Rezension über:

Sven Ochsenreither: Kunst und Kirche am Ende der klassischen Moderne. Eine kunsthistorische Untersuchung am Beispiel der art sacré in Frankreich (= Europäische Hochschulschriften. Reihe XXVIII: Kunstgeschichte; Bd. 404), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004, 273 S., 73 Abb., ISBN 978-3-631-52137-3, EUR 51,50
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Rezension von:
Christian Freigang
Kunstgeschichtliches Institut, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Stefanie Lieb
Empfohlene Zitierweise:
Christian Freigang: Rezension von: Sven Ochsenreither: Kunst und Kirche am Ende der klassischen Moderne. Eine kunsthistorische Untersuchung am Beispiel der art sacré in Frankreich, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 11 [15.11.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/11/7279.html


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Sven Ochsenreither: Kunst und Kirche am Ende der klassischen Moderne

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Die französische Gesellschaft ist seit dem Ende des 19. bis nach Mitte des 20. Jahrhunderts in tiefgreifender Weise in eine laizistische republikanische Staatsform einerseits und eine katholische, vielfach monarchistisch geprägte Oppositionsbewegung andererseits gespalten. Dies hat den französischen Reformbestrebungen der religiösen Kunst innerhalb der Moderne eine besondere Position zugewiesen. Sie entstehen erstaunlich früh, schon vor dem Ersten Weltkrieg. Außerdem zeichnen sie sich durch eine bemerkenswerte Radikalität aus, indem sie sich - in mancher Hinsicht durchaus im Einklang mit der "profanen" Moderne - als eine dezidiert antiakademische Kunstauffassung verstehen, die sich allein der aus dem individuellen Glauben geschöpften Vermittlung der Heilswahrheit verpflichtet weiß. Die etwa eindrücklich bei Jacques Maritain (Art et scolastique, 1920) beschriebene Position verändert sich am Ende der Zwanzigerjahre, vollends aber nach dem Zweiten Weltkrieg, als insbesondere dank der charismatischen Kunstinitiatoren und -förderer Père Marie-Alain Couturier und Père Pié Raymond Régamey die zentrale Rolle des Glaubens zurücktritt zu Gunsten einer absoluten und aktuellen künstlerischen Qualität. Nur diese vermöge die Brücke zu bilden zwischen dem modernen Menschen und dem göttlichen Heilswerk. Der daraus abgeleitete Appel aux Grands - also der Ruf nach den großen, nicht notwendigerweise katholischen Künstlern - entwickelte eine Strahlkraft, die bis heute weiterwirkt. Diesem, bisher nur in einer vorwiegend deskriptiv verfahrenden Darstellung von Sabine de Lavergne (Art sacré et modernité. Les grandes années de la revue "Art sacré", Namur 1992) bzw. kursorisch in einem Ausstellungskatalog von 1993 (L'art sacré aux XXe siècle en France, Ausst.kat. Boulogne-Billancourt) behandelten Thema ist die hier anzuzeigende Dissertationsschrift gewidmet.

Ochsenreither unterscheidet dabei zwischen christlicher Thematik und der eigentlich interessierenden kirchlichen Kunst. Diese sei integriert in den räumlichen Gesamtzusammenhang des Sakralbaus als dem eigentlichen Ort der Liturgie. Die Darstellung dieses Themas verfährt grosso modo entwicklungsgeschichtlich: Die bereits in den Reformdiskussionen des 19. Jahrhunderts angelegten Ansätze führen insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg zu zahlreichen Initiativen und Ateliergründungen, die in antiakademischem Impetus versuchen, "Wahrheit" als Essenz der Heilsbotschaft künstlerisch wirksam werden zu lassen. Jedoch erst im Vaticanum II werden derartige Forderungen offiziell, wobei Ochsenreither einsichtig zwischen verschiedenen, im Konzilsbeschluss vereinten Auffassungssträngen unterscheidet, die die Kunst entweder in ihrer pädagogischen Funktion für den Glauben oder aber in ihrer absoluten Schönheit bewerten. Ähnliche Unterschiede können auch für die anschließend dargestellten Hauptprotagonisten Couturier und Régamay benannt werden, wobei Letzterer eher die pädagogisch-funktionalistische Position einnimmt, während Couturier vor allem auf die Eigenheit der Kunst abhebt, Realität transzendieren zu können. In diesem Zusammenhang werden die wichtigsten frühen, im Rahmen des Appel aux Grands errichteten, Kirchenbauten beschrieben und in eine Entwicklungsperspektive gestellt.

Die Pfarrkirche im savoyischen Kurort Assy (1937-50), errichtet vom Architekten Maurice Novarina und ausgestattet von mehreren namhaften Künstlern wie Fernand Léger, Germaine Richier, Henri Matisse usw. zeige noch eine gewisse Heterogenität des Ausstattungsensembles im Bezug auf den Kirchenraum. Dies werde konsequenter gestaltet in der ebenfalls von Novarina errichteten Pfarrkirche in der jurassischen Industriestadt Audincourt (1949-51), wo eine farbige Lichtbandkomposition von Fernand Léger den Hauptraum umläuft. Die berühmte Dominikanerinnenkapelle in Vence (1947-51), vornehmlich von Henri Matisse mit Farbfenstern und reduzierten Zeichenchiffren auf der Wand ausgestaltet, komme zu einer "Raumdynamisierung". Die durch Le Corbusier konzipierte Wallfahrtskirche von Ronchamp (1950-55) schließlich gelange zu einem perfekten Ensemble, in der die gesamte Ausstattung aus der Architektur heraus gestaltet worden sei. In der Abfolge der vier Hauptbeispiele manifestiere sich als Konsequenz die Tendenz zum Gesamtkunstwerk.

Die folgenden Abschnitte befassen sich mit den weiteren Entwicklungen dieser Positionen des Appel aux Grands, etwa in den Arbeiten von Jean Bazaine, Alfred Manessier, Pierre Chevalley, Marc Chagall u. v. a. (Kurzbiographien im Anhang). Die wichtigen Etappen werden dabei von einer zunächst bestehenden Beschränkung auf entlegenere Kirchen gebildet, in denen sich der neue Art sacré manifestiert. Mit den Siebzigerjahren erhalten indessen im Zuge der Annäherung von staatlicher Denkmalpflege und Kirche zunehmend auch berühmte historische Monumente moderne Glasgemälde, etwa im Fall der Kathedralen von Metz und Nevers. Was die Entwicklungen der grundsätzlichen Ausstattungskonzepte angeht, bemerkt Ochsenreither, dass dem Aspekt von räumlichen Ausstattungsensembles in den Sechzigerjahren zunehmend weniger Aufmerksamkeit gewidmet wird. Stattdessen entwickelt sich das farbige Glasfenster zu einem quasi autonomen Ausstattungsobjekt par excellence.

Seit den Siebzigerjahren widmet sich die kirchliche Kunst im Zuge der Postmoderne und eines zweiten Appel aux Grands zunehmend wieder dem Raumensemble sowie ihrer eigenen Geschichte, indem sie etwa auf die architektonische Struktur der ausgestalteten Kirchenbauten (Maßwerkformen usw.) oder alte Glasmalerei Bezug nimmt. Allerdings ist gemäß einem wichtigen, im Resümee mitgeteilten Ergebnis festzuhalten, dass die theologische Diskursivität der kirchlichen Kunst mehr und mehr zu Gunsten einer deutlichen "Profanisierung" (197) abnimmt.

Das an Gedanken reiche, hier nur verkürzt zusammengefasste Buch macht es dem Leser nicht leicht. Zum einen ist ein etwas schwerfälliger Nominalstil anzumerken, zum anderen sind viele Argumente des Autors wegen der schlechten Qualität der Abbildungen nur ansatzweise nachzuvollziehen. Obwohl dem Autor (postexpressionistische) Kriterien der Gesamtkunstwerkskonstitution wie "Raumbildung", "Raumgliederung" oder "Raumdynamik" wichtig sind, ist dies niemals etwa durch eine grafische Veranschaulichung der Architekturen exemplifiziert. Inhaltlich ist hervorzuheben, dass Ochsenreither gerade im Hauptteil seiner Untersuchung vorwiegend immanent entwicklungsgeschichtlich argumentiert.

Die wenigen Kontextualisierungsansätze geben hingegen zu Nachfragen Anlass: Überzeugend ist die Verbindung zwischen Couturier und dem Kunsthistoriker Focillon, dessen Insistieren auf der Form (gegenüber dem "Inhalt") ein wichtiges Movens für den Dominikaner gewesen sein dürfte. Kaum eigens diskutiert ist indessen der intensive zeitgenössische Diskurs etwa über die Bedeutung der Abstraktion als "Weltsprache" der Kunst (Ausst.kat. Westkunst Köln 1981) in den Fünfzigerjahren. Wenn Ochsenreither als Kontext für die Renaissance der Glasmalerei die Behandlung der gotischen "Lichtmystik" bei Panofsky, Sedlmayr und von Simson in der Jahrhundertmitte bemüht, übersieht er, dass diese Autoren in Frankreich kaum rezipiert wurden. Eine französische spätromantische Tradition der "Lichtmystik", manifest etwa in Huysmans Roman "La cathédrale" von 1898, reicht jedenfalls weit zurück. Die Schwächen der historischen Kontextualisierung sind auch im Abschnitt zur Vorgeschichte des Art sacré präsent. Die Kunstreform setzt als bedeutender Diskurs nicht erst nach dem Ersten Weltkrieg ein, sondern hat eine umfassende Vorgeschichte, die etwa im einschlägigen, bei Ochsenreither nicht konsultierten Werk von Paul Driskel (Representing Belief: Religion, Art and Society in Nineteenth-Century France. Univ. Park/ Pennsylvania State Univ. Press 1992) nachzulesen ist und die die folgenden Diskurse entscheidend mitbestimmt.

An Literatur wäre zu ergänzen: Brillant, Maurice: L'Art chrétien en France au XXe siècle. Ses tendances nouvelles. Paris s. d. 1927; Arnaud d'Agnel, G.: L'art religieux moderne. 2 Bde. Grenoble 1936; Maurice Denis: Histoire de l'art religieux. Paris 1939; Debié, Franck/Vérot, Pierre: Urbanisme et art sacré. Une aventure du XXe siècle. Paris 1991; Winninger, Paul: Art sacré et nouvelles églises en Alsace: de 1945 à la fin du siècle. Strasbourg 1994 (= Histoire du Catholicisme en Alsace-Lorraine, Bd. 9). Schließlich wäre es sinnvoll gewesen, neben der formalen Analyse der Werke auch ihre ikonografisch-theologischen Dimensionen eingehender zu diskutieren. In diesem Sinne wäre es auch interessant gewesen, über die zeitgenössischen Diskussionen zur Rolle der sakralen Kunst unter dem Vichy-Regime sowie der Vierten und der Fünften Republik mehr zu erfahren.

Christian Freigang