Rezension über:

Christine Mayr: Zwischen Dorf und Staat. Amtspraxis und Amtsstil französischer, luxemburgischer und deutscher Landgemeindebürgermeister im 19. Jahrhundert. Ein mikrohistorischer Vergleich (= PROMT. Trierer Studien zur Neueren und Neuesten Geschichte; Bd. 1), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2006, 434 S., ISBN 978-3-631-54183-8, EUR 56,50
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Kristin Kalisch
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Kristin Kalisch: Rezension von: Christine Mayr: Zwischen Dorf und Staat. Amtspraxis und Amtsstil französischer, luxemburgischer und deutscher Landgemeindebürgermeister im 19. Jahrhundert. Ein mikrohistorischer Vergleich, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2006, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 11 [15.11.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/11/11333.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Christine Mayr: Zwischen Dorf und Staat

Textgröße: A A A

In den letzten Jahren sind eine Reihe von Studien entstanden, die sich der Verwaltungspraxis mit mikroanalytischer Vorgehensweise annähern. Nach Studien zu den Landräten [1], Richtern und Beamten [2] so wie der bäuerlichen Oberschicht [3] wird nun die Arbeit der Bürgermeister in ihrer Gemeinde näher untersucht.

Christine Mayr reichte im WS 2003/04 ihre Dissertation an der Universität Trier ein, die im Rahmen des SFB 235 "Der Staat im Dorf: Der Wandel lokaler Herrschaftsstrukturen im Rhein-Maas-Raum während des Aufstieg des modernen bürokratischen Anstaltsstaates" entstanden ist. Hauptaugenmerk in ihrer Studie liegt bei der kleinsten Verwaltungseinheit, dem Bürgermeisteramt. Dabei steht das Agieren des Bürgermeisters in seiner Doppelrolle (double fonctionnaire) zwischen Staat und Gemeinde im Zentrum. Die Studie konzentriert sich auf die Amtspraxis und den Amtsstil des Bürgermeisters in seiner Gemeinde und will so die Ursachen und Faktoren der Politisierung des Bürgermeisteramtes aufzuzeigen.

Mayr nähert sich ihrer Fragestellung durch eine vergleichende Mikroanalyse an. Sie untersucht im Zeitraum zwischen 1815 und 1890 insgesamt acht Gemeinden in vier Ländern: Zwei in der preußischen Rheinprovinz, zwei in der bayrischen Pfalz, zwei im französischen Department Meuse und zwei im Großherzogtum Luxemburg. Bei der Auswahl der Gemeinden ging es darum, möglichst gleichartige Rahmenbedingungen zu gewährleisten. Diese wurden vom SFB 235 vorgegeben.

Um mit dem Vergleich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Amtspraxis und des Amtsstils zeigen zu können, werden unterschiedliche Quellenarten ausgewertet: zum einen die lokalen Bestände, wie Gemeinderatsprotokolle, Zeitungsberichte der Bürgermeister, sozialhistorische Quellen sowie die Finanzakten in den acht unterschiedlichen Gemeinden. Zum anderen berücksichtigt Mayr Korrespondenzen der Bürgermeister mit übergeordneten Verwaltungsebenen.

Mayr unterteilt ihre Untersuchung in drei Kapitel, deren erstes den sozialen Hintergrund der Bürgermeister im Rahmen ihrer Gemeinde gewidmet ist. Es interessieren lokale Herkunft, Familientradition, ökonomische Stellung, beruflicher Hintergrund, beruflichen Erfahrungen und das Alter der 14 französischen, 23 luxemburgischen, 17 pfälzischen und 16 rheinpreußischen Bürgermeister innerhalb des Untersuchungszeitraums. Mayr stellt die These auf, dass der soziale Hintergrund der Bürgermeister für den Amtsstil und die Amtspraxis relevant war. Als erstes Ergebnis hält Mayr fest, dass die Unterschiede zwischen den Untersuchungsgemeinden in Bezug auf das Bürgermeisteramt in einigen Bereichen erheblich waren. Besonders die rheinpreußischen Gemeinden, in denen bereits von einer hauptamtlichen Tätigkeit gesprochen werden konnte, hoben sich von den anderen Untersuchungsgemeinden ab.

Im zweiten Abschnitt steht die Amtspraxis im Vordergrund. Unter Amtspraxis versteht Mayr alle Handlungen, die der Bürgermeister in seiner Funktion als Amtsträger unternahm. Sie unterscheidet dabei das Verhalten der Bürgermeister in der alltäglichen Verwaltungspraxis einerseits zum Staat, also nach "außen" und andererseits zur Gemeinde, also nach "innen". Wie von der Autorin vermutet, wuchsen die Anforderungen an die Bürgermeister im 19. Jahrhundert. Dabei stiegen sowohl die Ansprüche vonseiten der Staaten, die sehr viel häufiger ausführlichere Berichte der Bürgermeister erwarteten, als auch die Ansprüche der Gemeindemitglieder, die ihre Vertreter genau in ihrer Arbeit beobachteten und im Falle der Unzufriedenheit auch von den Möglichkeiten Gebrauch machten, den Staat in Form von Beschwerden davon in Kenntnis zu setzen. Eine erfolgreiche Amtspraxis war gegeben, wenn sich der Bürgermeister in seine Doppelrolle einfügte und diese auch konsequent durchsetzte. "Gelang ihm beides, so stellte er in seiner Amtspraxis sowohl einen Vertreter des "Dorfes im Staat" als auch einen des "Staates im Dorf" dar" (274).

In einem dritten Kapitel widmet sich Mayr dem persönlichen Amtsstil der Bürgermeister und der Entwicklung desselben im 19. Jahrhundert. Amtsstil definiert Mayr als persönliche Prägung der Bürgermeister, welcher aus der jeweiligen Amtspraxis resultierte. Sie unterscheidet dabei verschiedene Typen von Bürgermeistern, abhängig vom jeweiligen Amtsstil: den verwaltungs- und staatsnahen Bürgermeister, den Bürgermeister, bei dem private und wirtschaftliche Interessen im Vordergrund standen, den "Hüter der Gemeindeinteressen" sowie den Bürgermeister ohne erkennbaren Amtsstil. Selbst wenn keiner der Bürgermeister einem der Typen vollständig gerecht wurde, so lassen sich doch Tendenzen feststellen. Den verwaltungs- und staatsnahen Bürgermeister findet man besonders im rheinpreußischen Territorium, während in den Winzergemeinden der Pfalz, in Luxemburg und in Frankreich bei den Bürgermeistern eher private und wirtschaftliche Interessen einen höheren Stellenwert inne hatten. Allerdings gab es in den Gemeinden dieser drei Länder auch den dritten Typ, also den "Gemeindehüter". Die Parallelität bei der Entwicklung der Bürgermeistertypen zeigt sich darin, dass in allen Varianten bis zum Ende des Untersuchungszeitraum eine Politisierung des jeweiligen Amtsstils stattgefunden hatte.

In der Schlussbetrachtung präsentiert Mayr zwei Ergebnisse. Erstens bilden sich Amtsstil und Amtspraxis im Laufe des 19. Jahrhunderts zunächst dahingehend aus, dass sich die Bürgermeister aller Gemeinden in ihrer gesetzlich festgeschriebenen Doppelrolle einfinden mussten, um auf Dauer erfolgreich in ihren Ämtern bestehen zu können. Ende des 19. Jahrhunderts fand darüber hinaus eine weitere Entwicklung statt: die Politisierung des Bürgermeisteramtes.

Weiterhin hält Mayr fest, dass Amtspraxis und Amtsstil nicht allein vom staatlichen Verwaltungssystem abhing, sondern dass vielmehr auch die Gemeinde einen nicht geringen Faktor darstellte. So waren es sowohl lokale Begebenheiten in den Gemeinden, als auch staatliche Vorgaben, die den Rahmen der Handlungsspielräume der Bürgermeister bestimmten.

Christine Mayr leistet mit ihrer Studie einen weiteren aufschlussreichen Beitrag zur Kulturgeschichte der Verwaltung und reiht sich damit nahtlos in die bereits bestehende Forschungsliteratur ein. Sie analysiert in einer detailreichen Arbeit die Amtspraxis und den Amtsstil in vier unterschiedlichen Ländern und bietet somit erstmals Einblicke in den Verwaltungsalltag eines Bürgermeister in seiner Gemeinde. Mithilfe des mikroanalytischen Vergleichs treten Ergebnisse zu Tage, die die prägenden Einzelfaktoren des Arbeitsalltags von Bürgermeistern deutlich und voneinander abgegrenzt zeigen. Die Tatsache, dass Mayr insgesamt acht Gemeinden mikroanalytisch untersucht hat, setzt voraus, dass sie nur einen Teil des vorhandenen Quellenmaterials auswerten konnte. Man hätte sich an der einen oder anderen Stelle gewünscht, dass die Kriterien dieser Auswahl deutlicher gemacht worden wären.


Anmerkungen:

[1] Christiane Eifert: Paternalismus und Politik. Preußische Landräte im 19. Jahrhundert, Münster 2003.

[2] Stefan Brakensiek: Fürstendiener - Staatsbeamte - Bürger. Amtführung und Lebenswelt der Ortbeamten in niederhessischen Kleinstädten (1750-1830), Göttingen 1999.

[3] Gunter Mahlerwein: Die Herren im Dorf. Bäuerliche Oberschicht und ländliche Elitenbildung in Rheinhessen 1700-1850, Mainz 2001; s. hierzu die Rezension von Fritz Dross, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 5, URL: http://www.sehepunkte.de/2002/05/2801.html.

Kristin Kalisch