Johannes Cramer / Manfred Schuller / Stefan Winghart (Hgg.): Forschungen zum Erfurter Dom. Bearbeitet von Barbara Perlich und Gabri van Tussenbroek (= Arbeitsheft des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege. Neue Folge; 20 / 20.1), Erfurt: Thüringisches Amt für Denkmalpflege 2005, 2 Bde., 333 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-937940-10-6, EUR 30,00
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Johannes Cramer / Peter Goralczyk / Dirk Schumann (Hgg.): Bauforschung. Eine kritische Revision. Historische Bauforschung zwischen Marketingstrategien und öffentlichem Abseits, Berlin: Lukas Verlag 2005
Achim Hubel / Manfred Schuller: Der Dom zu Regensburg. Teil 5 - Tafeln, Regensburg: Friedrich Pustet 2010
Johannes Cramer, Manfred Schuller und Stefan Winghart haben als Herausgeber unter dem Titel "Forschungen zum Erfurter Dom" die Früchte intensiver Forschungsarbeit im Rahmen der Denkmalpflege am Dom, insbesondere aber des Berlin-Bamberger Graduiertenkollegs "Kunstwissenschaft - Bauforschung - Denkmalpflege" der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das Arbeitsheft 20 des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege enthält 21 Beiträge verschiedener Autoren mit zahlreichen Abbildungen. Dazu kommt noch das Begleitheft, welches eine Neuauflage der bereits 2003 erstmals publizierten Studien von Rainer Müller und Thomas Nitz zum Chorgestühl des Hohen Chores aus dem 14. Jahrhundert darstellt. Der Leser nimmt diese Beigabe dankbar entgegen, sind doch damit die aktuellsten Erkenntnisse zur Baugeschichte und Ausstattung des Hohen Chores, der zu den bedeutendsten Bauwerken des 14. Jahrhunderts in Mitteldeutschland zählt, griffbereit versammelt.
Die Forschung zum Erfurter Dom hat bereits im 19. Jahrhundert wichtige Ergebnisse erbracht, und auch das 20. Jahrhundert - hier sei nur an den Kunstdenkmälerband von 1929 oder an die Forschungen von Ernst Schubert, Edgar Lehmann, Bernd Wedemeyer und Falko Bornschein erinnert - konnte den Wissensstand beträchtlich erweitern, sodass der Erfurter Dom auch vor dem Erscheinen der vorliegenden Publikation keineswegs als schlecht erforschtes Monument zu gelten hatte. Umso mehr ist es erstaunlich, in wie großem Maße neue Erkenntnisse zur Baugeschichte und darüber hinaus durch die sorgfältige Beobachtung am Objekt erbracht werden konnten.
Zu den wichtigsten Ergebnissen zählt die Klärung der bislang strittigen Fragen nach der zeitlichen Abfolge der verschiedenen Bau- und Planungsetappen der Ostpartien und des Triangels. Vor den Augen des Lesers beginnt sich ein gross angelegter, um 1300 entstandener Plan zu entfalten, in dessen Mittelpunkt die bauliche Inszenierung des Kultes um die Reliquien der Lokalpatrone, der heiligen Bischöfe Adolar und Eoban, stand. Der Triangel als skulpturengeschmücktes Eingangsportal und der neue Hohe Chor waren wichtige Bestandteile dieses Projektes, in seinem Zentrum aber stand die Anlage einer Krypta unter dem Chor. Diese bot Platz für die Reliquien und sollte im Rahmen eines Prozessionsweges zugänglich sein, der außen um die mit Fresken versehene Sockelmauer des Chores herumführte. Beides, Krypta und Außenumgang, wurden mit dem Bau der Kavaten, riesiger Substruktionen für den neuen Chor, bis zum Jahr 1329 realisiert. Der Hohe Chor - der nicht, wie die Forschung bisher meinte, von West nach Ost errichtet, sondern in Horizontalbauweise empor geführt wurde - war zu diesem Zeitpunkt bereits in der Sockelzone begonnen.
In der inneren Mauerschale des Hohen Chores stecken noch die Strebepfeiler des 1290 geweihten Vorgängerbaus. Der Chorneubau legte sich also wie ein Mantel um den Altbau, was einen sofortigen Abriss des alten Presbyteriums unnötig machte. Warum der alte Chor schliesslich zwischen 1329 und 1337 niedergelegt wurde, obwohl der Neubau erst viele Jahre später weitergeführt werden konnte, bleibt unklar. Immerhin wurde das Holz für das Chorgestühl ebenfalls in den Jahren 1328/29 gefällt, was darauf hindeutet, dass man zunächst mit einer baldigen Fertigstellung rechnete.
In den dreißiger Jahren wandte man sich allerdings dem Ausbau des Querhauses und der Errichtung des Triangels zu, während die Arbeit am Chor liegen blieb. Ein unbeabsichtigter Messfehler bei der Anlage der Kavaten - auch dies eine wichtige neue Erkenntnis - hatte zu einer Achsverschiebung der Ostpartien geführt, was eine ganze Reihe von Baumaßnahmen, darunter eine Erweiterung der Kavaten, nach sich zog. Ob diese allein der Grund für die verzögerte Fertigstellung waren, oder ob, wie Rainer Müller in seinem Beitrag vermutet, die politischen Verstrickungen des Erfurter Dekans Hermann von Bibra ursächlich waren, ist ungewiss. Jedenfalls wurden die Bauarbeiten am Hohen Chor erst 1349 wieder aufgenommen, die Weihe fand zwischen 1370 und 1372 statt.
An neuen Ergebnissen bleibt festzuhalten, dass der Prozessionsweg mitsamt der Sockelzone des Hohen Chores bereits im Jahre 1329 fertig angelegt war. Auch über die Gestalt des Vorgängerbaus aus dem späten 13. Jahrhundert konnten wertvolle Aufschlüsse gewonnen werden. Bei ihm hatte es sich um ein 7/10-Polygon gehandelt, welches nach dem Durchschreiten des Triumphbogens sich zentralbauartig weitete. Einer Klärung zuführen ließ sich fernerhin die bislang umstrittene Bauabfolge von Querhaus, Triangel und Kavatenerweiterung, wobei die Erhöhung des Querhauses und der Bau des Triangels in die dreißiger Jahre zu datieren sind, gefolgt von der Erweiterung der Kavaten und schließlich der Wölbung des Querhauses. Damit bestätigt sich die ohnehin in der Literatur kaum mehr in Zweifel gezogene Datierung des Triangels in die 1330er-Jahre.
Am spannendsten aber ist die Gesamtschau, die sich ergibt, wenn man die einzelnen Erkenntnisse zusammenfügt. Der neue Hohe Chor war im Rückblick betrachtet nur das Folgeprodukt einer faszinierenden Planidee, die einen aufwändigen architektonischen Rahmen für die Verehrung der Lokalheiligen zu schaffen trachtete und damit auch den Abbruch des nur wenige Jahre zuvor geweihten Chorpolygons aus dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts zu rechtfertigen im Stande war. Sie trat in Konkurrenz zum benachbarten Severistift wie zu den Kirchenbauten der Mendikanten, wollte zugleich kultische, politische und städtebauliche Akzente setzen - ein Studienobjekt für die Medialität mittelalterlicher Baukunst par excellence! Insbesondere die Beiträge von Falko Bornschein, Robert Suckale und Rainer Müller liefern hierzu wichtige Beobachtungen und Denkanstösse. Dass darüber hinaus diesen Motiven nur ansatzweise nachgespürt wurde, ist den Herausgebern und Autoren des vorliegenden Werkes nicht anzulasten. Hier tut sich ein reiches Arbeitsfeld für zukünftige Forschungsvorhaben auf, denen nun eine solide und tragfähige Grundlage geschaffen wurde.
Eher schon hätte man dem vorliegenden Band einen stärkeren Zug zu Synthese gewünscht, muss sich der Leser doch ein hinreichend detailliertes Gesamtbild des Baugeschehens aus den in verschiedenen Beiträgen enthaltenen einzelnen Mosaiksteinen selbst zusammensetzen. Doch vielleicht ist dies ein Schicksal, welchem die aus derartigen, von der Mitarbeit einer Vielzahl begabter und fleißiger Forscher abhängigen Projekten hervorgehenden Publikationen nicht zu entrinnen vermögen. Allen Beteiligten ist jedenfalls zu einem Doppelband zu gratulieren, der nicht nur den Forschungsstand zu einem der bedeutendsten Bauwerke der Gotik in Deutschland entscheidend vorangebracht hat, sondern der auch Maßstäbe für künftige derartige Vorhaben setzt.
Marc Carel Schurr