Adrienne Thomas: Aufzeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg. Ein Tagebuch. Hrsg. v. Günter Scholdt (= Selbstzeugnisse der Neuzeit; Bd. 14), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, VIII + 226 S., 12 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-07704-4, EUR 29,90
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Die Forschung zur popularen Autobiografik hat es nicht leicht: Einst war sie entstanden aus dem Bedürfnis, den erinnerungshegemonialen Selbstzeugnissen der Großen Männer und Frauen solche gegenüber zu stellen, in denen die soziale Praxis und Lebenswelt im besten Sinne des Wortes gewöhnlich war. Heute operiert diese Forschung in einem gesellschaftlichen und massenmedialen Umfeld, in dem die Einschätzung der eigenen individuellen Relevanz im ungebremsten Aufwärtstrend begriffen ist. Sei es in Gestalt der Lebenserinnerungen gerade einmal dreißigjähriger Pop-Sternchen, sei es in Gestalt armdicker Manuskripte ehemaliger Kriegsteilnehmer, die unverlangt den Alltag der Verlagslektoren bereichern. Wer sich heute vom Mantel der Geschichte gestreift fühlt, belässt es selten unter 300 Seiten. Ganze Verlagsbranchen lassen sich dieses Bedürfnis teuer bezahlen und Heerscharen von Ghostwritern leben davon. "Besen, Besen, sei's gewesen", glaubt man da den Alltagshistoriker rufen zu hören. Denn die eitle Belanglosigkeit vieler dieser zeitgenössischen Selbstzeugnisse wirkt natürlich auf die Einschätzung der historischen zurück. Muss es nun also auch noch das Tagebuch einer gutbürgerlichen Tochter aus Metz aus den Jahren 1915/16 sein?
Zunächst handelt es sich bei der Autorin um keine völlig Unbekannte, denn Adrienne Thomas' späterer Roman "Die Katrin wird Soldat" (1930) kann als bedeutendes Stück der Anti-Kriegsprosa der Zwischenkriegszeit gelten. Dass die darin geschilderten Erlebnisse der Protagonistin auf den Erlebnissen der Autorin, die mit bürgerlichem Namen Hertha Straub (1897-1980) hieß, basieren, verleiht den Tagebuchaufzeichnungen zumindest schon einmal literaturwissenschaftliche Relevanz. Diese achtzehnjährige Hertha Straub stammt aus einem jüdischen Elternhaus im lothringischen Metz. Die Straubs sind treudeutsch, die Tochter dagegen entwickelt ein interessantes Selbstverständnis als Lothringerin. Sie fühlt sich zwar der "deutschen Sache" verbunden, borussische Großmannssucht aber verachtet sie, und zum Ärger ihrer Mutter parliert sie mit der Bediensteten auf Französisch. Überhaupt handelt es sich bei der Autorin um eine etwas störrische und von den bekannten Zwängen der Adoleszenz getriebene Dame. Mit der Mutter liegt sie quer, mit ihrem bedauernswerten Gesangslehrer verbindet sie eine Hassliebe. Wilhelminische Schicklichkeitsregeln - "Küssen ist ungesund" (128) - nehmen einen nicht unbedeutenden Raum in der Darstellung ein. Gleichzeitig verfolgt sie aufmerksam die Kriegsnachrichten, vermerkt akribisch die vom Heeresbericht gemeldeten Gefangenen- und Beutezahlen der großen Schlachten und huldigt den populären Kriegshelden Weddigen, Kronprinz Wilhelm und natürlich Hindenburg.
Doch "Trotzkopf im Weltkriege" bildet nur eine Seite der Persönlichkeit, wie sie sich aus den Tagebuchaufzeichnungen erschließt. Die andere ist die Rotkreuzhelferin Straub, die mit großem Ernst ihrer als vaterländischer Pflicht verstandenen Aufgabe im Metzer Bahnhof nachgeht. Dort werden 1915 die Züge mit den blumenbeschmückten, kriegsbegeisterten Rekruten immer seltener, stattdessen bestimmen die Verwundetenzüge ihren Arbeitsalltag: verstümmelte, kranke und traumatisierte Männer, die in entsetzlich stinkenden Waggons von der Front ins Heimatgebiet befördert werden. Vormittags Kriegsversehrte laben, nachmittags Schuberts "Nachtigall" im heimischen Salon - der Rollenkontrast könnte kaum krasser ausfallen. Ob da, wie es der Herausgeber beobachtet, die "wilhelminische Fassade" (216) zu bröckeln beginnt, oder ob es nicht vielmehr das Eindringen des sich totalisierenden Krieges in die bürgerliche Welt ist, darüber lässt sich diskutieren. Der Vorgang aber an sich ist bemerkenswert, und die Aufzeichnungen belegen ihn gut.
Das Gleiche gilt für die Schilderung des Alltags in der Festungsstadt Metz, der am unmittelbarsten vom Krieg betroffenen deutschen Großstadt. Das beginnt mit den durch den Belagerungszustand geschaffenen Einschränkungen der persönlichen Freiheiten (Postsperren, Passierscheinwesen). Es zeigt sich auch im Straßenbild, das zunehmend von "Feldgrauen" aller Couleur und beiderlei Geschlechts bestimmt ist. Es zeigt sich aber vor allem in der direkten militärischen Bedrohung durch Artilleriebeschuss und Fliegerangriffe. Diesen Wandel des städtischen Kriegsalltags illustriert eine Szene vom September 1915, als die große Glocke des Münsters einen Sieg der Mittelmächte an der Ostfront einläutet (was eigentlich von öffentlicher Verlautbarung, Fahnen aufziehen und Platzkonzert begleitet war) und gleichzeitig aber französische Flieger die Stadt bombardieren (91 f.). Die einstige deutsche Zwingburg im Reichsland Lothringen hatte sich zu einer belagerten Stadt gewandelt. In ihrem Tagebuch führt Hertha Straub eine Liste mit den gefallenen Klassenkameraden und stellt beim Rückblick auf die Friedens- und Jugendjahre fest: "Heute denke ich nicht mehr an derlei Dinge. Vielleicht bin ich nur noch Soldat. Schreibe die reinsten Kriegschroniken. Dabei kann ich dieses schwarze abscheuliche Buch noch immer nicht leiden. Ich werd nicht warm mit ihm. Ich glaube, ich habe mich verändert [...]" (10).
Bei dem relativ kurzen Zeitraum des Tagebuchs (März 1915 bis Februar 1916) lässt sich natürlich nur ein relativ kurzer Ausschnitt dieser individuellen wie kommunalen Veränderungen mitverfolgen. Zahlreiche spätere Ausreißungen von Textstellen durch die Autorin schränken dann den Wert der Quelle weiter ein. Für beides kann der Herausgeber nicht verantwortlich gemacht werden. Das gilt aber nicht für den Verlag, der den Band leider als eine lesefeindliche Bleiwüste gestaltet hat. Die Edition selbst ist durch Günther Scholdt sorgfältig und kundig besorgt worden, sogar im Hinblick auf die militärgeschichtlichen Hintergründe, was ja nicht selbstverständlich ist. Ein Nachwort ordnet die Biografie der Straub / Thomas in den regional- und literaturgeschichtlichen Kontext ein.
Markus Pöhlmann