Ronald Lambrecht: Politische Entlassungen in der NS-Zeit. Vierundvierzig biographische Skizzen von Hochschullehrern der Universität Leipzig (= Beiträge zur Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte. Reihe B; Bd. 11), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2006, 202 S., ISBN 978-3-374-02397-4, EUR 19,80
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Relativ spät haben die (west-)deutschen Universitäten mit der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit während des Nationalsozialismus begonnen. Seit dem Ende der 1970er Jahre sind zu diesem Thema wissenschaftliche Veröffentlichungen erschienen, und seit der Mitte der 1990er Jahre folgten entsprechende Publikationen in den neuen Bundesländern. Der erzwungene Exodus aus den deutschen Hochschulen, der zwischen 1933 und 1945 stattfand, ist allein von den Zahlen her erschreckend: Die sorgfältig recherchierte statistische Untersuchung, die Michael Grüttner und Sven Kinas Anfang 2007 herausgebracht haben [1] und die der Verfasser Ronald Lambrecht nicht mehr berücksichtigen konnte, ermittelte bei den deutschen Universitäten zwischen 1933 und 1945 eine Verlustquote von fast 20 Prozent, bei der kleinen Gruppe der Dozentinnen sogar von rund 44 Prozent. Dies geschah zu rund 80 Prozent aus rassenideologischen Gründen. Dabei gab es starke Unterschiede zwischen den einzelnen deutschen Hochschulen: Verloren die Universitäten in Berlin und Frankfurt/Main jeweils mehr als ein Drittel des Lehrkörpers, so lag dieser Prozentsatz bei Leipzig um 12 und bei Tübingen "nur" bei 4 Prozent. Grüttner und Kinas weisen zu Recht darauf hin, "dass die Massenentlassungen der Jahre 1933 bis 1935 die folgenreichste wissenschaftspolitische Maßnahme der Nationalsozialisten gewesen sind."
Die alte sächsische Landesuniversität Leipzig, die sich für das 600-jährige Jubiläum in 2009 rüstet, präsentiert in der Reihe "Beiträge zur Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte" mehrere zeitgeschichtliche Arbeiten. Dazu gehört auch Ronald Lambrechts Studie, die von Ulrich von Hehl betreut wurde. Der Verfasser schildert in seinen 44 Kurzbiografien (so genannten Biogrammen) von habilitierten Hochschullehrern, die zwischen 1933 und 1938 zwangsweise die Universität Leipzig verlassen mussten, eine dramatische wissenschaftlich-menschliche Entwicklung.
Die Arbeit fußt im Wesentlichen auf den Akten des Leipziger Universitätsarchivs, den Anfragen bei auswärtigen Institutionen sowie auf der einschlägigen erschienenen Literatur, darunter der Leipziger Dissertation von Michael Parak. [2] Das Schema der Lambrecht'schen Biogramme enthält neben einer Abbildung den biografischen Abriss, die Forschungsschwerpunkte, die wissenschaftlichen Leistungen, die Darstellung des zwangsweisen Ausscheidens aus der Universität sowie des weiteren Lebensweges des jeweiligen habilitierten Hochschullehrers. Die äußerst knappe, ein bis drei Seiten umfassende Darstellung pro Biogramm soll weniger der wissenschaftlichen Forschung als der Information einer breiten Öffentlichkeit dienen.
Anhand der Kurzbiografien wird - wie in anderen deutschen Universitäten - deutlich, wie gering Hitler selbst die Bedeutung der Hochschulen einschätzte, wie sehr stattdessen nach 1933 die polyzentrischen Elemente des NS-Staates und persönlich-egoistische Motivationen zulasten von jüdischen und/oder politisch unbequemen, habilitierten Wissenschaftlern wirkten. Dazu gehörten das 1934 errichtete Reichserziehungsministerium und das entsprechende Ministerium in Dresden ebenso wie die Hochschulkommission der NSDAP, der NS-Dozentenbund und der anfangs rabiate NS-Studentenbund. Der sächsische Gauleiter der NSDAP Martin Mutschmann setzte sich wiederholt persönlich für die Entlassung jüdischer Gelehrter in Leipzig ein.
Ausgangspunkt für die berufliche Verstoßung, die durch Entlassung, vorzeitige Emeritierung und ähnliche Zwangsmaßnahmen meist ohne Rücksicht auf die sozialen Folgen geschah, war das 'Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums' vom 7.4.1933. Aber bereits in den Wochen zuvor begann ein Sturm gegen missliebige Dozenten: So wurden auf Betreiben der NS-Studentenschaft der demokratisch engagierte Nationalökonom Gerhard Kessler und der Zeitungswissenschaftler Erich Everth, der sich für den Erhalt der Pressefreiheit ausgesprochen hatte, entlassen bzw. emeritiert. In den Jahren 1933 und 1934 wurden einige "nicht-arische" Wissenschaftler, die im Ersten Weltkrieg für ihr deutsches Vaterland gekämpft hatten, noch von der Entlassung bzw. Zwangsemeritierung - vorübergehend - verschont. Vereinzelte Einsprüche von Kollegen, darunter auch die des Physikers Werner Heisenberg, konnten die ideologisch bedingte Beendigung von Wissenschaftlerkarrieren und menschliche Tragödien nicht verhindern. Während des Krieges kamen 5 der entlassenen jüdischen Wissenschaftler ums Leben. In die Emigration wurden 24 der 44 entlassenen Hochschullehrer getrieben. Davon gingen 8 in die USA, 3 in die Niederlande und je 2 nach Schweden und in die Türkei. Unter den 44 Hochschullehrern befanden sich 7 Mediziner und 11 Naturwissenschaftler. Zu Letzteren gehörte der Physiker und Heisenberg-Schüler Felix Bloch, der 1952 den Nobelpreis erhielt.
Lambrechts konzis gearbeitete Arbeit ist ein weiteres trauriges Beispiel dafür, in welch großem Umfang sich ein Staat und eine Universität von hoch qualifizierten Wissenschaftlern aus rassischen oder politischen Gründen trennte und sich dabei wissenschaftlich und menschlich selbst langfristig beschädigten. Sie lädt zur weiteren Beschäftigung mit dem Phänomen des Nationalsozialismus' an der Universität Leipzig ein. Dabei soll ein Kritikpunkt nicht ausgeblendet werden, gerade weil sich die Leipziger Universität auch mit der Geschichte zweier Diktaturen beschäftigt: Leider hat der Verfasser auf eine Kritik seiner Quellen verzichtet. Er hat insbesondere die Frage nach der Vollständigkeit, Unvollständigkeit bzw. nach dem Fehlen (51) von Personalakten des Leipziger Universitätsarchivs nicht gestellt. Diese Frage hat im Fall der Universität Freiburg der Historiker Bernd Martin problematisiert, der bei seinen Recherchen über die Entlassung jüdischer Lehrkräfte an seiner Hochschule auffällig unvollständige Personalakten entdeckte. Er gab damit Ende der 1980er-Jahre Anstöße zur Novellierung des Landesarchivgesetzes von Baden-Württemberg. [3]
Anmerkungen:
[1] M. Grüttner / S. Kinas: Die Vertreibung von Wissenschaftlern aus den deutschen Universitäten 1933-1945, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55 (2007), Nr. 1, 123-186, Zitat auf Seite 151. Frankfurt verlor 128 (36,5 %), Berlin 278 (34,9 %), Leipzig insgesamt 47 (11,8 %) und Tübingen 8 (4,0 %) der Wissenschaftler; vgl. Seite 140. Die Autoren interpretieren das Zahlenmaterial nicht nur, sondern ergänzen es auch durch Kurzbiographien.
[2] M. Parak: Hochschule und Wissenschaft in zwei Diktaturen. Elitenaustausch an sächsischen Hochschulen 1933-1952, Köln 2004; s. hierzu die Rezension von Andreas Malycha, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 5 [15.05.2005], URL: http://www.sehepunkte.de/2005/05/7381.html .
[3] B. Martin: Die Entlassung der jüdischen Lehrkräfte an der Freiburger Universität und die Bemühungen um ihre Wiedereingliederung nach 1945, in: Schicksale: Jüdische Gelehrte an der Universität Freiburg in der NS-Zeit (= Freiburger Universitätsblätter; 129), Freiburg 1995, 7. Dort auch über den "Fall Heidegger".
Ekkehard Henschke