Rezension über:

Nils Freytag / Diethard Sawicki (Hgg.): Wunderwelten. Religiöse Ekstase und Magie in der Moderne, München: Wilhelm Fink 2006, 190 S., ISBN 978-3-7705-4226-0, EUR 19,90
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Joachim Schmiedl
Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Joachim Schmiedl: Rezension von: Nils Freytag / Diethard Sawicki (Hgg.): Wunderwelten. Religiöse Ekstase und Magie in der Moderne, München: Wilhelm Fink 2006, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 11 [15.11.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/11/10613.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Nils Freytag / Diethard Sawicki (Hgg.): Wunderwelten

Textgröße: A A A

Seit die Kulturgeschichte in den historischen Wissenschaften Konjunktur hat, verändert sich auch der Blick auf religiöse Phänomene. Die Historische Sozialwissenschaft tat sich sehr schwer damit, Religion überhaupt und besonders außergewöhnliche Äußerungen innerlicher Religiosität wahrzunehmen und zu werten. Der "cultural turn" zeigt hingegen von Neuem auf, wie komplex historische Realitäten sind und wie sehr die "Entzauberung" der Welt das Verständnis für menschliches Handeln verstellen kann. Die Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes haben sich in ihren jeweiligen Dissertationen bereits mit Phänomenen beschäftigt, die jenseits rationalen Verständnisses zu liegen scheinen, Nils Freytag mit Aberglauben im 19. Jahrhundert und Diethard Sawicki mit dem Geisterglauben und Spiritismus. Die nun zusammengestellten Beiträge wollen die "verzauberte Moderne" (7) neu verstehen lernen. Die Thematik der Frömmigkeits- und Religionsgeschichte zeigt die mittlerweile zum common sense gewordene Brüchigkeit des Säkularisierungsparadigmas. Aus der Perspektive der Medizingeschichte ergeben sich Einsichten in Praktiken der Laienheilkunde und alternativen Medizin. Es zeigt sich, dass politisches Handeln bisweilen abhängiger von den religiösen Grundannahmen der Protagonisten war als man erwarten sollte. Längst überwunden geglaubte religiöse Vorstellungen hielten sich in ländlichen Gegenden bis in das 20. Jahrhundert hinein. So kann, wie die Herausgeber in ihrer Einleitung schreiben, auch eine "nationalhistorische Fokussierung der Geschichtswissenschaft" (23) gewinnbringend erweitert werden.

Die ersten beiden Fallstudien haben die protestantische Erweckungsbewegung zum Thema. Lambert Kansy (25-52) berichtet von den Auseinandersetzungen zwischen einer sich als aufgeklärt verstehenden Theologie und pietistischen "Schwärmern" im Basel der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Von Nikolaus von Brunn, der in den Missionskomitees der Basler Christentumsgesellschaft eine führende Stellung einnahm, ist ein Manuskript mit Traumaufzeichnungen und -deutungen überliefert. Persönlich bedeutsame Ereignisse werden darin ebenso reflektiert wie heilsgeschichtliche Interpretationen, die im Umfeld eines erfahrungsorientierten Christentums einer Säkularisierung und Psychologisierung entgegen standen. Kansy zeigt, dass die Selbstbetrachtung des gläubigen Protestanten noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein die religiöse Leitung des eigenen Lebens von einem direkten göttlichen Einwirken in Form von Träumen erwartete.

Der Gegensatz zum Rationalismus ist auch Inhalt des zweiten Beitrags des amerikanischen Historikers David Ellis (53-82). In Preußen stand die Erweckungsbewegung, die sich in Konventikeln in Privathäusern organisiert hatte, der von König Friedrich Wilhelm III. forcierten Union kritisch gegenüber. Nach dem Regierungswechsel waren die Erweckten plötzlich unter den konservativen politischen Wortführern. Die Bewertung der Konventikel fiel unterschiedlich aus: In der Selbstwahrnehmung ging es der Mehrzahl um ein Leben nach dem Evangelium. Damit verbundene Kritik an der Amtskirche wurde aber auch als Kritik am Staat verstanden, was zu einer Radikalisierung der Spannungen führte. Immerhin wurde der Staat dadurch gezwungen, einen eigenen spirituellen Anspruch deutlicher zu formulieren.

Bernhard Gißibl (83-114) lenkt den Blick auf den Katholizismus des Vormärzes zurück. Frauen, die in ekstatische Zustände fielen, wunderbare Heilungen erfuhren oder vorgaben, als Stigmatisierte in eine besondere Form der Christusähnlichkeit zu rücken, bezeichneten Zeitgenossen als "Zeichen der Zeit". Gißibl diskutiert mehrere solcher Fälle aus dem oberbayerischen Raum, bei denen sich unterschiedliche Lesarten der betroffenen (Ehe-)Männer und der die Frauen stützenden Geistlichen, die wundersame Phänomene provozierten und förderten, gegenüberstanden. Die zeitgenössischen Deutungen oszillierten zwischen Mystik und Magnetismus. Gißibl sieht darin eine Rückkehr der Bilder, vor allem in Bezug auf das Passionsgeschehen, aber auch eine Form der Krisenbewältigung bei den meist aus den bäuerlichen Unterschichten stammenden Frauen.

Ein Vorbild für die bayerischen Ekstatikerinnen war die Südtiroler Adelige Maria von Mörl aus Kaltern, über die Nicole Priesching (115-141) berichtet. Durch den Briefwechsel mit Luise Beck, deren Einfluss auf die bayerische Kirchenpolitik Mitte des 19. Jahrhunderts Otto Weiß bereits 1983 herausgearbeitet hat, sind ihre Motive der Herz-Jesu-Verehrung, eucharistischen und Passionsfrömmigkeit sowie Jenseitsorientierung mitsamt den Sühnevorstellungen durch eigenes Leiden überliefert. Auf ihre Besucher, aus denen die Autorin den Mystik-Spezialisten Joseph von Görres, den Gründer der Gesellenvereine Adolph Kolping und die Aachener Ordensgründerin Klara Fey auswählt, übertrug sich dieses Selbstbild, dessen Wirkung durch priesterliche Vermittlung und Steuerung verstärkt wurde. Doch kann Priesching am Beispiel der Besucher der Mörl zeigen, dass der Rückzug in die Spiritualität keineswegs Weltflucht bedeutete, sondern gerade aktives Engagement provozieren half.

Die lange Dauer von Vorurteilen und Anschuldigungen zeigt der Beitrag von Owen Davies (143-161), der Hexereivorwürfen im England des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts nachgeht. Dabei handelt es sich um Verletzungen, die fast ausschließlich Frauen zugefügt wurden, von denen man annahm, sie hätten als Hexen gehandelt. Bekannt geworden sind diese Fälle durch "umgekehrte Hexenprozesse", in denen die "Hexenkratzer" zu Geldstrafen verurteilt wurden, die sie bereitwillig auf sich nahmen, weil sie durch ihre Handlung den Zauber gebrochen hätten. Davies kann zeigen, welche konkreten dörflichen Spannungen hinter den Vorwürfen standen und wie sich darin die Sozialstrukturen einer ländlichen Gesellschaft manifestierten.

Rhodri Hayward (163-179) schließlich legt dar, dass Besessenheitsvorstellungen sich auch nach dem Aufkommen der Biomedizin fortsetzten. In den Pfingstbewegungen und in spiritistischen Zirkeln wurden außergewöhnliche religiöse Zustände weiterhin wahr genommen. Hayward plädiert dafür, die Widerspiegelung christlicher und religiöser Vorstellungen in der Neurologie und Pathologie im Sinne gegenseitiger Befruchtung anzuerkennen, wofür allerdings die Forschung noch zu leisten ist.

Der Sammelband ist Ausdruck eines Forschungstrends, sich stärker den Randphänomenen von Religion zuzuwenden. Manche lieb gewordenen Paradigmen der Moderne geraten dadurch ins Wanken. Die rationale Deutung von Wirklichkeit muss zu allen Zeiten ergänzt werden durch einen scheinbar irrationalen Blick auf menschliche Beziehungen und ihre Offenheit für das Religiöse. Das große Wachstum pfingstlerischer Bewegungen und Freikirchen in allen Teilen der Welt und eine wachsende Unbefangenheit, göttliches Wirken und Handeln zu konstatieren, zeigen die Aktualität und Zukunftsoffenheit der für das 19. Jahrhundert analysierten "Wunderwelten".

Joachim Schmiedl