Luke Lavan / William Bowden (eds.): Theory and Practice in Late Antique Archaeology (= Late Antique Archaeology; Vol. 1), Leiden / Boston: Brill 2003, XVI + 428 S., ISBN 978-90-04-12567-4, EUR 99,00
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"Late Antique Archaeology" ist eine neue Buchreihe, in der die Ergebnisse jährlich stattfindender Konferenzen publiziert werden sollen. Der vorliegende Band, der die Serie begründet, geht auf zwei Tagungen in Oxford und Rom im Jahr 2001 zurück. Sicherlich ist es programmatisch zu verstehen, dass er der "Theory and Practice" der spätantiken Archäologie gilt, ist doch die englischsprachige Forschung auf dem Gebiet von Methode und Theoriebildung archäologischer Disziplinen traditionell führend. In der Einleitung werden die - sehr englischen - Voraussetzungen genannt, unter denen die Reihe ins Leben gerufen wurde: Es ist dies, so der Hauptherausgeber Luke Lavan, vor allem die Notwendigkeit einer autonomen Late Antique Archaeology. Ein deutscher Leser wird sich indes schon mit den artifiziellen Grenzen, die hier zwischen den Disziplinen gezogen werden, schwer tun, selbst wenn er der Forderung nach einer spezifischen Archäologie der Spätantike zustimmen sollte. Lavan's Opposition beispielsweise gegen die Christliche Archäologie, die keine ganzheitliche Sicht der Gesellschaft "in terms of broad structures" erlaube (VIII), ist gegen das Bild einer integrativen Forschungstradition zwischen Franz Josef Dölger und Friedrich Wilhelm Deichmann [1] kommentiert. Überhaupt ist der Eindruck von der Welt der spätantiken Archäologie und ihrer Probleme, den Lavan in der Einleitung umreißt, eindimensional und nicht selten banal (XIII: "Having strong concepts and methodology is more important than having read all previous bibliography"). Schematisch sind auch Art und Weise, in der die "Traditions of Scholarship in Late Antique Archaeology" skizziert werden. Dumbarton Oaks beispielsweise (das ja keineswegs eine "Schule" ist, sondern sich aus jährlich wechselnden Angehörigen der unterschiedlichsten Richtungen rekrutiert) als "Hort des Positivismus" kategorisiert zu finden, wo "people with more conservative instincts, in politics and in other spheres of life" (XI f.) forschen, ist schon recht befremdlich, wenn man bedenkt, dass die Erforschung der Spätantike von dort entscheidende Impulse empfangen hat, nicht zuletzt in methodischer Hinsicht.
Sobald man diese unergiebige, gottväterliche Scheidung der archäologischen Welt in Lämmer und Böcke hinter sich gelassen hat, beginnt das Lesevergnügen. Als eigentliche Einleitung in den Band darf der Beitrag von Averil Cameron gelten, in dem wesentlich differenzierter und unter Verzicht auf Polemik die "trends and approaches" in der spätantiken Archäologie der vergangenen Jahrzehnte charakterisiert werden. Erst hier wird deutlich, dass und auf welchen Gebieten die spätantike Archäologie zunehmend ihre eigenen methodischen und thematischen Diskurse führt. Zu ihnen zählt Cameron beispielsweise kulturanthropologische Themen, die nicht länger auf das Christentum zentrierten neuen Perspektiven in der Religionsgeschichte sowie im Bereich von "ethnicity and acculturation" (Stichwort: "Shifting of Frontiers").
Wenn man den beiden einleitenden Artikeln und dem Index folgt, so wäre die Stadtgeschichte, mit sechs Artikeln die umfangreichste Rubrik ("Topography"), das Thema mit der derzeit stärksten Konjunktur. Damit liegen die Herausgeber durchaus richtig, wie nicht zuletzt der intensive Diskurs über die "long Late Antiquity" bezeugt, bei dem die Städte wahlweise als Kronzeugen für eine bruchlose Kontinuität zwischen Spätantike und Frühislam oder für "rupture and decline" aufgerufen werden. Dass Stadt und Umland auch für die übrigen Rubriken - Sozial-, Wirtschafts- und Architekturgeschichte sowie für die "Decline and Fall"-Debatte - die eigentliche Bezugsgröße bilden, macht das Städtewesen zum eigentlichen Thema des vorliegenden Bandes.
Diese Artikel setzen erwartungsgemäß an ganz unterschiedlichen Phänomenen an. Enrico Zanini (196 ff.) etwa weist am Beispiel von vier Städten des frühen 6. Jahrhunderts (Dara, Resafa, Zenobia, Iustiniana Prima) zu Recht auf das Überleben 'klassischer' Planungsprinzipien bei der Neuanlage von Siedlungen hin. Seine Ergebnisse hätten an Kontur gewonnen, wenn in ihm die jüngere - deutsche und türkische - Literatur berücksichtigt worden wäre und er sich an die Ratschläge von Cameron im Einleitungsartikel gehalten und den Schriftquellen wie etwa Prokop etwas mehr Skepsis entgegengebracht hätte. Die neuartigen Züge, die er diesen Städten attestiert, werden auf den Nenner geringer Größe, dominanter Verteidigungsanlagen, christlicher Bauausstattung und kaiserlicher Initiative gebracht - nicht alles davon trifft zu, der Rest hingegen verwundert nicht. Gisella Cantino Wataghin (224 ff.) geht neueren Entwicklungen auf dem Gebiet der christlichen Topografie der spätantiken Stadt nach. In Hinsicht auf die Auswirkungen der Christianisierung glaubt sie feststellen zu können, dass "churches became the new foci of the urban grid" (243). Das mag in Einzelfällen so sein, eine solche Verallgemeinerung erlaubt der Befund aber nicht. Vielmehr sind es gerade die Fragen nach Schwerpunktverlagerungen oder Bildungen neuer Siedlungskerne bei der Anlage von Kirchen, die bislang kaum beantwortet werden können. Die Autoren sind augenfällig darum bemüht, die von ihnen untersuchten Phänomene nicht als Verfallsanzeichen, sondern ergebnisoffen als Wandel zu begreifen und zu beschreiben. Anna Leone weist in ihrer Regionalstudie zum Prozess der "re-location of production activities" im spätantiken Tunesien und der Tripolitania (257 ff.) darauf hin, dass beispielsweise die auf den ersten Blick befremdliche Lokalisierung ölverarbeitender Betriebe in unmittelbarer Nachbarschaft von Kirchen möglicherweise nur einen Beleg für einen Wandel in der politischen Organisation von Produktion darstellt, während ihre räumliche Nähe zu Verteidigungsanlagen für einen erhöhten Sicherheitsbedarf spricht.
Einer hochaktuellen, mit dem Städtewesen eng verknüpften Diskussion, die seit dem jüngsten Buch von Wolf Liebeschuetz [2] noch an Aktualität gewonnen hat, sind die beiden abschließenden Essays gewidmet. Unter dem Stichwort "Decline and Fall" geht es hier um die Debatte über die Ursachen für die sozioökonomischen Veränderungen in der Spätantike. Chris Wickham unternimmt es auf wenigen Seiten, den drei bekannten Erklärungsmodellen - dem Kontinuitäts- und dem Katastrophenszenario sowie der Pirenne-These - einen Entwurf gegenüberzustellen, der vier Paradigmen des Wandlungsprozesses im Westen des Reiches benennt. Mark Whittow paraphrasiert das von ihm so genannte 'Intensification and Abatement'-Modell, das helfen soll, den langfristigen Wandel der spätantiken Welt (zwischen 400 und 800) zu erklären. Ihm liegt die aus der Nomadismusforschung abgeleitete Vorstellung eines zyklischen Wechsels zwischen Sesshaftigkeit und Nomadismus zu Grunde. Mit diesem Modell -selbst wenn man es nur als eine Variante des Kontinuitätsmodells betrachtet - könnten auch regionale Entwicklungen, die häufig genug in bestimmte Formen gepresst werden, zwangloser erklärt werden.
Dass "Archaeology" im englischen Sprachraum auf etwas anderes abzielt als "Archäologie" und einem stärker kulturanthropologischen Ansatz verpflichtet ist, führt die Konzeption des Bandes noch einmal deutlich vor Augen. Es enthält zwar zwei interessante Beiträge zur spätantiken Spolienverwendung, doch spielt die gesamte materielle, 'künstlerische' Kultur der Spätantike - Skulptur, Porträt, Sarkophage, Malerei, Toreutik, letztlich auch Architektur und Bauskulptur - samt ihrer Bedeutung für die spätantike Gesellschaft und deren Wandel nur eine nachgeordnete Rolle, obwohl ihre Erforschung in den letzten zwanzig Jahren, wenn auch nicht im englischsprachigen Raum, starke Impulse erfahren hat. Sie dient allenfalls - und auch dies nur en passant - als Indikator für den sozio-ökonomischen Wandel von Stadt und Imperium (am deutlichsten in dem Beitrag von Jean-Pierre Sodini, 25 ff.). Wie präzise dieser ohne den antiquarischen Blick auf die Veränderung von einzelnen Bauformen beschrieben werden kann, um bei der Stadtforschung zu bleiben, muss sich der Herausgeber Luke Lavan ernsthaft fragen lassen. Und wir müssen uns mit seiner Antwort zufrieden geben, dass dadurch nur "useful works of reference" entstehen, Bauwerke aber nicht "[as] a source of historical information about the people who used them" (XI) erfahrbar werden. Dementsprechend ist das Buch denn auch, anders als der Klappentext verheißt, kein "overview of late-antique archaeology" geworden, wohl aber eine gut lesbare, fast immer anregende, gelegentlich provokante Sammlung von Fallstudien zu einigen wichtigen Themen der spätantiken Archäologie, allen voran der Stadtkultur. Die Auswahl der Themen spiegelt allerdings eine sehr englische Sicht der Dinge, und diese Warte wird nur mit der auf diesem Gebiet als ebenbürtig betrachteten französischen und italienischen Forschung geteilt. Zwiespältig bleibt der Auftakt des Bandes. Denn das von Luke Lavan mühsam begründete Fach "Late Antique Archaeology" gibt es bereits, und zwar je nach regionalen Forschungstraditionen als Bestandteil der Prähistorischen, Klassischen und Christlichen Archäologie, der Kunstgeschichte und der archäologischen Bauforschung. In Zukunft wird es also nicht darum gehen, "Late Antique Studies" als eigene Disziplin zu etablieren, sondern - angesichts schrumpfender Etats (417 f.) - vielmehr um eine integrative Zusammenführung der verschiedenen europäischen Stränge in der Erforschung der Spätantike.
Anmerkungen:
[1] Vgl. etwa F. W. Deichmann: Einführung in die Christliche Archäologie, Darmstadt 1983.
[2] J.H.W.G. Liebeschuetz: The Decline and Fall of the Roman City, Oxford 2001.
Gunnar Brands