Martin Schieder / Isabelle Ewig (Hgg.): In die Freiheit geworfen. Positionen zur deutsch-französischen Kunstgeschichte nach 1945 (= Passagen / Passages. Deutsches Forum für Kunstgeschichte / Centre allemand d'histoire de l'art; Bd. 13), Berlin: Akademie Verlag 2006, XV + 410 S., ISBN 978-3-05-004182-7, EUR 49,80
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Amelia Jones (ed.): A Companion to Contemporary Art since 1945, Oxford: Blackwell Publishing 2006
Anke te Heesen: Theorien des Museums. Zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag 2012
Mark A. Cheetham: Abstract Art Against Autonomy. Infection, Resistance, and Cure since the 60s, Cambridge: Cambridge University Press 2006
Martin Schieder: Au-delà des Lumières. La peinture religieuse à la fin de l'Ancien Régime, Paris: Éditions de la Maison des sciences de l'homme 2015
Martin Schieder: Im Blick des Anderen. Die deutsch-französischen Kunstbeziehungen 1945-1959. Mit einem Vorwort von Werner Spies und einem Gedicht von K.O.Götz, Berlin: Akademie Verlag 2005
Hans-Werner Schmidt / Jan Nicolaisen / Martin Schieder (Hgg.): Eugène Delacroix & Paul Delaroche. Geschichte als Sensation, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2015
Grundlagen des hier vorliegenden Bandes, der sich der deutsch-französischen Nachkriegskunstgeschichte widmet, waren zwei Kolloquien eines von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Forschungsprojekts des Deutschen Forums für Kunstgeschichte (DFK) in Paris. Der kulturelle Wiederanfang 1945 in der sogenannten 'Stunde Null' in Deutschland war maßgeblich von den Besatzungsmächten geprägt, der 'Wiederaufbau' einer modernen deutschen Kunstentwicklung insbesondere von den Beziehungen zu Frankreich.
Die Beiträge in diesem Band gelten der Wechselwirkung der Kunstvorstellungen und -entwicklungen in den beiden Ländern von 1945 bis 1955, den unterschiedlichen kulturhistorischen Situationen, den verschiedenen Persönlichkeiten mit ihren Netzwerken, den realisierten gegenseitigen Ausstellungen sowie den vorausgegangenen Kunstentwicklungen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden aus verschiedenen Perspektiven anhand konkreter Fallstudien sehr anschaulich und differenziert herauspräpariert. In seinem Vorwort stellt Thomas Gaehtgens, der spiritus rector des DFK, fest, der auf Nordamerika orientierte Zeitgeist der 60er Jahre habe die Frankreichzentrierung der unmittelbaren Nachkriegszeit Westdeutschlands in Vergessenheit geraten lassen und deren Kunstgeschichte stehe noch aus; das DFK schließe mit dem vorliegenden Band eine Lücke. Anschließend erinnern Martin Schieder und Isabella Ewig in ihrer Einleitung an die besondere historische Konstellation nach der Verfemung der Moderne durch die Nationalsozialisten und führen in Konzept und inhaltliche Gewichtungen der Kolloquien ein.
Erschlossen wird das Thema in den vier thematischen Blöcken 'Kunst/Geschichte', 'Kunst/Vermittlung', 'Kunst/Diskurs' und 'Kunst/Künstler'. Im ersten werden Aspekte und Konsequenzen der historischen Verschleppungen und Restitutionen von Kunstwerken im Zweiten Weltkrieg sowie die Rolle der ersten Ausstellungen zur Moderne nach dem Krieg reflektiert, im zweiten die Rolle abstrakter Malerei und der vermittelnden Persönlichkeiten sowie der Ausstellungs- und Publikationsprojekte analysiert. Im dritten Block geht man den kunsttheoretischen Debatten für und wider die Abstraktion auf beiden Seiten des Rheins und der Bedeutung der abstrakten Kunst für die kulturelle Entspannung nach, um im vierten an Beispielen die Rolle von Paris in den 50er Jahren und die gegenseitigen Wahrnehmungen zu untersuchen.
Bei den Prozessen transnationaler Kunstvermittlung sind verschiedene private wie öffentliche Ebenen zu berücksichtigen; dabei darf die Rolle symbolischer Momente und Gesten wie auch besonderer Bilder nicht unterschätzt werden. Bedacht werden die unterschiedlichen Mentalitäten und Vorurteile auf beiden Seiten sowie die verschiedenen Weisen, sich jeweils auf die eigene Vergangenheit zu beziehen.
Jeder Beitrag ist aufschlussreich und lesenswert; im Rahmen dieser Rezension kann, um die Leselust zu wecken, allerdings nur auf wenige verwiesen werden. So nutzt Aymone Nicolas die Rezeption des berühmten Watteau-Bildes 'Das Ladenschild Gersaint' aus Berliner Museen bei dessen Ausstellungen in Frankreich 1937 und 1950 gleichsam als Gradmesser für interkulturelle Befindlichkeiten und stellt fest, nach revanchistischen Tönen in den 30er Jahren seien nach dem Krieg doch eher Versöhnung und Pflege einer gemeinsamen europäischen Kultur im Vordergrund gestanden. Mathilde Arnoux verfolgt die deutsch-französische Wiederannäherung anhand des Zustandekommens einer Ausstellung altdeutscher Maler im Jeu de Paume 1950, bei der sich zeigt, dass ein Netzwerk engagierter Persönlichkeiten in Ministerien, intellektuellen Kreisen und in der Leitung der französischen Besatzungszone in der und für die Politik der Rehabilitation Deutschlands den Ausschlag gaben. Spannend das Austarieren des Kräftespiels zwischen Kultur und Politik, Wissenschaft und Diplomatie mit ihren Kompetenz- und Verantwortungsrivalitäten. Auch die Genese des deutsch-französischen Kulturabkommens (Ulrich Lappenküper) von 1954 macht die Rolle der Kultur bei der deutsch-französischen Verständigung und Wiederannäherung deutlich; erneut zeigt sich die große Bedeutung einzelner Ausstellungen und Persönlichkeiten wie etwa Wilhelm Hausensteins.
Im zweiten Abschnitt fällt auf, wie vergleichbar und doch verschieden motiviert man nach 1945 in beiden Ländern mit abstrakter Kunst umging; dabei lässt sich z.B. in Paris ein Erbe des Bauhauses nachweisen (Guitemie Maldonado). Mit der Entwicklung der deutschen Museen, v.a. jenen für Moderne und Gegenwart, in der unmittelbaren Nachkriegszeit befasst sich Lucius Grisebach und stellt fest, die deutschen Museen seien viel fortschrittlicher als die französischen gewesen und neueste französische Kunst (École de Paris, Nouveaux Réalistes) sei früher in deutsche Museen aufgenommen worden. Erneut hätten engagierte Persönlichkeiten wie Werner Haftmann und spezifisch deutsche Entwicklungen, etwa die documenta, prägend gewirkt. Haftmanns propagierte abstrakte Kunst als gesellschaftlichen 'Kitt' und war dank seiner Frankophilie bereit, in der Kultur Frankreichs ein Modell für Europa zu sehen (Kimpel).
Einem anderen grenzüberschreitenden Kunstprojekt und einem wichtigen Netzwerk zur Förderung moderner informeller Kunst geht Christoph Zuschlag nach, der die Beziehung des Malers Wilhelm Wesel, des Vorsitzenden des Westdeutschen Künstlerbundes, zum Galeristen Rodolphe Stadler analysiert. Laurence Bertrand Dorléac verfolgt die Rezeption des deutschen Expressionismus in Frankreich und Deutschland. Die Deutungsgeschichte des Expressionismus lässt sich als Indikator der Mentalitäten lesen und deckt zugleich dessen Bedeutung für Identitätsfantasma auf. Als genauso aufschlussreich erweist sich die Analyse der Kubismusrezeption in Deutschland zwischen 1945 und 1960 (van der Meulen), bei der sich der Diskurs von einer formal-ästhetischen zu einer existenzialistisch-mentalitätsgeschichtlichen Deutung verschiebt. Der Kubismus galt als Inbegriff der Moderne und ästhetischer Wertewandel wie Verwissenschaftlichung lassen sich nicht kunstimmanent, sondern nur im zeithistorischen Kontext verstehen. Auch auf Weber-Schäfers komparatistische Analyse des umstrittenen Menschenbildes in der französischen und deutschen Kunsttheorie nach 1945 sei noch verwiesen, bei der sich erneut zeigt, wie tief die Debatten um Abstraktion versus Figuration in den jeweiligen politischen, gesellschaftlichen und ästhetischen Rahmenbedingungen verwurzelt waren.
Die Beiträge sind von Spezialistinnen und Spezialisten verfasst und jeweils auf einen Aspekt der Fragestellung fokussiert, sie bieten anschauliche, nuancenreiche vertiefte Einblicke sowie viele Hin- und Verweise auf Quellen und Sekundärliteratur. Die Fülle der Beiträge bildet ein reiches differenziertes Kaleidoskop der damaligen Situation, sodass der Band als Standardwerk der Kunstgeschichte der Moderne nach 1945 anzusprechen ist. Die Lektüre der durchweg anregenden und gut lesbaren Texte stellt allerdings Ansprüche, sind doch etwa ein Drittel der Aufsätze in französischer Sprache verfasst; offenbar geht man davon aus, dass Interessenten an der Thematik über die entsprechende Sprachkompetenz verfügen.
Anne-Marie Bonnet