Rezension über:

Peter Walkenhorst: Nation - Volk - Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890-1914 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 176), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, 400 S., ISBN 978-3-525-35157-4, EUR 49,90
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Rezension von:
Björn Hofmeister
Department of History, Georgetown University, Washington, DC
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Björn Hofmeister: Rezension von: Peter Walkenhorst: Nation - Volk - Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890-1914, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 10 [15.10.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/10/12458.html


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Peter Walkenhorst: Nation - Volk - Rasse

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Die Formierung eines neuen Typus nationalistischer Agitationsvereine im Kaiserreich der 1890er-Jahre beschäftigte nicht nur die Zeitgenossen, sondern auch seit jeher die Geschichtswissenschaft. Studien zum Alldeutschen Verband, Ostmarkenverein, Verein für das Deutschtum im Ausland und dem Flottenverein liegen vor allem für die Zeit bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges weitestgehend vor. Interessant scheinen daher vornehmlich analytische Darstellungen für die Folgejahre des relativen Bedeutungsverlustes im Gefolge einer neuen Formierung des radikalen Nationalismus in der Weimarer Republik zu sein, der sich einem neuen politischen Stil von Freikorps und nationalsozialistischer Bewegung zu stellen hatte.

Insofern mag es auf den ersten Blick überraschen, dass nun Peter Walkenhorst mit seiner Bielefelder Dissertation eine Interpretationsgeschichte "der radikalen Nationalisten" vorgelegt hat, die erneut die Formierungsjahre jener Organisationen von 1890 bis 1914 in den Blick nimmt. Möchte man sich auch einen Blickwinkel zumindest bis 1918 gewünscht haben, so gelingt Walkenhorst schließlich eine sehr interessante Analyse. Das Thema hat in den letzten Jahrzehnten zu vielfältigen Kontroversen über die parteipolitische Unabhängigkeit dieser Vereine im Rahmen traditioneller "Honoratiorenpolitik", über deren soziale Reichweite und schließlich über die weltanschaulichen Motivlagen der Mitglieder eingeladen, die Walkenhorst alle souverän vorstellt und zuweilen kritisch aufgreift, um ein synthetisierendes Bild aus Bielefelder Sicht anzubieten.

Auf die neuere Nationalismusdebatte verweisend, die den konstruktivistischen und somit "imaginierten" Bedeutungsgehalt von nationalen Bezügen betont, fragt der Autor nach den kulturellen Grundlagen und Praktiken eben jener Diskussionszusammenhänge, in denen sich die nationalistischen Vereine gründeten und in denen sie wirkten. Walkenhorst konzentriert sich zwar auffällig auf den Alldeutschen Verband. Jedoch ist er mit seiner generalisierenden Zusammenschau von Ideologie, politischer Praxis und gesellschaftlicher Reichweite der radikalen Organisationen erfolgreich, weil der Alldeutsche Verband in der Tat als überparteilicher, wenngleich den Nationalliberalen und Konservativen nahe stehender Verein agierte, der aufgrund seiner vielfältigen Querverbindungen und seiner Vielzahl an Forderungen gleichsam im Zentrum des radikalen Milieus wirkte.

Nach einer theoriegeleiteten Einführung folgt im ersten Kapitel eine Darstellung der Entstehungsbedingungen der nationalistischen Vereine. Betont werden hier die Auswirkungen von Reichsgründung und Funktionswandel des Nationalismus unter Bismarck, welche die Antwort auf die Frage nach der Saturiertheit des Deutschen Reiches im Hinblick auf dessen staatsterritoriale Umgrenzung für die Gründungsmitglieder der nationalistischen Vereine eher offen ließen. Walkenhorst führt die Diskussionen um die Zusammenfassung aller ethnisch und kulturell definierten Deutschen schließlich zusammen mit der wachsenden Kolonialbegeisterung der 1880er-Jahre und forcierten Forderungen nach einer kolonialen wie kontinentalen Weltpolitik. Die innenpolitischen Verschiebungen im Gefolge des Aufstiegs der Sozialdemokratie seit 1890 und der weitere umwälzende Weg Deutschlands zur kapitalistischen Industriegesellschaft gaben schließlich zusätzlichen Anlass für kulturkritische Stimmen im bildungsbürgerlichen und mittelständischen Lager, das das soziale Rekrutierungsfeld für die Mitglieder der radikalen Vereine bot.

Das zweite Kapitel ist den "semantischen, diskursiven und politischen Konstruktionen radikalnationalistischer Deutungsmuster" gewidmet, die sich auf die Begriffsmuster Rasse, Volk und Nation bezogen. Sozialdarwinistische und biologistische Ordnungsvorstellungen werden als zentrale ideologische Denkstile herausgearbeitet, die das Bild von deutscher Gemeinschaft als "Volkskörper" präsentierten und als "semantischer Code" schließlich zu Ab- und Ausgrenzungsforderungen gegenüber Minderheiten führten. Nicht der Staat fungierte in diesem Weltbild als zentrale Kategorie, sondern Homogenitätsvorstellungen ethnisch-kultureller Zugehörigkeit innerhalb eines geografischen Raumes. Walkenhorst betont jedoch, wie sehr diese Utopien flexibel oder "polyvalent" gebraucht wurden. Eben jene Dynamik der Binnenrationalität, die zunehmend vom kulturellen Leitbild zur biologistischen Abstammung führte, ermöglichte Vorlagen für den Nationalsozialismus und auch eine, wenngleich oftmals konfliktreiche Anpassung der radikalen Vereinigungen über das Ende des Kaiserreichs, aber auch über das Jahr 1933 hinweg. Walkenhorst gelingt eine spannende Bezugnahme auf politischen Stil, Weltanschauung und Männlichkeitsauffassung innerhalb der radikalen Vereinigungen. Eine "heroische Lebensauffassung" unterstützte die Gleichsetzung von Kampf und Krieg in der politischen Sprache der Vereine. Der politische Weg von einer solchen anthropologisierenden Weltanschauung zur Forderung nach Ausschluss von "Fremdvölkischem" war kurz und dominierte auch weitgehend die Debatten um das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913.

Die Erzählung im dritten Abschnitt folgt den neuen Diskussionen um die innenpolitischen und kulturellen Rückwirkungen von transnationalen Entwicklungsprozessen wie Welthandel, Migration, Kolonialismus und imperialistischer Rivalität zwischen den Weltmächten. Alldeutsche Diskussionen um deutschdominierte Wirtschaftsräume in Mitteleuropa entsprachen zeitgenössischen Ansätzen von geografischen Raumbezügen und Weltreichslehren. Jedoch gewann die Forderung nach Expansion innerhalb Europas nach den beiden Marokko-Krisen 1905 und 1911 neues Gewicht, da der deutschen Überseekolonialisierung sichtbare Grenzen gesetzt waren. Zunehmend wurden auch die außenpolitischen Handlungsspielräume in Folge neuer Allianzgefüge immer enger und der Ruf nach einem militärischen Befreiungsschlag wurde immer lauter in der Hoffnung, dass eine gemeinsame Kriegsanstrengung die zunehmenden Demokratisierungseffekte umkehren und gleichzeitig dem Deutschen Reich die völkische Utopie einer ethnisch-kulturellen Homogenisierung nach der Niederwerfung Russlands, Großbritanniens und Frankreichs gelingen würde.

Im vierten Kapitel geht Walkenhorst auf das innenpolitische Wirken radikaler Vereine ein und konzentriert sich auf die antipolnische Innenpolitik gegenüber fast dreieinhalb Millionen Polen im Reich und die Durchsetzung des Antisemitismus als gedachte "Codierung" zur radikalen Definition von Juden als "Fremdkörper" im "Volkskörper". Gerade jedoch der Antisemitismus, der am Vorabend des Weltkrieges in den alldeutschen Diskussionen an Gewicht gewann, war unterschiedlichen Bewertungen ausgesetzt, so dass Walkenhorst zu Recht wiederholt betont, wie sehr radikaler Nationalismus und Antisemitismus vor allem im Verlauf des Ersten Weltkrieges zusammenfanden.

Abschließend verweist Walkenhorst mittels des kursorischen Vergleichs auf die Parallelität bestimmter Radikalisierungstendenzen und Modernisierungsängste im bürgerlichen Milieu Frankreichs, Österreichs und Großbritanniens, um den deutschen Radikalismus der wilhelminischen Epoche in europäische Gesamtzusammenhänge einzuordnen, ohne jedoch die Folgen des "radikalen Ordnungsdenkens" der deutschen Organisationen für die Entwicklung des Nationalsozialismus zu verharmlosen. [1]

Peter Walkenhorst legt mit seiner Analyse zur Weltanschauung und politischen Praxis radikal-nationalistischer Verbände im Wilhelminischen Kaiserreich eine gelungene Studie vor, die sich souverän auf dem derzeitigen Stand der modernen Nationalismusforschung bewegt. Wie sich die verschiedenen Verbände nach 1914 bis hin zum Nationalsozialismus dynamisierten, bleibt weiteren Studien vorbehalten, für die Walkenhorst jedoch eine anregende analytische Zusammenfassung der Vorkriegsjahrzehnte geliefert hat. Walkenhorsts Verweis auf den Ansatz der "kumulativen Radikalisierung"[2], den Hans Mommsen für die nationalsozialistische Vernichtungspolitik prägte, wird sich für Folgestudien als analytische Herausforderung verstehen lassen.


Anmerkungen:

[1] Siehe zum Begriff Lutz Raphael: Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft. Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime, in Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), 5-40.

[2] Siehe Hans Mommsen: Der Nationalsozialismus. Kumulative Radikalisierung und Selbstzerstörung des Regimes, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 16, München 1976, 785-790.

Björn Hofmeister