Rezension über:

Hans-Jürgen Becker (Hg.): Zusammengesetzte Staatlichkeit in der Europäischen Verfassungsgeschichte. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 19.3. bis 21.3.2001 (= Der Staat. Zeitschrift für Staatslehre und Verfassungsgeschichte, deutsches und europäisches öffentliches Recht; Beiheft 16), Berlin: Duncker & Humblot 2006, 297 S., ISBN 978-3-428-12249-3, EUR 46,00
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Rezension von:
Michael Rohrschneider
Historisches Seminar, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Michael Rohrschneider: Rezension von: Hans-Jürgen Becker (Hg.): Zusammengesetzte Staatlichkeit in der Europäischen Verfassungsgeschichte. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 19.3. bis 21.3.2001, Berlin: Duncker & Humblot 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 5 [15.05.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/05/12341.html


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Hans-Jürgen Becker (Hg.): Zusammengesetzte Staatlichkeit in der Europäischen Verfassungsgeschichte

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Der Tagungsband greift ein Thema auf, das in der Forschung seit den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts auf besonderes Interesse gestoßen ist. Gemeint sind die politischen und verfassungsmäßigen Strukturen, die Helmut G. Koenigsberger und John H. Elliott in den als "composite states" und "composite monarchies" bezeichneten frühmodernen Staaten vorgefunden haben. Diese zeichneten sich - vereinfacht gesagt - gerade dadurch aus, dass sie zwei oder mehrere Territorien unter der Herrschaft eines Monarchen vereinten. Dabei konnte es sich um zusammengesetzte Staaten handeln, deren einzelne Bestandteile jeweils gemeinsame Grenzen hatten, oder aber um solche, die sich aus Territorien zusammensetzten, die durch Meere oder andere Staaten voneinander getrennt waren. Die frühneuzeitliche spanische Monarchie und Brandenburg-Preußen sind die wohl bekanntesten Beispiele für letztgenannten Sachverhalt.

Die Zielrichtung des Sammelbandes geht insofern über die grundlegenden Studien Koenigsbergers und Elliotts hinaus, als der zeitliche Rahmen insgesamt gesehen nicht auf die Frühe Neuzeit beschränkt bleibt. Vielmehr wird die zeitliche Perspektive zum Teil bis in das 20. Jahrhundert und sogar bis in die Gegenwart ausgeweitet, so dass der ursprüngliche Ausgangspunkt, nämlich eine Typisierung der Gestalt des frühmodernen europäischen Staates, nicht mehr alleinige Bezugsgröße ist.

Die zehn Beiträge des Bandes befassen sich jeweils mit einem Fallbeispiel zusammengesetzter Staatlichkeit. Arno Buschmann (Salzburg) skizziert in seinem Aufsatz Wesen und Rechtsnatur der Verfassung des Heiligen Römischen Reiches vom Spätmittelalter bis zum frühen 19. Jahrhundert. Er kommt dabei zu dem eindeutigen Befund, dass das Reich in der Neuzeit ein "wirklicher Staat" (39) gewesen sei, wobei er Staatlichkeit als "eine dauerhafte rechtliche Organisation mit einem festen Bestand an Institutionen" (38) definiert.

In seinem Beitrag über den Deutschen Bund schildert Hans-Werner Hahn (Jena), dass die Bewertung des Bundes in der Forschung - ganz ähnlich wie im Fall des Alten Reiches - lange Zeit ausgesprochen negativ ausfiel, da er oftmals mit nationalstaatlichen Maßstäben beurteilt wurde. Hahn warnt jedoch davor, im Gegenzug zu idealisierenden Anschauungen über die von 1815 bis 1866 herrschende Form deutscher Staatlichkeit zu gelangen, denn Repressionspolitik und Defizite bei der politischen Partizipation zählen ebenso zur Geschichte des Bundes wie seine europäische Friedensfunktion.

Einen knappen Überblick über die Verfassung des Staates der Böhmischen Krone vom 14. bis zum 20. Jahrhundert gibt Karel Malý (Prag). Er betont, dass es sich bei der Böhmischen Krone nie um einen ethnisch (national und sprachlich) homogenen Staat gehandelt habe, sondern um ein Herrschaftsgebilde, dass sich aus sehr unterschiedlichen Teilen zusammensetzte. Seine Ausführungen, die thematisch eng mit der Geschichte der Habsburger verbunden sind, ergänzen sich sehr gut mit dem Beitrag von Wilhelm Brauneder (Wien), der ein breites Panorama der Habsburgermonarchie als zusammengesetztem Staat von ihren mittelalterlichen Ursprüngen bis ins 20. Jahrhundert entwirft.

Speziell der Frühen Neuzeit gewidmet sind die Beiträge von Simon Groenveld (Leiden) über die Republik der Vereinigten Niederlande, von Hans-Heinrich Nolte (Hannover) über das vorpetrinische Russland, von Ronald G. Asch (Freiburg im Breisgau) über die Stuart-Monarchie und von Peer Schmidt (Erfurt) über das spanische Reich. Den genannten Autoren gelingt es jeweils in überzeugender Manier, die Spezifika ihrer Fallbeispiele herauszuarbeiten und dem Leser einen lebendigen Eindruck von dem Facettenreichtum frühneuzeitlicher "composite states" zu vermitteln. Besondere Aufmerksamkeit darf in diesem Zusammenhang die spanische Monarchie beanspruchen. Sie ist zweifellos das Beispiel par excellence für einen frühneuzeitlichen zusammengesetzten Staat - einen Staat, für den die unterschiedliche Verfasstheit seiner einzelnen Bestandteile Kastilien, Aragón, Katalonien etc. von langfristiger Prägekraft war und dessen regionale Nationalismen zum Teil bis heute noch als ungelöste Probleme auf der politischen Agenda Madrids stehen.

Der wohl bekannteste Fall einer deutschen "composite monarchy" ist Brandenburg-Preußen. Helmut Neuhaus (Erlangen) schildert konzise die Genese des territorial ausgesprochen heterogenen Hohenzollernstaates. Seine Entstehung in der Frühen Neuzeit war maßgeblich davon geprägt, dass seine einzelstaatlichen Gegebenheiten allmählich durch tendenziell gesamtstaatliche Maßnahmen überlagert wurden. Dies lässt sich, so Neuhaus, vor allem in den Bereichen von Verwaltung und Militär, dann aber auch auf dem Gebiet der Gesetzgebung feststellen.

Im letzten Beitrag des Bandes zeigt Christian Hillgruber (Bonn) Perspektiven der künftigen Struktur des zusammenwachsenden Europas auf. Dieser Aufsatz unterscheidet sich thematisch sehr von den übrigen Beiträgen, wobei nach Ansicht des Rezensenten zu fragen ist, ob man nicht Äpfel mit Birnen vergleicht, wenn man die zusammengesetzte Staatlichkeit frühneuzeitlicher "composite states" in eine Reihe stellt mit der Gestalt des gegenwärtigen und zukünftigen Europas, das ja gerade nicht im Stile der frühmodernen Staaten durch den einheitsstiftenden dynastischen Faktor geprägt ist. Abgesehen von diesem Einwand grundsätzlicher Art leisten Hillgrubers Ausführungen einen aufschlussreichen Beitrag zu der aktuellen Frage nach dem Verhältnis der Europäischen Union zu ihren einzelnen Mitgliedstaaten. Sie bilden einen lesenwerten Abschluss des Sammelbandes, der das Verdienst hat, dass er die Frage zusammengesetzter Staatlichkeit in das Blickfeld der deutschsprachigen Forschung rückt.

In zweierlei Hinsicht ist allerdings Kritik anzumelden. Wünschenswert wäre es zum einen gewesen, wenn in einer Einleitung die wichtigsten Befunde der Beiträge in vergleichender Perspektive miteinander in Verbindung gesetzt worden wären. Dies ist leider nicht erfolgt. Somit bleiben die einzelnen Aufsätze doch weitgehend voneinander isoliert. Hinzu kommt, dass die ursprünglich vorgesehene Dokumentation der Diskussionen über die einzelnen Referate aufgrund von technischen Problemen nicht realisiert werden konnte. Gerade dies, so ist zu vermuten, wäre jedoch im Sinne einer inhaltlichen Synthese besonders ergiebig gewesen.

Zum anderen ist zu konstatieren, dass die vergleichsweise lange Differenz zwischen der Hofgeismarer Tagung im Jahr 2001 und dem Erscheinen des Sammelbandes im einen oder anderen Fall doch dazu geführt hat, dass der zu Grunde gelegte Forschungsstand inzwischen veraltet ist. Gerne hätte man zum Beispiel die Kontroverse zwischen Georg Schmidt und Heinz Schilling, um hier die profiliertesten Vertreter zu nennen, über die Staatlichkeit des Alten Reiches eingearbeitet gesehen. [1] Auch wäre es zweifellos gewinnbringend gewesen, die von Franz Bosbach in jüngerer Zeit geprägte Begrifflichkeit "Mehrfachherrschaften" für die frühneuzeitlichen "composite states" terminologisch und inhaltlich auf den Prüfstand zu stellen. [2] Diese Kritik soll jedoch nicht überdecken, dass der Sammelband eine Reihe von Befunden und Anregungen bereithält, die auf die zukünftige Forschung zweifellos befruchtend wirken werden.


Anmerkungen:

[1] Vgl. vor allem Heinz Schilling: Reichs-Staat und frühneuzeitliche Nation der Deutschen oder teilmodernisiertes Reichssystem. Überlegungen zu Charakter und Aktualität des Alten Reiches, in: Historische Zeitschrift 272 (2001), 377-395; Georg Schmidt: Das frühneuzeitliche Reich - komplementärer Staat und föderative Nation, in: Historische Zeitschrift 273 (2001), 371-399.

[2] Aufgegriffen ist das Konzept der Mehrfachherrschaft auch im jüngsten Sammelband zum Thema: Michael Kaiser / Michael Rohrschneider (Hg.): Membra unius capitis. Studien zu Herrschaftsauffassungen und Regierungspraxis in Kurbrandenburg (1640-1688), Berlin 2005, dazu die Rezension von Volker Seresse, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 3 [15.03.2006], URL: http://www.sehepunkte.de/2006/03/8410.html.

Michael Rohrschneider