Franz-Josef Arlinghaus / Ingrid Baumgärtner / Vincenzo Colli u.a. (Hgg.): Praxis der Gerichtsbarkeit in europäischen Städten des Spätmittelalters (= Rechtsprechung. Materialien und Studien; Bd. 23), Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2006, VII + 492 S., ISBN 978-3-465-04007-1, EUR 89,00
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Der vorliegende Sammelband dokumentiert eine Tagung zur Praxis spätmittelalterlicher Gerichtsbarkeit, die das Frankfurter Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte gemeinsam mit dem Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte an der Universität Kassel im April 2004 organisiert hat. Wie die Herausgeber eingangs betonen, geht es ihnen nicht um gelehrtes Prozessrecht, sondern um Prozesspraxis, und nicht um Strafverfahren, sondern um streitige Gerichtsbarkeit, wobei der Schwerpunkt auf dem städtischen Raum liegt (VII). Die Einleitung von Ingrid Baumgärtner (1-18) umreißt dies genauer und skizziert die Zugriffe, mit denen die an der Organisation beteiligten Forscher sich dem gemeinsamen Thema genähert haben. In Kassel war dies vor allem eine von Luhmanns Klassiker "Legitimation durch Verfahren" angeregte Erforschung der Prozessabläufe, in Frankfurt Studien zur städtischen Gerichtsbarkeit in Mittelitalien und zum kirchlichen Prozesswesen im Spätmittelalter. Aus dieser Konstellation leitet sich die Offenheit des Bandes für unterschiedliche Fragerichtungen und theoretische Orientierungen ebenso ab wie die Fokussierung vor allem auf italienische und deutsche Städte, jedoch mit Seitenblicken auf andere europäische Regionen.
Die erste der vier Sektionen, denen die Einzelbeiträge zugeordnet sind, beschäftigt sich unter der Perspektive "Konkurrenz und Kooperation" mit der Pluralität der Gerichte vornehmlich im städtischen Raum. Am Beispiel des kommunalen Italien, in dem sich während des 12. Jahrhunderts auf den Ebenen der Stadtkommune, der ländlichen Herrschaft wie der verschiedenen kirchlichen Instanzen Gerichte neu institutionalisieren, verfolgt Giuliano Milani (21-45) die erfolgreiche Etablierung einer Suprematie der Stadtgemeinde über die anderen Träger der Gerichtsgewalt - einhergehend mit einer territorial gefassten Umschreibung ihrer Zuständigkeiten. Thomas Wetzstein (47-81) skizziert die Ergebnisse einer systematischen Durchsicht der Überlieferung zur geistlichen Gerichtsbarkeit in der Diözese Konstanz. Trotz der vielfach fragmentarischen Quellenlage ergibt sich das Bild eines bischöflichen Gerichts mit nachgeordneten lokalen Instanzen von erheblicher Bedeutung, das sich keineswegs in einem ständigen Ringen mit weltlichen Instanzen befand, sondern je nach Streitgegenstand für zuständig erachtet wurde. Frank Rexroth (83-109) geht in seinem Beitrag zu "Herrschaft, Recht und Kommunikation im spätmittelalterlichen London" von grundsätzlichen Überlegungen zur Kooperation zwischen Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte aus. Man dürfe die Spezifik von Rechtshandlungen nicht nivellieren, müsse andererseits aber Rechtspraktiken auch dann sozialgeschichtlich einbetten, wenn sich ein gelehrtes Recht etabliert habe, das sich vermeintlich allein aus inneren Antrieben heraus fortentwickelte. Auf dieser Basis vollzieht Rexroth am Beispiel der räumlichen Arrangements und der Verfahrensabläufe Londoner Gerichtsverhandlungen nach, wie obrigkeitlich propagierte Normen sowie das Verhältnis von Gemeinde und Rat erfahrbar gemacht wurden.
Eine zweite Abteilung des Sammelbandes verfolgt die Stellung von Gerichtsverfahren in Praktiken der Konfliktlösung. Sara Menzinger (113-134) macht auf die Rolle von Schiedsverfahren im städtischen Italien während des 12. und 13. Jahrhunderts aufmerksam. Hinter dem scheinbar identischen Verfahrensgang konnten sehr unterschiedliche Machtkonstellationen stehen, die nicht unbedingt von der Schwäche der politischen Strukturen zeugten. Vielmehr griffen die Kommunen seit ihrer Entstehung auf Schiedsverfahren zurück, um andere Herrschaftsträger zur Anerkennung einer gerichtsförmigen Entscheidung zu zwingen. In dasselbe Umfeld führt auch der Beitrag Massimo Valleranis (135-153), der sich der Ausprägung neuer Prozessabläufe vor den Kommunalgerichten widmet. Ähnlich wie in der theoretischen Literatur derselben Jahre lässt sich auch den überlieferten Prozessakten entnehmen, dass neben den Bezügen auf das römische Recht vor allem die neuen Verfahrensformen und der neue Umgang mit Beweismitteln eine Rechtspraxis prägten, die auf das Expertenwissen ausgebildeter Juristen angewiesen war. Franz-Josef Arlinghaus (155-186) überprüft die Pluralität von Gerichtsinstanzen im spätmittelalterlichen Köln auf ihre Funktionalität und fragt nach den Strategien, mit denen sich Konfliktparteien diese Vielfalt zunutze machten. Er formuliert die These, die von Luhmann postulierte Selbstbindung der Streitparteien an ein Gerichtsverfahren und die Selbstisolation von ihrem sozialen Umfeld sei in Köln vor allem dann erfolgt, wenn ein Konflikt von einem Gericht zum nächsten transferiert worden sei. In dieser Konstellation sei das Engagement Dritter erkennbar zurückgegangen, so dass nun die Parteien stärker als zuvor allein auf das Gericht verwiesen gewesen seien.
Mit den folgenden Beiträgen verschiebt sich der Fokus auf die Rolle gelehrter Juristen und geschulter Dokumentationspraktiker im spätmittelalterlichen Gerichtswesen: Susanne Lepsius (189-269) analysiert die Appellationsgerichtsbarkeit in Lucca während des 14. Jahrhunderts vor der Folie der spätmittelalterlichen gelehrten Diskussion über die Appellation. Neben den normativen Vorgaben wertet sie umfangreiche Prozessaufzeichnungen aus, um Instanzenzüge, Verfahrensabläufe sowie die Stellung der Richter in Berufungsverfahren zu rekonstruieren. Der Vergleich mit moderner Praxis ermöglicht es, die Spezifika der Luccheser Appellationsgerichtsbarkeit nicht nur von der zeitgenössischen theoretischen Diskussion abzuheben, sondern darüber hinaus grundsätzliche Funktionen der Eingrenzung gesellschaftlicher Konflikte durch ihre gerichtliche Behandlung in den Blick zu nehmen. Vincenzo Colli (271-303) befasst sich mit Techniken notarieller Dokumentation von Prozessakten in Zivilverfahren im Rahmen konkurrierender Gerichtsinstanzen im Florenz des frühen 14. Jahrhunderts. Auf diesem Weg trägt er dazu bei, Verfahrensabläufe im spätmittelalterlichen Italien nicht nur auf der Basis der Doktrin zu rekonstruieren, sondern die örtliche Praxis in den Blick zu nehmen. In einer umfangreichen Studie lotet Eberhard Isenmann (303-417) die Funktionen aus, die gelehrte Juristen in Gerichtsverfahren des Spätmittelalters übernahmen. Ihre Tätigkeit als Advokaten und Verfasser von Consilia trug wesentlich dazu bei, dass in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Prinzipien des neuen abstrakt-rationalen Rechtsdenkens zunehmend in die gerichtliche Praxis Eingang fanden.
Die letzte Sektion der Tagungspublikation thematisiert schließlich die Wechselwirkungen zwischen sozialen Rollen und rechtlicher Kommunikation. Gundula Grebner (421-443) misst das fiktive Bild des Judeneides, wie es im Frankfurter Passionsspiel um 1500 geboten wurde, an der gerichtlichen Praxis. In der Zusammenschau erfasst sie den Preis, den Juden für die Möglichkeit einer leidlich gesicherten sozialen Existenz zu zahlen hatten, wenn sie Angriffe auf ihre religiöse Identität ebenso erdulden mussten wie eine Ungleichbehandlung vor Gericht. Leah Otis-Cour (445-464) präsentiert mit ihren Überlegungen zum Auftreten von Frauen in Prozessen, die vor dem Parlament von Toulouse geführt wurden, Befunde, die nach eigenem Bekunden (463) an umfangreicherem Quellenmaterial verifiziert werden müssten. Frauen erscheinen als - relativ aktive - Minderheit in der südfranzösischen Gerichtspraxis. Sowohl ihre ökonomische und soziale Rolle als auch ihre Prozessrolle belegen eine erhebliche Selbständigkeit. Ins Grundsätzliche zielen die abschließenden Überlegungen von Neithard Bulst (465-489) zum "Richten nach Gnade oder nach Recht". Indem er die Applikation von Normen auf gesellschaftliches Handeln und vor Gericht sowie die Praxis des Gnadenbittens zusammenführt, kann er den Anachronismus einer Debatte aufzeigen, die von einer scharfen Alternative zwischen Recht und Gnade ausgeht. Vielmehr stehe beides im Zusammenhang komplexer Aushandlungsprozesse, durch die letztlich vor allem der gesellschaftliche Frieden wieder hergestellt werden sollte.
Der Band belegt die Fruchtbarkeit einer intensiven Kooperation unterschiedlicher Fachrichtungen. Die aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive abgefassten Beiträge nehmen durchweg die Eigenständigkeit juristischen Handelns in der Vormoderne ernst, die rechtshistorischen Texte beweisen ein klares Bewusstsein von den Spannungen zwischen Doktrin, Norm und Praxis und der Notwendigkeit einer sozial- und kulturhistorischen Einbettung rechtlicher Vorgänge. Dieser Befund stellt einen wichtigen Beitrag zu aktuellen Debatten dar, weil hier nicht der an wechselseitigem Verständnis orientierte Austausch vom Bemühen um Abgrenzung eigener Zuständigkeiten verhindert wird. Im vorliegenden Tagungsband erweist sich darüber hinaus das Innovationspotential einer von konkreten Problemstellungen und Überlieferungslagen ausgehenden methodischen und theoretischen Vielfalt, die nicht in eine 'Master-Theorie' gezwängt wird. Auch wenn in der Einleitung durchscheint, dass nach Ansicht der Herausgeber im Rückgriff auf die rund vierzig Jahre alte Verfahrenssoziologie Luhmanns besonders innovative Fragestellungen zu gewinnen sind, gehört gerade die Offenheit für unterschiedliche Zugriffe zu den Stärken des Sammelbandes.
Christoph Dartmann