Rezension über:

Ulrike Wolff-Thomsen: Die Wachsbüste einer Flora in der Berliner Skulpturensammlung und das System Wilhelm Bode. Leonardo da Vinci oder Richard Cockle Lucas?, Kiel: Verlag Ludwig 2006, 279 S., ISBN 978-3-937719-42-9, EUR 38,90
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Tanja Baensch
Deutsches Forum für Kunstgeschichte, Paris
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Tanja Baensch: Rezension von: Ulrike Wolff-Thomsen: Die Wachsbüste einer Flora in der Berliner Skulpturensammlung und das System Wilhelm Bode. Leonardo da Vinci oder Richard Cockle Lucas?, Kiel: Verlag Ludwig 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 10 [15.10.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/10/12076.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Ulrike Wolff-Thomsen: Die Wachsbüste einer Flora in der Berliner Skulpturensammlung und das System Wilhelm Bode

Textgröße: A A A

Wohl kaum eine Museumserwerbung während des wilhelminischen Kaiserreichs hat so viel öffentliches Aufsehen erregt wie diejenige der Wachsbüste einer Flora durch Wilhelm Bode für die Berliner Skulpturensammlung im Juli 1909. Allein im Laufe der darauf folgenden zwei Jahre erschienen über 700 Artikel und Aufsätze in der internationalen Presse und in kunsthistorischen Fachorganen. Ihr Inhalt drehte sich im Kern um die so genannte "Echtheitsfrage": War die Büste - wie von Bode behauptet - ein Werk von Leonardo da Vinci beziehungsweise dessen Umkreis oder stammte sie von dem englischen Wachsbildhauer Richard Cockle Lucas aus der Mitte des 19. Jahrhunderts? Handelte es sich um die sensationelle Erwerbung des Werkes eines Künstlergenies der Renaissance, die die Berliner Museen in ihrem Bestreben auf eine kulturelle Vormachtstellung voranbringen und ihre Handelsperspektiven verbessern konnte, oder nicht? Hatte Wilhelm Bode mithin eine richtige oder falsche Ankaufsentscheidung getroffen?

Die Kieler Kunsthistorikerin Ulrike Wolff-Thomsen hat in ihrem Buch diese Pressefehde, ihre spektakulären Ausmaße und ihre Hintergründe untersucht. Sie kommt zu dem Schluss, dass sie als "'Glücksfall' für die Analyse des 'Systems Bode'" anzusehen ist, in dessen Zusammenhang die Büste ihre eigentliche Bedeutung erhält. Dieses "System Bode", ein 1910 von Karl Voll geprägtes Schlagwort, basierte nicht allein auf Bodes viel beschworener Kennerschaft, sondern auf einer marktrelevanten Wissensmacht, die Bode im Zusammenwirken mit einem auf ihn zentrierten, weit reichenden Netzwerk aus Agenten, Händlern, Sammlern und Kollegen, aber eben auch Journalisten und Publizisten entwickeln konnte und die er für die Berliner Museen nutzbringend einzusetzen wusste. Gegenleistungen verschiedener Art erlaubten ihm, über einen inoffiziellen Erwerbungsetat zu verfügen, der konstitutiv für die Entwicklung der Museen wurde. Das Netzwerk erwies sich als stark genug, um mithilfe öffentlichkeitswirksamer oder protektionistischer Methoden Zweifel an Bodes "Unfehlbarkeit" abzuwehren - der Streit um die Florabüste lieferte den besten Beweis dafür.

Ulrike Wolff-Thomsen hat ihre Arbeit sehr klar gegliedert: In der ausführlichen Einleitung legt sie die Grundlagen für die weitere Untersuchung: Sie beschreibt zunächst die Ausgangssituation des Ankaufs, verortet ihren neuen Ansatz in der bisherigen Forschung und entwickelt ihre Fragen und Methode. Zur Einführung stellt sie die wichtigsten Presseorgane vor, gibt eine genaue Beschreibung der Büste und reflektiert die Motive Bodes für den Ankauf der Büste zu dem gegebenen Zeitpunkt.

Im Hauptteil, der über die Hälfte des eigenen Textes ausmacht, widmet sich die Autorin der chronologischen Rekonstruktion der Pressefehde im Wesentlichen bis Januar 1911, im Ausblick noch bis 1930. Das Ziel dabei ist es, den Strategien der Argumentationsführung auf diese Weise auf die Spur zu kommen. Fast in der Art einer gerichtlichen Beweisaufnahme spürt sie allen Veränderungen in der öffentlichen Debatte nach, informiert anhand der Presseberichte über den Fortgang der naturwissenschaftlichen und kunsthistorischen Untersuchungen, prüft die Schlüssigkeit neu eingebrachter Indizien, erläutert Bodes Reaktionen auf den Streit mit Mitteln des Museums und richtet ihr Augenmerk auf die polarisierende Wirkung des Streits in der Öffentlichkeit, insbesondere der kunsthistorischen Fachwelt.

Auf der Grundlage dieser Befunde versucht die Autorin zu einer Aussage darüber zu gelangen, wer die Büste geschaffen hat: Eine Vielzahl der Argumente spricht heute für eine Zuschreibung an Richard Cockle Lucas, auch wenn sich nicht alle Fragen klären lassen. Dies ist für die Autorin aber auch nicht das Entscheidende. Wichtiger ist die Bedeutung der Büste im "System Bode", dem das abschließende Kapitel gewidmet ist. Aus der inneren Logik dieses Systems vollzieht Wolff-Thomsen Bodes Verhalten bezüglich der Flora-Büste nach und erläutert seine Methoden zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung.

Im Resümee gelangt sie zu dem Schluss, dass die Zuschreibung an Leonardo aus Bodes Perspektive gehalten werden musste; der Preis wäre zu hoch gewesen, das System Bode aus den Fugen geraten zu lassen. Abgerundet wird die Arbeit durch einen Anhang, in dem die wichtigsten Quellen abgedruckt sind. Die Bibliografie zur Flora-Büste, in dem alle erreichbaren diesbezüglichen Publikationen chronologisch aufgenommen sind, macht die Abhandlung vollends zu einem unersetzlichen Grundlagenwerk ihrer Thematik.

Zweifellos hat Ulrike Wolff-Thomsen mit ihrer mühevollen Auswertung hunderter veröffentlichter Beiträge und ihrer akribisch nachzeichnenden Rekonstruktion der Pressefehde eine Forschungslücke geschlossen und damit eine wichtige Grundlage dafür geschaffen, sich einiger in der Wissenschaft fortlebender Mythen über den Flora-Streit zu entledigen. Dabei weiß sie sehr genau die jeweils für den Fortgang der Debatte wichtigen Details herauszuarbeiten. Neu ist ebenfalls, dass sie den Streit in den eigentlich relevanten Kontext setzt. Über bestimmte Wirkungsmechanismen von Bodes Arbeitsweise wurde in der Forschungsliteratur inzwischen schon häufiger geschrieben; Wolff-Thomsen bringt sie jedoch noch einmal unter dem Stichwort "System Bode" mit seltener Prägnanz auf den Punkt.

Verschiedene Lektürewege des Buches sind möglich: Denjenigen, die sich die Pressefehde in allen Indizien chronologisch vor Augen führen möchten, sei empfohlen, sich dem Stoff möglichst ohne Unterbrechung zu widmen; sonst besteht leicht die Gefahr, sich in den Verästelungen der Beweisführung zu verlieren. Dies liegt auch daran, dass sich die Autorin streng an ihre anfangs begründete Methode einer chronologischen Vorgehensweise hält, wodurch an manchen Stellen inhaltliche Vor- und Rückgriffe notwendig und einige Informationen erst spät gegeben werden. Ein Blick in die Fußnoten kann zum Teil interessante Zusatzinformationen bieten, etwa die Haltung Alfred Lichtwarks oder Georg Swarzenskis im Streit um die Büste.

Die Leser haben aber durchaus auch die Möglichkeit, anhand des Resümees im "Fazit" einen Überblick über die Pressefehde zu gewinnen. Es führt auf den Kern der Argumentation zu. Auf diese Weise entgehen ihnen allerdings die zum Teil verblüffend unverfrorenen Argumente der Debatte, eine Reihe interessanter Hinweise, etwa dass die Florabüste in der Kunstgeschichte das erste plastische Werk war, das geröntgt werden sollte, ganz abgesehen von amüsanten Stilblüten aus zeitgenössischen Artikeln, die einmal mehr den Unterhaltungswert der deftigen Zeitungssprache jener Zeit belegen.

Wolff-Thomsen hat mit ihrer Untersuchung zu der Flora-Büste einen wichtigen Beitrag gleichermaßen zur institutions- und wissenschaftsgeschichtlichen Forschung innerhalb der Kunstgeschichte geleistet. Gerade in der Pressefehde um die Büste begegneten sich die gegenläufigen Ansprüche eines ambitionierten Museumswesens in der aufstrebenden Reichshauptstadt und diejenigen des in der Professionalisierung begriffenen Fachs Kunstgeschichte, das sich zwar insgesamt einer neuen Wissenschaftsethik verpflichtet fühlte, aber aufgrund heftiger methodischer Auseinandersetzungen gespalten war. Somit bildet der Florastreit einen Kristallisationspunkt, an dem sich geltende Strukturen der Kunstgeschichte um 1900 offenbarten und unter Beweis stellen mussten.

Tanja Baensch