Rezension über:

Mark Spoerer: Steuerlast, Steuerinzidenz und Steuerwettbewerb. Verteilungswirkungen der Besteuerung in Preußen und Württemberg (1815-1913) (= Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte. Beiheft; 6), Berlin: Akademie Verlag 2004, 252 S., ISBN 978-3-05-004088-2, EUR 79,80
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Rezension von:
Michael Kopsidis
Halle/S.
Redaktionelle Betreuung:
Michael C. Schneider
Empfohlene Zitierweise:
Michael Kopsidis: Rezension von: Mark Spoerer: Steuerlast, Steuerinzidenz und Steuerwettbewerb. Verteilungswirkungen der Besteuerung in Preußen und Württemberg (1815-1913), Berlin: Akademie Verlag 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 9 [15.09.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/09/7308.html


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Mark Spoerer: Steuerlast, Steuerinzidenz und Steuerwettbewerb

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Das Buch vergleicht die Entwicklung der Steuersysteme für die Königreiche Preußen und Württemberg zwischen 1815 und 1913. Ein solcher Vergleich bietet sich an, da finanzgeschichtlich Preußen und die süddeutschen Staaten unterschiedlichen Steuersystemen unterlagen.

Bisherige Arbeiten analysierten Steuerfragen vornehmlich aus der Sicht des Staates und der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Mit seinen empirischen Arbeiten nimmt Spoerer dagegen den Faden vieler zeitgenössischer Werke zu Steuerfragen wieder auf und konzentriert sich auf die in der wissenschaftlichen Literatur eher vernachlässigten oder recht global abgehandelten Auswirkungen der Besteuerung für den Steuerzahler bzw. Zensiten.

Folgende leitende Fragestellungen liegen dabei Spoerers vergleichender Studie zu Grunde (36 f.):

1. Welche Verteilungswirkungen hatten die wichtigen Steuerreformen?

2. Wie hoch war die steuerliche Gesamtbelastung?

3. Wer trug die indirekten Steuern?

4. Gab es im 19. Jahrhundert Steuerwettbewerb?

Im zweiten Kapitel des Buches stehen die regionalen, sektoralen und schichtenspezifischen Verteilungswirkungen der Besteuerung im Vordergrund. Bisher in der Forschung kaum genutzte regionale Steuerstatistiken dienen dabei als empirische Grundlage. Der Clou dieses innovativen Ansatzes besteht in dem Umstand, dass der Autor sich für seine Regressionsanalysen den Umstand zu Nutze macht, dass Regionen sowohl in ihrer sektoralen Wirtschaftsgliederung als auch der Schichtung ihrer Bevölkerung signifikante Unterschiede aufweisen, sodass sich durch eine geeignete Gruppierung der Verwaltungseinheiten fundierte Ergebnisse zu den Verteilungswirkungen der einzelnen Steuerreformen gewinnen lassen.

Das dritte Kapitel nutzt das so gewonnene Datenmaterial in aggregierter Form, um die Steuerbelastung in beiden Staaten pro Kopf und bezogen auf das Volkseinkommen herauszuarbeiten. Hervorzuheben ist hier, dass der Autor in Erweiterung früherer Studien sowohl alle drei Gebietskörperschaften (Zollverein ab 1834, Staat, Kommunen) einbezieht als auch direkte und indirekte Steuern zusammen berücksichtigt. Auf wesentlich breiterer Basis als bisher lässt sich somit die in der Forschung heiß umstrittene Frage nach der Gültigkeit des 'Wagner'schen Gesetzes' für das Deutsche Reich vor 1914 beantworten: Adolph Wagner hatte 1863 einen der Kernsätze der Finanzwissenschaften postuliert, wonach mit steigendem Wohlstand sowie Kultur- und Zivilisationsniveau der Anteil der Staatstätigkeit überproportional zunehme bzw. die Staatsquote (Anteil der öffentlichen Ausgaben am Sozialprodukt) in säkularer Perspektive ansteige. Langfristig ist dabei die Steuerquote eng an die Staatsausgaben gekoppelt.

Zweifel an der Gültigkeit des Wagner'schen Gesetzes für das Deutsche Reich vor 1914 dürften mit den vorliegenden Ergebnissen endgültig ausgeräumt sein. Anders lautende Studien hatten dabei die Kommunalsteuern unterschlagen, obwohl diese im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr an Gewicht gewannen. Berücksichtigt man wie Spoerer die Kommunalsteuern, so ergibt sich, dass bis auf eine Ausnahme mit jeder Steuerreform die Pro-Kopf-Steuerbelastung der Zensiten und somit auch die Staatsquote zunahm. Seit Ende der 1850er-Jahre stieg die steuerliche Gesamtbelastung im Trend deutlich an.

Im vierten Kapitel werden die regressiven Verteilungswirkungen der indirekten Steuern einer umfangreichen empirischen Untersuchung unterzogen, die weit über die in der zeitgenössischen und wissenschaftlichen Literatur übliche Aussage, dass z. B. die preußische Mahl- und Schlachtsteuer überproportional die Einkommensschwächeren belaste, hinausgeht. Bisher ist weder im deutschen noch im angelsächsischen Bereich die Inzidenz einer Steuer historisch-empirisch untersucht worden. Steuerinzidenz bezeichnet dabei die effektive Steuerlast (Inzidenz). Sie ergibt sich durch Überwälzung der Steuerschuld vom formal Steuerpflichtigen auf andere Wirtschaftssubjekte und stellt einen noch in der Gegenwart schwer zu untersuchenden Sachverhalt dar. Im Rahmen seiner empirischen Forschungen unterzieht Spoerer dabei auch die bahnbrechenden Arbeiten von Etienne Laspeyres, einem der berühmtesten deutschen Statistiker (Stichwort: Laspeyres-Index), zur Preiswirkung der preußischen Mahl- und Schlachtsteuer einer sorgfältigen Überprüfung. Unter Zuhilfenahme neuerer theoretischer Ansätze zum "Overshifting," wonach unter gewissen Umständen eine Steuer sogar um mehr als 100% an Dritte überwälzt werden kann, gelingt es Spoerer, überzeugend die Ergebnisse von Laspeyres sinnvoll zu interpretieren - eine Aufgabe, an der Laspeyres selber gescheitert war, nachdem er "Overshifting" eindeutig nachgewiesen hatte.

Abschließend behandelt der Autor im fünften Kapitel die bisher kaum untersuchte Frage nach Ausweichreaktionen wohlhabender Zensiten und untersucht empirisch, ob es schon um die Wende zum 20. Jahrhundert Steuer- und Fiskalwettbewerb zwischen bestimmten preußischen Kommunen gab.

Die Ergebnisse der empirischen Analysen des Autors stellen einen wichtigen Beitrag zur historischen Forschung dar und zwingen zur Revision einiger weit verbreiteter (Vor-)Urteile. Der vom liberalen Politiker und Bankier David Hansemann im Vormärz geprägte Mythos, dass die preußischen Steuerreformen um 1820 die neuen Westprovinzen benachteiligt hätten, wird eindeutig widerlegt. Zwar stieg die Steuerlast in Rheinland-Westfalen an, doch sie war auf keinen Fall höher als in den alten preußischen Provinzen.

Sowohl für Preußen als auch für Württemberg lässt sich dabei zeigen, dass die Steuerpolitik zusehends die Steuerlast vom langsamer wachsenden Agrarsektor auf die weitaus dynamischeren Sektoren Gewerbe und Dienstleistungen verschob. Wie Eckart Schremmer von einer gewerbefreundlichen oder geradezu industrialisierungsfördernden Steuerpolitik der deutschen Staaten zu sprechen, ist nach Spoerers soliden Ergebnissen für Preußen gar nicht und für Württemberg nur bedingt möglich.

Der Autor findet eine überzeugende Erklärung für das schon von Laspeyres nachgewiesene und von ihm selbst noch einmal mit eigenen Berechnungen sehr sorgfältig überprüfte Overshifting der preußischen Mahlsteuer. Die enormen Zusatzkosten für das umständliche Erhebungs- und Kontrollsystem der Mahlsteuer hatte der preußische Staat wohl einfach den Bäckern aufgebürdet, die diese an ihre Kunden weitergaben. Die Verteilungswirkung dieser von Bismarck so geschätzten Steuer fiel also noch regressiver zu Ungunsten der Unterschichten aus als bisher gedacht.

Gemessen ab 1850 lag der Anteil der indirekten Steuern in Preußen stets über 50% und in Württemberg bei mehr als 40%. Bezieht man darüber hinaus noch die erheblichen Einnahmen öffentlicher Unternehmen (z. B. staatlicher Eisenbahnen) mit ein, die den Charakter einer verdeckten Verbrauschssteuer hatten, so wird deutlich, wie regressiv die Steuersysteme der deutschen Staaten, vor allem Preußens, waren und wie weitgehend man wohlhabendere Zensiten noch schonte. Von wachsender Steuergerechtigkeit bis zum Ersten Weltkrieg - wie es in der Literatur häufig geschieht - kann trotz Einführung direkter Steuern nach Spoerers gründlich erarbeiteten Resultaten für das Kaiserreich nur unter Einschränkungen die Rede sein. Einen ungebrochenen säkularen Trend in diese Richtung gab es jedenfalls nicht.

Bezüglich des Steuerwettbewerbs um wohlhabende Zensiten kommt der Autor zum Ergebnis, dass sich ein solcher wohl für den Großraum Berlin nachweisen lässt, nicht aber für das ebenfalls untersuchte Ruhrgebiet. Wohlhabende Zensiten, die nicht durch einen Betrieb oder andere Gründe an einen Ort gebunden waren, machten mit Einschränkungen also durchaus Gebrauch von ihren Möglichkeiten, Druck auf die Kommunen auszuüben und niedrigere Zuschläge zu direkten Steuern und Ausgaben in ihrem Sinne zu erreichen.

Tatsächlich war die Steuerpolitik der deutschen Staaten, allen voran Preußens, wohl weitaus stärker von traditionellen Kräften der Beharrung geprägt als oft angenommen wird. Anders lässt sich das zähe Festhalten an der in jeder Hinsicht ineffizienten preußischen Mahl- und Schlachtsteuer und das nur langsame Vordringen direkter Einkommenssteuern kaum erklären. Es gab keinen automatischen Trend in Richtung mehr Steuergerechtigkeit im Deutschland des 19. Jahrhunderts.

Das vorliegende Buch füllt wichtige Lücken in der bisherigen Forschung zur Besteuerung in den deutschen Staaten während des "langen 19. Jahrhunderts". Die von Spoerer vorgelegte empirische Studie stellt sowohl von ihren Ergebnissen als auch den gewonnenen Daten und der Methodik her einen wichtigen und innovativen Beitrag zur finanzhistorischen Forschung dar. Umstrittene Grundsatzfragen erfahren auf fundierter Basis erstmals eine Klärung. Eine im modernisierungstheoretischen Sinne ungebrochen positive Bewertung der Entwicklung deutscher Steuersysteme bis 1914 ist nach Spoerers Arbeit nur noch schwer aufrechtzuerhalten.

Hervorzuheben ist die solide ökonometrische Analyse. Die stringente Gliederung mit eng umrissenen operationalisierbaren Fragestellungen sowie eine klare und flüssige Sprache machen das Buch gut lesbar. Wer jemals ein deutsches finanzwissenschaftliches Lehrbuch in der Hand hatte, weiß diesen Vorteil zu schätzen.

Michael Kopsidis