Dirk Lukaßen: "Menschenschinder vor dem Richter". Kölner Gestapo und Nachkriegsjustiz. Der "Hoegen-Prozess" vor dem Kölner Schwurgericht im Jahr 1949 und seine Rezeption in den lokalen Tageszeitungen (= Ortstermine. Historische Funde und Befunde aus der deutschen Provinz; Bd. 17), Siegburg: Rheinlandia Verlag 2006, 99 S., ISBN 978-3-938535-14-1, EUR 11,80
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Die Justiz habe nach dem Zweiten Weltkrieg, stellten Winfried Garscha und Claudia Kuretsidis-Haider jüngst fest, nicht nur zur Bestrafung der Täter, sondern auch "hinsichtlich sozialer und politisch-pädagogischer Maßnahmen" der Öffentlichkeit gegenüber einen eminent wichtigen Beitrag geleistet. [1] Ein Blick auf die neuere Literatur [2] zeigt, wie aktuell die Frage nach postdiktatorischen Gesellschaftstransformationen im Allgemeinen und der Anteil der Justiz daran im Besonderen gegenwärtig ist. Uneinigkeit herrscht freilich in der Frage, wie historisches Wissen in Strafprozessen verarbeitet wird und wie sich diese Verarbeitung in der politischen Kultur, dem Geschichtsbewusstsein und dem kollektiven Gedächtnis niederschlägt. Während ein Teil der Forschung darin den Schritt zu einem höheren gesamtgesellschaftlichen Reflexionsniveau sieht, wollen andere Kommentatoren nur ein Elitenphänomen erkennen, weil die Mehrzahl der Menschen von der Auseinandersetzung im Gerichtssaal überhaupt nicht erreicht werde.
Die ursprünglich als Staatsexamensarbeit vorgelegte Studie von Dirk Lukaßen über den so genannten "Hoegen-Prozess" stößt in das Zentrum dieser Fragestellung vor. Das Verfahren von 1949 gegen fünf Männer der Kölner Gestapo verhandelte einen ganzen Komplex an Verbrechen - Folter, Aussageerpressung, Körperverletzung, z. T. mit Todesfolge -, die zwischen 1933 und 1944 an politischen Gegnern im Rheinland verübt wurden. Hinzu kommen ein BGH- und ein Revisionsverfahren. Lukaßen beleuchtet zunächst die institutionellen Rahmenbedingungen der Vergehen und ihrer Ahndung: Aufgaben und Strukturen der Gestapo einerseits, die strafrechtliche Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen (NSG) - und um diese geht es hier, nicht um "Kriegsverbrechen" oder "Kriegsverbrecherprozesse" (13, 24) - seitens alliierter und deutscher Instanzen andererseits. In seinem Hauptteil stellt er auf breiter Quellengrundlage die Verbrechen in Relation zu ihrer gerichtlichen Aburteilung und deren Rezeption in der Lokalpresse. Indem die Arbeit die öffentliche Wahrnehmung des Verfahrens einbezieht, erlaubt sie nicht nur Aussagen über den frühen justitiellen Umgang mit NSG, sie erhebt zugleich den Anspruch, Einblick in den öffentlichen Umgang der frühen Bundesrepublik mit NS-Tätern zu geben (9). Die Medien werden hierbei gleichermaßen als Spiegel und Lenker der öffentlichen Meinung begriffen (18). Das Verfahren ist zwar nicht "der" erste große NS-Prozess (91), aber zumindest einer der Ersten; dies ist umso dankbarer aufzunehmen, als die Forschung sich meist auf die großen NSG-Verfahren der 1960er- und 1970er-Jahre konzentriert, um über Leistungen und Versäumnisse der Justiz zu urteilen; und dies, obwohl 88 % aller NSG-Urteile bis 1952 gefällt wurden.
Klar schildert Lukaßen die Taten der Angeklagten, von denen Hoegen lediglich der bekannteste war und die höchste Strafe erhielt. Über den Einzelfall hinausgehend kommen Elemente zur Sprache, wie sie auch für spätere Verfahren typisch werden sollten: die Beurteilung der Angeklagten als im Privatleben "anständige Menschen" (55), die strafmildernd in das Urteil einfließen sollte; die Taktik der Täter, minder schwere, ohnehin erwiesene Fälle zuzugeben, während sie schwere Delikte leugneten (60); die Berufung auf den Befehlsnotstand (62); schließlich die zum Teil absurde Bewertung von Aussagen seitens des Gerichts, die Zeugen eher als aufschneiderisch, irrelevant oder vergesslich erscheinen ließ, denn als Opfer (71). Trotzdem kommt Lukaßen zu dem Schluss, dass das erstinstanzlich zuständige Schwurgericht in seinen "allgemeinen Ausführungen über die Verbrechen" die "Verwerflichkeit der Taten" eindeutig erkannt habe und zu einer "angemessenen" Beurteilung gekommen sei (63): Verantwortlichkeiten wurden klar benannt, die Berufung auf einen Befehlsnotstand wurde verworfen, fehlende Reue strafverschärfend gewertet. Das eigentliche Skandalon bestehe vielmehr in den Strafzumessungen, die sich durchweg nahe der vorgeschriebenen Mindeststrafen bewegten. Dabei hätte nicht einmal der Nachweis individueller Schuld geführt werden müssen: Als Verurteilungsgrundlage kam bis 1951 neben dem bundesdeutschen Strafgesetzbuch das Kontrollratsgesetz (KRG) Nr. 10 vom Dezember 1945 infrage, das "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" oder die Mitgliedschaft in "verbrecherischen" Organisationen mit bis zu lebenslänglicher Haft oder gar der Todesstrafe bedrohte. Im "Hoegen-Prozess" wurde zwar auf das KRG 10 explizit Bezug genommen, die Strafzumessung gründete sich de facto aber allein auf die wesentlich milderen deutschen Gesetze. Es gehört zu den Stärken der Arbeit, die Diskrepanz zwischen den (Ermittlungs-)Leistungen der Justiz einerseits und den de-facto-Strafen andererseits deutlich zu benennen. Lukaßen ordnet dies zu Recht in die gesamtgesellschaftliche Entwicklung ein, die geprägt war von dem Oszillieren zwischen Schuldanerkenntnis, Schuldverdrängung und Integration der Täter. Er untermauert diese These mit einem Blick in die Revisionsakten von 1950/51, die das Desinteresse der Staatsanwaltschaft deutlich zutage treten lassen, die - ursprünglich von ihr selbst geforderten! - Haftstrafen tatsächlich durchzusetzen. Leider versäumt es der Autor in diesem Zusammenhang auf die Diskussion hinzuweisen, in welchem Maß die Integration von Mitläufern und Tätern zu Akzeptanz und Stabilisierung der jungen Demokratie beigetragen hat.
Inwieweit die Ablösung des in der Hauptverhandlung tätigen Staatsanwalts vor der Revision die veränderte Verfolgungsintensität beeinflusste, bleibt offen. Die Bedeutung des biografischen Faktors wird freilich bereits durch den bloßen Hinweis auf den Amtswechsel und die zeitgleich zurückgezogenen Revisionsanträge der Staatsanwaltschaft evident.
In einem letzten Teil untersucht Lukaßen die Wahrnehmung der Verfahren in der örtlichen Presse. Die Auswahl der vier Tageszeitungen deckt das politische Spektrum von christdemokratisch bis kommunistisch ab. Grosso modo, so Lukaßens Fazit, stimmten die Zeitungen in Form und Inhalt der Berichterstattung überein: Sie verurteilten die Angeklagten, hatten eine - zumindest quantitativ - hohe Informationsdichte während der ersten Verhandlung und schwiegen zu BGH-Urteil, Revisionsverhandlung und (vorzeitiger) Entlassung der Angeklagten. Der Form nach waren die Beiträge meist sachlich und fanden sich im Lokalteil. Kommentare waren selten und dem prominentesten Angeklagten Hoegen wurde deutlich mehr Aufmerksamkeit zuteil als den Mitangeklagten. Lukaßen bestätigt mit diesen Erkenntnissen bisherige Forschungen. Inwieweit die kommunistische "Volksstimme" aus dem Rahmen fiel, bleibt offen. Indem der Autor die Berichte über verschiedene Delikte aneinanderreiht, kommt er zu unterschiedlichen Ergebnissen ohne eine These daran zu binden: Einmal dominiert auch bei diesem Blatt die Sachlichkeit (83), dann die Emotionalität (84), einmal wird intensiv kommentiert (84), dann wieder darauf verzichtet (81). Überhaupt kann die Medienanalyse nicht das Niveau des ersten Teils halten, weil Lukaßen zwar zu wichtigen Erkenntnissen kommt, auf deren Interpretation aber verzichtet: So stellt er fest, dass es praktisch keine Kommentare gibt, weist aber nicht darauf hin, dass die Presse sich mit diesem Verzicht um die Möglichkeit brachte, Defizite in der Strafzumessung aufzudecken und ihre selbst proklamierte Kontrollfunktion wahrzunehmen. Daneben deutet er an, dass die Angeklagten in den düstersten Farben gezeichnet werden ("grauenhafteste Methoden"; 79), unterlässt es aber, die medial entworfenen Täterbilder nachzuzeichnen. Einblicke in die gesellschaftlichen Wahrnehmungsmuster von Tätern kann er deshalb nur begrenzt geben. Die Schwäche in den medientheoretischen Überlegungen führt zudem zu einigen einseitigen Urteilen: Zwar wurde der Prozess in Köln intensiv rezipiert; darin aber "einen angemessenen Beginn im Umgang mit den NS-Verbrechen in der deutschen [...] Öffentlichkeit" (9; ähnlich 91) zu sehen, ist vorschnell, hätte doch eine Analyse überregionaler Zeitungen deren Ignoranz gegenüber dem Verfahren offenbart: die FAZ berichtete zweimal, die SZ einmal und die ZEIT gar nicht. Dass ein lokales, sich auch aus dem Sensationscharakter des Prozesses speisendes Interesse neben die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung trat, hätte aber zumindest in Betracht gezogen werden müssen. Damit wäre das weitgehende Verstummen der Presse während des BGH- und des Revisionsverfahrens nicht mehr (ausschließlich) als anbrechende "Zeit der Stille" (H. Lübbe) interpretiert worden, sondern auch als Verzicht auf eine Meldung, die eben nichts Sensationelles mehr hergab.
Dennoch handelt es sich bei der Fallstudie um einen guten Beitrag zu den frühen NSG-Prozessen. Indem Lukaßen die mediale Wahrnehmung in die Untersuchung einbezieht, wirft er ein Schlaglicht auf den Umgang einer lokalen Öffentlichkeit mit NS-Tätern und somit auf einen der Selbstvergewisserungsprozesse in der frühen Bundesrepublik. Viele Probleme der späteren NSG-Prozesse waren bereits in dieser Phase zu erkennen. Trotzdem, so zeigt die Studie eindrucksvoll, war eine intensive Verfolgung und angemessene Verurteilung der Taten möglich. Dass sie nur in Ansätzen gelang, hing ebenso von der von Kaltem Krieg und Wiederaufstieg der Bundesrepublik Deutschland geprägten Atmosphäre wie von den handelnden Personen ab.
Anmerkungen:
[1] Winfried R.Garscha / Claudia Kuretsidis-Haider: Die strafrechtliche Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen - eine Einführung, in: Thomas Albrich / ders. / Martin F. Polaschek (Hg.), Holocaust und Kriegsverbrechen vor Gericht. Der Fall Österreich, Innsbruck 2006, 11-25, hier 11.
[2] Norbert Frei (Hg.): Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006.
Jörg Zedler