Rezension über:

Augustin Güntzer: Kleines Biechlin von meinem gantzen Leben. Die Autobiographie eines Elsässer Kannengießers aus dem 17. Jahrhundert. Ed. und komm. v. Fabian Brändle und Dominik Sieber. Unter Mitarbeit v. Roland E. Hofer und Monika Landert-Scheuber (= Selbstzeugnisse der Neuzeit; Bd. 8), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002, IX + 317 S., 12 s/w-Abb., 2 Karten, ISBN 978-3-412-08200-0, EUR 34,90
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Rezension von:
Gabriele Jancke
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Gudrun Gersmann
Empfohlene Zitierweise:
Gabriele Jancke: Rezension von: Augustin Güntzer: Kleines Biechlin von meinem gantzen Leben. Die Autobiographie eines Elsässer Kannengießers aus dem 17. Jahrhundert. Ed. und komm. v. Fabian Brändle und Dominik Sieber. Unter Mitarbeit v. Roland E. Hofer und Monika Landert-Scheuber, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 12 [15.12.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/12/7405.html


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Augustin Güntzer: Kleines Biechlin von meinem gantzen Leben

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Die Autobiografie des Elsässer Zinngießers Augustin Güntzer aus dem 17. Jahrhundert ist ein hochspannender Text, der eine so vorbildliche Edition wie die jetzt von Fabian Brändle und Dominik Sieber vorgelegte auch verdient hat. Der Text ist vollständig und unverändert abgedruckt; die Handschrift ist beschrieben, der Fundort der Handschrift ist angegeben, ihre Entstehungsgeschichte und Überlieferung bestimmt, so weit möglich; der Kommentar enthält textkritische Anmerkungen und inhaltliche Erläuterungen, Biografie, Lebens- und Vorstellungswelt des Autors sind in eigenen einleitenden Texten erschlossen, Orts- und Personenregister sowie zwei Karten ermöglichen eine schnelle Orientierung im Text und über den weiten Reiseweg des Verfassers - da bleiben kaum Wünsche offen (ein Sachregister wäre natürlich noch sehr schön gewesen).

Augustin Güntzer (1596-um 1657) wurde in eine Oberehnheimer Handwerkerfamilie hineingeboren, erlernte das Zinngießerhandwerk seines Vaters und kam danach als wandernder Geselle in ganz Europa herum. Seine zwei ausgedehnten Wanderschaften in den Jahren 1615-21 führten ihn durch das Elsass und durch Süd- und Mitteldeutschland, nach Böhmen, Österreich, Italien; an der Nord- und Ostseeküste entlang bis nach Wilna und Riga, nach Kopenhagen, nach England und nach Frankreich, schließlich über die Schweiz wieder zurück ins Elsass. Einen eigenen großen Teil widmet er in seiner Autobiografie diesen Wanderschaften, sodass sein Buch unter anderem eine vielschichtige Quelle zu den Reisen eines frühneuzeitlichen Handwerkers darstellt - mit den Problemen des Unterkommens, wenn man kein oder sehr wenig Geld hatte, mal Arbeit bekam und sich dadurch finanzieren konnte, mal auch nicht, sodass man zum Übernachten, Essen und Weiterkommen auch vielfach auf die Gaben und die Freundlichkeit von Mitmenschen angewiesen war. Güntzer berichtet eine Fülle von Details und zeigt, dass es ihm auch Jahrzehnte später in einer ganz anderen Lebenssituation noch wichtig war, diese Informationen aufzubewahren und weiterzugeben.

Aber sein Buch erzählt auch die Geschichte, wie er im Haushalt seiner Eltern aufwuchs, Religion und Arbeit lernte; wie er nach seinen Reisen heiratete, damit einen eigenen Haushalt gründete, mit seiner Frau Kinder bekam und sie aufzog; wie der Dreißigjährige Krieg das Vermögen des Haushaltes zum Verschwinden brachte, sodass er nach dem Tod seiner Frau als Witwer schließlich bei seiner Tochter und seinem Schwiegersohn in Basel lebte und sich seinen Unterhalt kärglich als Wanderhändler verdiente. Dies ist, wie Fabian Brändle ausführt, die Geschichte des übernommenen, aber dann verlorenen Familienerbes, das Güntzer dann nicht auch seinerseits an seine Kinder weitergeben konnte - und darin lag vermutlich auch ein wesentliches Motiv für Güntzer, als Witwer und gescheiterter Hausvater seine Autobiografie für seine Kinder aufzuschreiben. Er hatte zu erklären, warum er ihnen kein Erbe hinterließ und ihnen obendrein noch zur Last fiel, nachdem er nicht zuletzt auch durch seine Heirat zunächst zu den wohletablierten Familien Colmars gehört hatte.

Zugleich damit erzählt Güntzer die Geschichte seines religiösen Lebens. Nicht nur, dass für ihn Gott als Akteur in seinem Leben stets präsent war, sodass alles, was ihm zustieß, nach dieser Deutung auch auf das Handeln Gottes und nicht einfach auf sein eigenes Fehlverhalten zurückzuführen war. Darüber hinaus spricht er in seinem Text durchgehend mit Gott - er betet und verhandelt mit Gott. Außerdem beschreibt er, welche Gebete er in früheren Lebenssituationen gesprochen hatte. Die Religion zeigt sich als einer der vielfältigsten Lebensbereiche Güntzers: Einerseits begleiteten ihn die Gebete, die er bereits als Kind zu Hause lernte, durch sein ganzes Leben und prägen auch seinen Text - Dominik Sieber hat minuziös nachgewiesen, welche Gebetstexte aus welcher Quelle stammen. Seine Religion war dem reformierten Handwerker so wichtig, dass er dafür bereit war, sich im lutherischen Colmar zum Außenseiter zu machen. Vermutlich ging er nicht zuletzt deswegen der Unterstützung durch seine Netzwerke verlustig, in die er zunächst einmal recht komfortabel eingebunden war. Andererseits war Güntzer auf seinen Reisen im Stande, sein Gebetbuch wegzuwerfen, weil es seine Konfession verriet und ihn in katholischen Gebieten großen Gefährdungen aussetzen konnte; und in Italien legte er, wo es gefordert oder auch nur vorteilhaft war, die Gesten katholischer Frömmigkeit an den Tag - und beschrieb all dies ausführlich in seiner Autobiografie. Mit dieser Mischung aus Hiobs- und Schelmengeschichte liefert der standfeste Reformierte Güntzer das Bild einer vielschichtigen Identität, die auch nach den wichtigen Vorarbeiten Dominik Siebers noch einige Rätsel aufgibt.

Güntzer verfasste seine Autobiografie wohl ab 1645 oder in den 1650er-Jahren - seine Vorrede, die vermutlich am Schluss geschrieben wurde, datierte er 1657 - in einem eigens dafür angelegten kleinen Büchlein und hatte offenbar beim Schreiben einen Plan des fertigen Werkes im Kopf. Aus seinem Text geht hervor, dass er wohl schon als Zwölfjähriger begann, autobiografische Aufzeichnungen zu machen; diese dürften wohl mindestens die dann in der Autobiografie so zahlreich wieder verwendeten Gebetstexte enthalten haben. Möglicherweise stellten diese Gebetsnotizen später für viele Passagen seines Lebens das Gerüst und die Gedächtnisstütze dar. Auch während seiner Reisen wird er - wie so viele andere Reisende seiner Zeit auch - Aufzeichnungen gemacht haben, die er später zum Schreiben seines Buches nutzen konnte. Güntzers Text, so detailreich und stellenweise spannend erzählt er ist, ist doch weit entfernt davon, ein "unmittelbares" und "spontanes" Zeugnis zu sein. Vielmehr nutzt der Verfasser frühere Aufzeichnungen, verwendet Lektüreerfahrungen zur Strukturierung des eigenen Textes, gestaltet eine Kommunikationssituation einerseits mit seinen Kindern, andererseits mit Gott als Adressaten. Die Informationen, die Güntzer gibt, die Details, die er erzählt, fügen sich in einen Plan, in ein Argument ein und sind von da aus organisiert.

Damit wiederum steht Güntzer nicht allein da. Frühneuzeitliches autobiografisches Schreiben richtete sich zumeist an ein Publikum - ganz überwiegend an Kinder und Nachkommen -, verfolgte zumeist Zwecke (die explizit genannt werden, zum Teil aber auch implizit bleiben und erschlossen werden müssen), war auf Beziehungen ausgerichtet, die auch die Beziehung zu Gott mit umfassten. Als autobiografisch schreibender Handwerker steht Güntzer neben vielen anderen Handwerkern, die ihre Selbstzeugnisse verfasst und hinterlassen haben, obwohl diese Art von Tätigkeit für Menschen seiner sozialen Schicht nicht ohne weiteres akzeptiert war. In seiner Vorrede setzt sich Güntzer denn auch mit dieser Situation auseinander und betont - wie im Übrigen die meisten schreibenden Frauen auch -, dass er nur in seiner Freizeit geschrieben habe, und außerdem meine, damit etwas Nützliches getan zu haben. Wie Glikl bas Judah Leib (Glückel von Hameln), die Hamburger jüdische Kauffrau, und so viele andere sprach er in seiner Autobiografie mit Gott. Wie so viele andere meinte er, dass sein Text zwar kein materielles, aber doch irgend eine Art von Erbe an die nächste Generation weiterzugeben vermochte. Anders als der gelehrte Theologe Konrad Pellikan aber konnte er nicht darauf bauen, dass seine Nachkommen sein Schreiben ebenfalls als eine Art Erbe - und damit als etwas Positives, für ihr Leben Nutzbares - ansehen würden. Das war ihm klar, und aus dieser Situation heraus ist sein Text entstanden. Den Herausgebern ist zu danken, dass sie Güntzers Autobiografie anders einschätzten, als dieser es von seinen unmittelbaren Nachfahren annahm (die allerdings trotzdem das Büchlein aufbewahrt und überliefert haben), und dass sie so viel Arbeit investiert haben, um diese wichtige Schrift einem wissenschaftlichen Publikum zugänglich zu machen.

Gabriele Jancke