in Britannien und Germanien dem Leser nicht nur zu verschleiern, sondern seiner Wahrnehmung gänzlich zu entziehen. Unmittelbar hinter der Oberfläche des pedantischen Commentarius eines römischen Beamten trete Caesar als Feldherr ebenso hervor wie als Erzählstratege.
Dass die Zielsetzung oder Funktionalität eines Textes in einem neuen Licht erscheint oder oft überhaupt erst dann sichtbar wird, wenn man nicht nur darauf achtet, "was" berichtet wird, sondern "wie" das Erzählte zur Darstellung gelangt, geht schließlich auch aus der Interpretation des altmesopotamischen Gilgameš Epos von Walther Sallaberger hervor. Das zentrale Motiv des zu Beginn des zweiten vorchristlichen Jahrtausends entstandenen Epos besteht darin, dass Gilgameš sich einen Namen setzen möchte, da die Menschen, im Gegensatz zu den unsterblichen Göttern, nur in der Erinnerung fortleben. Entscheidend ist, dass durch das am häufigsten gebrauchte Stilmittel der direkten Rede der Leser stets einen unmittelbaren Anteil am Geschehen hat, dasselbe erfährt wie die handelnden Personen und somit mit einem Helden konfrontiert wird, der sich nicht durch langweilige Unfehlbarkeit auszeichnet, sondern aufgrund seiner eigenen Schwächen und des Wissens um die Unausweichlichkeit des Todes zur Identifikationsfigur wird.
Jens-Uwe Hartmann versucht die Aktualität des indischen Dramas Shakuntala, das vermutlich aus dem 5. Jahrhundert nach Christus stammt, anhand der besonderen filigranen Kompositionstechnik herauszustellen, die den modernen Leser stärker beeindrucke als die dort beschriebene "Naturidylle der Einsiedelei" (128), die aber neben der Darstellung schöner Weiblichkeit und Liebe vor allem den hohen Einfluss auf die Romantik erkläre.
Auch für die anderen hier nicht eigens erwähnten Aufsätze gilt, dass das Buch insgesamt geeignet ist, Texten, von denen oft nicht mehr als der Name bekannt ist, wieder Gehör zu verschaffen. Dadurch, dass die Rezeptionsgeschichte wie auch die Forschungsprobleme mit in die Darstellung einbezogen werden, tritt die den Texten beigelegte Relevanz deutlich hervor, was insbesondere dann von Nutzen ist, wenn man wie hier auch ein größeres Publikum zu erreichen sucht.
Anmerkungen:
[1] Kai Brodersen (Hg.): Große Gestalten der griechischen Antike. 58 historische Portraits von Homer bis Kleopatra, München 1999.
[2] Karl-Joachim Hölkeskamp u.a. (Hg.): Sinn (in) der Antike. Orientierungssysteme, Leitbilder und Wertkonzepte im Altertum, Mainz 2003.
Claudia Horst