Martin Schieder: Im Blick des Anderen. Die deutsch-französischen Kunstbeziehungen 1945-1959. Mit einem Vorwort von Werner Spies und einem Gedicht von K.O.Götz (= Passagen / Passages. Deutsches Forum für Kunstgeschichte / Centre allemand d'histoire de l'art; Bd. 12), Berlin: Akademie Verlag 2005, XIX + 500 S., ISBN 978-3-05-004148-3, EUR 49,80
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Martin Schieder behandelt in seinem Buch die Transferprozesse zwischen Deutschland und Frankreich, die sich nach der Zäsur des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs dank der Aktivitäten von Künstlern, Kunstkritikern, Sammlern, Ausstellungsmachern und offiziellen Entscheidungsträgern entwickelten. Rekurrierend auf eigene Vorarbeiten, beschreitet er mit dieser Studie neue Wege in der Forschung. Zwar haben etliche Aspekte der europäischen Kunstgeschichte nach 1945 eingehende Betrachtung erfahren. [1] Auch richtet sich die Aufmerksamkeit bereits seit Jahren auf die Kunstvermittlung zwischen beiden Ländern, wie die vom Autor mitverantwortete Publikationsreihe Deutsch-französische Kunstbeziehungen. Kritik und Vermittlung des Deutschen Forums für Kunstgeschichte in Paris belegt. Bislang wurden jedoch vor allem das 18. und 19. Jahrhundert sowie die Zwischenkriegszeit unter Rückgriff auf die Ansätze des "interkulturellen Transfers" und der Rezeptionsgeschichte erkundet. [2]
Das so bereit gestellte methodische Rüstzeug eignet sich Schieder an, erweitert es aber um Fragestellungen, die etwa der Kultur- oder Stilgeschichte entlehnt sind (15), um die komplexen Nachkriegsbeziehungen beider Länder möglichst umfassend aufzuzeigen. Seine Studie entwickelt er auf der Basis eines breiten und vielfältigen Quellenmaterials. Die in Ausstellungskatalogen, Überblickswerken, Kunstperiodika und in der Tagespresse veröffentlichten Quellen werden um Dokumente ergänzt, die der Verfasser in intensiver Archivrecherche zusammengetragen und systematisch ausgewertet hat.
Nebst einer Einleitung und einem Schlussteil gliedert sich die Arbeit in fünf Abschnitte. Sie nehmen sowohl die deutsche als auch die französische Perspektive auf und spiegeln daher die dynamische Durchdringung der Kulturen strukturell wider, die einen jeden binationalen Kunsttransfer kennzeichnet. Außerdem genügt ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis um zu erfassen, dass auch die Transfervorgänge der Nachkriegszeit im Sinne bisheriger Forschungen von einem Zusammenspiel historischer Konjunkturen, institutioneller Rahmenbedingungen, kollektiver Erwartungshaltungen und individueller Persönlichkeiten abhängig waren.
Im ersten, "Kunst und Politik" überschriebenen Teil analysiert Schieder zunächst die Kunstausstellungen der französischen Besatzungsmacht. Er vermag es, den Blick des Lesers für die Schwierigkeiten zu schärfen, die sich der Organisation der Ausstellungen und ihrer Rezeption in den unmittelbar auf den Krieg folgenden Jahren entgegenstellten. Das Kapitel vollzieht dabei den Wandel nach, dem die Funktion dieser Kulturereignisse unterlag. Sollten sie aus Sicht der Militärregierung anfänglich die kulturelle Vormachtstellung Frankreichs demonstrieren, standen sie bald im Zeichen der Völkerverständigung. Nach Jahren der nationalsozialistischen Isolation fand die deutsche Bevölkerung mit ihrer Hilfe Anschluss an das internationale Kulturleben, wurden Kunstschaffenden und -experten die Erneuerungen in der künstlerischen Praxis vermittelt. Dies als eine Leistung der Kulturpolitik der französischen Alliierten darzustellen, die bislang kaum ausreichend gewürdigt wurde, gelingt dem Autor in bestechender Weise. Überdies macht er deutlich, dass auch Wilhelm Hausenstein, 1950 zum Pariser Generalkonsul berufen, sich die Versöhnung beider Länder zur Aufgabe gemacht hatte, indem er Ausstellungen deutscher Kunst in der französischen Metropole förderte.
Im zweiten Teil widmet sich Schieder dem Engagement privater Kunstvermittler. Er stellt den Sammler Ottomar Domnick, die Künstler Willi Baumeister, Hans Hartung und Francis Bott, die Kunstkritiker, -literaten und -historiker Will Grohmann, Christian Zervos, Werner Haftmann, Édouard Jaguer und Herta Wescher als Protagonisten der deutsch-französischen Kunstbeziehungen nach 1945 vor, wobei er die Kriterien, die dieser Auswahl an Transferträgern zu Grunde lagen, präziser hätte definieren können (91 f.; 379). Eindrücklich aber führt Schieder die Bedeutung der sozialen Netzwerke, der jeweiligen intellektuellen Milieus und die eigennützigen Ziele, die sich mit der Förderung der Kunst des anderen Landes oder der Vermittlung der eigenen Kunstproduktion ins Ausland verbanden, vor Augen.
In "Kunst und Kommerz" sowie "Kunst und Künstler" - wohl absichtlich spielt der Titel dieses Kapitels auf die legendäre frankophile Zeitschrift aus dem Hause Cassirer an - geht es erneut um die Rekonstruktion der Kontakte und Interessenlagen der Kunstvermittler; hier nun sind die Vertreter des Kunsthandels sowie die Kunstschaffenden selbst angesprochen. Schieders Auseinandersetzung mit deutschen Malern, die sich in Paris an informel und art autre orientierten, basiert zu einem großen Teil auf privaten Aufzeichnungen und Korrespondenzen. Damit wird, wie beabsichtigt, ein Eindruck von der Atmosphäre der damaligen Kunstszene vermittelt. Zugleich bringt dieses Verfahren einen stilistischen Bruch mit sich: Die Widerspiegelung der Gefühlswelt einiger Künstler wie K. O. Götz oder Carl Buchheister unterscheidet sich vom sachlichen Duktus des übrigen Buches.
Argumentativ stark zeigt sich das Kapitel in der kritischen Diskussion der bisherigen Forschung zur École de Paris und zum Informel. Durch Bildanalysen von Werken Baumeisters, Götz', Schultzes, Thomas Grochowiaks und vieler anderer deutscher Maler dieser Zeit belegt Schieder konkret, wie und wann die Rezeption von Arbeiten ihrer Pariser Kollegen in der Formensprache und Malweise einen Niederschlag gefunden hat. Undifferenzierte Äußerungen über die angestrebte Autonomie des deutschen Informel oder Versuche, die künstlerische Entwicklung eines Gerhard Hoehme oder Günter Fruhtrunk zu Gunsten der Betonung eines homogenen, eigenständigen Oeuvres zu vernachlässigen (253-255), werden somit künftig schwer vertretbar sein.
Unter dem Titel "Das Eigene und das Fremde" widmet sich Schieder abschließend den Deutungsmustern, die die Kommentare über die Kunst des "Anderen" nach 1945 prägten. Trotz der Zäsur 1933/39, der Besatzung von Paris und des Vichy-Regimes, der Aufteilung Deutschlands durch die Alliierten und der mühseligen Demokratisierungs- und Neuordnungsprozesse: Was eine empfindliche Störung der gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen bedeutet hatte, fand in der kunstkritischen Diskussion kaum Widerhall. Nach wie vor näherte man sich der Kunst des "Fremden" über tradierte Stereotypen an, nach denen die zeitgenössische deutsche Kunst beispielsweise mit der Romantik, die französische mit der Dialektik von Tradition und Innovation assoziiert wurde. In vielerlei Hinsicht also bedeutete die Wiederaufnahme der bilateralen Beziehungen keinen radikalen Neuanfang, wie Schieder zu Recht betont, sondern die Fortführung eines seit Jahrhunderten anhaltenden Dialogs (378).
Aufschlussreich sind die Ausführungen zur Picasso-Rezeption im geteilten Deutschland, derer sich der Autor in diesem Kapitel ebenfalls annimmt. Man mag kaum glauben, dass dem Thema noch ein neuer Aspekt abgerungen werden kann, bedenkt man die Allgegenwärtigkeit des Spaniers in der heutigen Kunst- und Wissenschaftslandschaft. Schieder zeichnet jedoch Erstaunliches nach: Die Beurteilungen von Picassos Oeuvre, die einerseits im vermeintlich freien und liberalen Klima des Westens und andererseits unter Bedingungen der diktatorischen Umklammerung gefällt wurden, entsprachen einander stärker als zu vermuten war. Der frische Blick lässt erkennen, dass eine Revision der deutsch-deutschen Kunstgeschichtsschreibung dringend geraten ist.
"Im Blick des Anderen" ist ein beeindruckender Beitrag zur Erforschung der europäischen Kunstgeschichte der späten vierziger und Fünfzigerjahre, der zudem mit dem Prolog von Werner Spies und einem Jaguer gewidmeten Gedicht von Götz zwei "Grenzgänger" zu Wort kommen lässt. Nicht zuletzt seien die Perspektiven erwähnt, die Schieder für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dieser Zeit aufzeigt: Es bliebe nach dem Transfer von Skulptur und Grafik zu fragen, die in der Studie nicht näher beachteten Künstler und Kunstvermittler vorzustellen und die Museumsgeschichte im Rahmen des deutsch-französischen Beziehungsgeflechts zu eruieren (379-380). Man darf hoffen, dass sich Ansätze zur Lösung dieser Aufgaben in der nächsten, bereits angekündigten Publikation des Autors finden. [3]
Anmerkungen:
[1] Man denke etwa an die in der Forschung breit diskutierte Kontroverse um Abstraktion und Figuration. Vgl. jüngst Friedrich Weltzien: E.W. Nay - Figur und Körperbild, Berlin 2003.
[2] Vgl. zum Beispiel Alexandre Kostka / Françoise Lucbert (Hrsg.): Distanz und Aneignung. Kunstbeziehungen zwischen Deutschland und Frankreich 1870-1945. Relations artistiques entre la France et l'Allemagne 1870-1945, Berlin 2004; Andreas Holleczek / Andrea Meyer (Hrsg.) unter Mitarbeit von Knut Helms und Friederike Kitschen: Französische Kunst - Deutsche Perspektiven 1870-1945. Quellen und Kommentare zur Kunstkritik, Berlin 2004; Andrea Pophanken / Felix Billeter (Hrsg.): Die Moderne und ihre Sammler. Französische Kunst in deutschem Privatbesitz vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, Berlin 2001; Uwe Fleckner / Thomas W. Gaehtgens(Hrsg.): De Grünewald à Menzel. L'image de l'art allemand en France au XIXe siècle, Paris 2003.
[3] Martin Schieder / Isabelle Ewig (Hrsg.): In die Freiheit geworfen. Positionen zur deutsch-französischen Kunstgeschichte nach 1945 ,mit einem Vorwort von Thomas W. Gaehtgens, (Passagen / Passages, Bd. 13) (im Druck).
Andrea Meyer