Anna Bartl / Christoph Krekel / Manfred Lautenschlager u.a.: Der "Liber illuministarum" aus Kloster Tegernsee. Edition, Übersetzung und Kommentar der kunsttechnologischen Rezepte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005, 833 S., ISBN 978-3-515-08472-7, EUR 64,00
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Die Archive und Bibliotheken mittelalterlicher Klöster sind Hauptorte für die Sammlung des zeitgleich erarbeiteten und schriftlich niedergelegten Wissens theologischen, philosophischen, aber auch profanen Inhalts, wie Ackerbau und Viehzucht, Handwerk, Mineral-, Pflanzen- und Heilkunde sowie Anleitungen zur Herstellung von Arzneien und Kunstgegenständen. Dieses technologische Schriftgut ist vielfältigen Ursprungs; es kann in hauseigenen Scriptorien entstanden oder anderweitig verfasst, aber hauseigen kopiert oder schließlich anderswo hergestellt worden sein. Faszikel solcher Literatur wurden oftmals in einem Band zusammengefasst.
Eine solche Sammelhandschrift ist der Liber Illuministarum aus der Bibliothek des Benediktinerklosters Tegernsee, die aus Schriften acht verschiedener Schreiber besteht. Es ist die größte und wichtigste Sammelhandschrift zu den Themen Farbmittel, Malerei, Blattvergoldung, Buchbinderei, Bearbeitung von Glas, Elfenbein, Leder, Pergament und Horn. Zwischen 1460 und 1515 entstanden, gelangte es in der Folge der Säkularisierung in die Bayrische Staatsbibliothek und wurde dort unter der Nummer Cgm 821 inventarisiert. Das Werk wurde in seiner Bedeutung erst 1873 durch Ludwig Rockinger erkannt, aber bisher nie vollständig publiziert.
Das ist auch heute noch so, denn die vorliegende, von Experten vorbildlich kommentierte Edition und Übersetzung befasst sich nur mit den technologischen Rezepten, die die künstlerische Arbeit betreffen. Von den insgesamt 1356 Rezepturen sind hier also nur die 750 kunsttechnologischen ediert. Die verbleibenden 600 Texte (Kap. 5.3) sind aber immerhin, wenn auch nur in Kurzfassung, aufgeführt. Auch sie bieten eine nicht nur interessante, sondern oft auch vergnügliche Lektüre.
Das ausführliche Inhaltsverzeichnis ist sehr übersichtlich, legt die Grundstruktur der Ausgabe klar dar und erlaubt einen schnellen Zugang, auch auf kurze Kapitel und Beiträge.
In der \"Einleitung\" beschreibt das Autorenteam den Forschungsstand zu dieser Sammelhandschrift und die Ziele ihrer Edition. Es folgt ein lehrreiches Aperçu der \"Genese mittelalterlicher Rezeptliteratur\" (Kap. 2, Manfred Lautenschlager) sowie eine klar strukturierte Wertung des Liber \"als kunsttechnologische Quellenschrift\" (Kap. 3, Doris Oltrogge), die detailliert deren Aufbau diskutiert, das Problem von Theorie und Praxis erörtert, sowie seine Herkunft beleuchtet und Konkordanzen mit anderen Quellenschriften präsentiert, wie dem Straßburger, Amberger und Prager Manuskript.
Es folgen \"Kodikologische Angaben zur Handschrift\" (Kap. 4, Manfred Lautenschlager), eine eindrückliche archiv-terminologische Beschreibung der Machart und Komposition des Torso des \"Liber illuministarum pro fundamentis auri et coloribus ac consimilibus collectus ex diversis\", wie das Liber auf seinem Pergamenteinband bezeichnet ist, das \"heute als Torso mit schon in alter Zeit herausgetrennten Lagen am Anfang erhalten ist\"(49). Am Anfang des Bandes fehlen vier Lagen; das entspricht 48 fehlenden Blättern.
Dann beginnt der Einstieg ins Liber selbst (Kap. 5): Auf 370 Seiten findet sich linksseitig der originale Text, rechtsseitig die Übersetzung; dort ist jedes Fachwort mit einem hochgestellten \"G\" versehen, ein Hinweis darauf, dass es im angehängten 60-seitigen Glossar (Kap. 7) aufgeführt ist und dort weitere Information und Verweise zu finden sind. Auf jeder Seite stehen unten die respektiven Kommentare mit fett annotierten Nummernverweisen und unterhalb dieser Kommentare die Fußnoten, was dem Leser ein ermüdendes Vor- und Zurückblättern erspart.
Eine schöne Zugabe zu diesem genau recherchierten und sorgfältig ausformulierten Werk ist, dass seine Herausgeber eine Reihe \"technologischer Kommentare\" geschrieben haben, gruppiert nach Techniken und Material. Diese verdienen es, aufgelistet zu werden: Metallauflagen (Anna Bartl), Farbmittel (Doris Oltrogge), Bindemittel (A.B.), Maltechnik, Textausstattung (beide A.B. und D.O.), Schwarze Tinten (Christoph Krekl), Leder, Wachsfärbung (beide D.O.). Diese Kommentare präsentieren die Resultate von Textvergleichen auch mit neuerer Literatur. Dies ist bedeutsam, da früher verwendete Benennungen nicht zwangsläufig mit heutigen Termini identisch sind. Die Terminologie hat sich besonders auf Grund erweiterter biologischer, aber auch chemischer und physikalischer Kenntnisse und technischer Erfahrungen gewandelt. Aus der Einleitung geht hervor, dass Rezepturen aus dem Liber im Labor nachgestellt worden sind (16). Aus den an gleicher Stelle mit \"Fachkommentaren\" bezeichneten Texten geht aber nicht hervor, um welche Rezepturen es sich dabei handelt, was diese Rekonstruktionen ergaben und wo diese Erfahrungen in die \"technologischen Kommentare\" eingeflossen sind: Die werkinterne Terminologie sollte eindeutig sein.
Neben dem bereits erwähnten, ausführlichen Glossar besteht der wissenschaftliche Apparat aus einer Aufstellung der Maße und Gewichte, die zur Zeit der Niederschrift an den verschiedenen Orten Verwendung fanden, eine ausführliche Bibliografie, sowie vier Register, eines für den lateinischen Wortschatz des Liber und eines für die deutsche Übersetzung, sowie je eines für Sachbegriffe und Namen.
Der zur Verfügung stehende Platz erlaubt nur eine die Methodik, Präzision und Präsentation kritisch abschätzende Darstellung dieser mustergültigen Herausgabe des Liber, aber keine detaillierte Textkritik. Ich glaube aber, dass sich die Autoren vor einer solchen kaum zu fürchten brauchen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft, Thomas Brachert und das Germanische Nationalmuseum (GNM) haben dieses Forschungsprojekt zu Recht großzügig unterstützt und sein Resultat, das hier zur Diskussion stehende Buch, als Band 8 in die Reihe der Veröffentlichungen des Instituts für Kunsttechnik und Konservierung des GNM aufgenommen.
Diese nach neusten Gesichtspunkten und Kriterien erfolgte Edition einer technologischen Quellenschrift zu Malerei und kunsthandwerklichen Techniken ist ein Vorbild und eine Illustration dessen, was die ICOM-CC-ATSR (Arbeitsgruppe Art Technological Source Research) als generellen Standard anstrebt. Hoffentlich folgen bald ähnlich qualifizierte Editionen anderer deutscher und europäischer Quellenschriften zu künstlerischen Techniken. Das wäre ein Europäisches Corpus maltechnischen Schriftguts wohl wert.
Anmerkung:
Diese Rezension wurde ursprünglich für RESTAURO geschrieben und dort in Heft 3/2007, 158-160 publiziert.
Hans-Christoph vom Imhoff