Markus Schäfer: Staatliches Vorgehen gegen Arbeiterbewegungen und -organisationen im westlichen Ruhrgebiet zwischen Revolution und Sozialistengesetz (1850-1878), Trier: Kliomedia 2006, 381 S., ISBN 978-3-89890-106-2, EUR 38,00
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Die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung beinhaltet vielfältige Facetten, darunter die der spannungsgeladenen Interaktion mit dem Staat. Während die wirtschafts- und sozialpolitische Ebene dieser Beziehung dem Gegenstand inhärent ist, finden ordnungspolitische Gesichtspunkte und daraus resultierendes administratives Handeln jedoch vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Allenfalls grundlegende legislative Eingriffe wie preußisches Vereins- und Presserecht oder Sozialistengesetz wurden bislang systematisch abgehandelt. Weitergehende Einblicke in Kontext, Hintergründe und Reichweite staatlichen Handelns, insbesondere auf mittlerer und unterer Verwaltungsebene, bleiben damit verwehrt. So besteht durchaus hinreichendes Erkenntnisinteresse an einer Thematisierung ordnungspolitischer Gesichtspunkte der Arbeiterbewegung, wie es die vorliegende Untersuchung zu ihrem Ziel erklärt.
Den sachlichen Untersuchungsmaßstab setzt der Autor weit an und erklärt, vom örtlichen Vollzugsbeamten bis hin zur Ministerialbürokratie sämtliche Verwaltungszüge und außerdem Rechtsprechung und Presseberichterstattung einbeziehen zu wollen. Den Beginn des Untersuchungszeitraums setzt Schäfer mit der frühen Reaktionszeit ab 1850 an, den zeitlichen Abschluss bildet das Sozialistengesetz von 1878.
Dass Schäfer mit dem westlichen Ruhrgebiet ein auf mittlerer staatlicher Verwaltungsebene homogenes Untersuchungsgebiet wählt, ist nachvollziehbar. Im Hinblick auf Themenstellung und Untersuchungszeitraum ist allerdings anzumerken, dass sich im Ruhrgebiet während dieser Zeit nur vergleichsweise labile sozialistische Arbeiterorganisationen entwickelten, für die Sozialdemokratie galt das Industriegebiet auch nach der Jahrhundertwende noch als "der dunkelste Winkel Deutschlands". [1] Als ausschlaggebend hierfür ist das spezifische politisch-religiöse Milieu zu werten, insbesondere der ausgeprägte Katholizismus. Eine präzise Wirkungsanalyse staatlichen Eingreifens wird durch diese von Schäfer nicht weiter erörterten Rahmenbedingungen erschwert.
Eine Einordnung in den Literatur- und Forschungsstand unternimmt der Autor recht pauschal, indem er auf eine vermeintlich "ebenso zahlreich[e] wie vielschichtig[e]" Literaturlage verweist, lediglich für den christlichen Arbeiterverein in Essen konstatiert er eine bislang defizitäre Behandlung. (19 f.) Dabei wird freilich übersehen, dass neben zahlreichen Detailstudien nur wenige Gesamtdarstellungen über die Arbeiterbewegung im Ruhrgebiet vorliegen. Einige relevante Schriften, etwa die regionale Synthese Buschaks, die Abhandlung Bajohrs über die Sozialdemokratie in Essen oder die grundlegenden Studien Rohes zur politischen Kultur des Ruhrgebietes wurden von Schäfer nicht herangezogen. [2] Grundannahmen und Leitthesen der Arbeit werden ebenso wenig explizit herausgearbeitet wie ein methodisches Konzept; es verbleibt bei der Formulierung von Einzelfragen, etwa nach Handlungsmustern verschiedener Verwaltungsebenen.
Den darstellenden Teil leitet Schäfer mit einer Charakterisierung des Untersuchungsgebietes und der einschlägigen Rechtslage ein. Die nachfolgenden Kapitel sind chronologisch gegliedert: Reaktionszeit, Bergrechtsreformen, "Neue Ära" bis Gründung des Deutschen Reichs, Reichsgründung bis Sozialistengesetz. Die Binnengliederung ist primär an der Entwicklung der Arbeiterbewegung ausgerichtet. Berücksichtigung finden sowohl politische Ereignisse wie Wahlen als auch Konfliktsituationen wie Arbeitsniederlegungen. Ausführlich legt Schäfer in den einzelnen Kapiteln theoretische, personelle und ereignisgeschichtliche Aspekte von Arbeiterorganisationen dar.
Die inhaltliche Gewichtung dieser Gesichtspunkte geht dabei über das selbst gesetzte Maß, "für das Verständnis des staatlichen Handelns vonnöten" zu sein, weit hinaus. Vielmehr sind durch Gliederung und inhaltliche Gewichtung letztlich nicht Verwaltungs- und Rechtsgeschichte als eigentliche Gegenstände der Untersuchung, sondern Entwicklungsphasen der Arbeiterbewegung Struktur gebend. Hierin liegt eine Inkonsequenz, denn staatliches Handeln als erklärtes Leitthema der Studie wird marginalisiert. Das Agieren der oberen und mittleren Verwaltungszüge und der Vollzug vor Ort wirken in ihrer Darstellung situativ; übergreifende Strategien und Wandlungen der inneren Verwaltungsstrukturen bleiben in weiten Teilen ebenso unscharf wie die Rolle der Rechtsprechung für die Anwendung der von Schäfer eingangs erörterten Rechtsgrundlagen. So fällt eine regionale Wirkungsanalyse des preußischen Vereinsgesetzes von 1850 schwer, wenn dessen zeitgenössische Auslegung und praktische Anwendung nicht zusammenhängend, sondern in verschiedenen Kapiteln anhand immer neuer Einzelbefunde dargelegt wird.
Auch die Darstellung eines Akteurs wie des späteren Oberreichsanwalts Hermann Tessendorf in Kapitel VI.7 greift zu kurz, wenn diese im Kern auf wenige berufsbiografische Fragmente reduziert wird. Schäfer selbst räumt hier zudem ein, angesichts unzureichender Quellenlage keine qualifizierte Aussage über ein schärferes Durchgreifen der örtlichen Behörden unter dem Einfluss Tessendorfs abgeben zu können. Die detaillierte Quellenauswertung zur Entwicklung von Arbeiterorganisationen in Duisburg und Essen in dieser Zeit endet mit dem lapidaren Resultat, dass diese zum Zeitpunkt des von Tessendorf erwirkten Verbots des Zentralvereins der Sozialistischen Arbeiterpartei ohnehin nahezu bedeutungslos gewesen waren.
Andere Teile der Darstellung wirken schon deswegen abstrakt, weil wesentliche Rahmenbedingungen nur unzureichend einbezogen wurden, darunter der spezifisch starke Katholizismus der Region und mit ihm die starke Rolle der christlichen Arbeiterbewegung, die nur im Zusammenhang mit demografischen Rahmendaten kurze Erwähnung findet (35). Dies steht exemplarisch für das Defizit der Untersuchung, mangels stringenter Theorieannahmen und Methodik die zumeist detailgenauen empirischen Befunde nur unzureichend zueinander in Beziehung setzen zu können. Dieses Manko wird auch in der abschließenden "Schlussbetrachtung" nicht behoben, indem hier keine analytische Synthese unternommen wird, sondern in weiten Zügen lediglich Teile der Darstellung wiederholt werden. Das durchaus hohe Potenzial der Fragestellung kann der Autor mangels ausreichender theoretischer und methodischer Grundlagen der Arbeit somit nur in Teilen erschließen. Ein Verdienst der Studie mag in der zumeist detaillierten Darstellung von Entwicklungsphasen der Arbeiterorganisationen im westlichen Ruhrgebiet gesehen werden.
Anmerkungen:
[1] Dortmunder Arbeiterzeitung, 15.09.1907, zit. n. Bajohr (wie Anm. 2), 1.
[2] Willy Buschak: Gewerkschaftliche Organisierung. in: Wolfgang Köllmann u. a. (g.): Das Ruhrgebiet im Industriezeitalter. Geschichte und Entwicklung, Düsseldorf 1990, Bd. 1, 729-806; Frank Bajohr: Zwischen Krupp und Kommune. Sozialdemokratie, Arbeiterschaft und Stadtverwaltung in Essen vor dem 1. Weltkrieg, Essen 1988; Karl Rohe: Vom Revier zum Ruhrgebiet. Wahlen, Parteien, Politische Kultur, Essen 1986.
Christian Eiden