Thomas Hildebrandt: Neo-Mu'tazilismus? Intention und Kontext im modernen arabischen Umgang mit dem rationalistischen Erbe des Islam (= Islamic Philosophy, Theology and Science. Texts and Studies; Vol. LXXI), Leiden / Boston: Brill 2007, viii + 564 S., ISBN 978-90-04-15099-7, EUR 185,00
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Als genuin islamische oder arabische Repräsentanten von rationalen und somit fortschrittlichen Denkmustern und Traditionen haben im Diskurs moderner arabischer Intellektueller zwei Schlagwörter große Prominenz: "Averroes" und "die Mu'tazila". Averroes ist bekanntlich der latinisierte Name des andalusisch-marrokanischen Philosophen, Juristen und Arztes Ibn Rušd. Er starb 595 h./1198 n. Chr., und dank seiner eminenten Bedeutung für die mittelalterliche europäische Geistesgeschichte ist sein Denken und dessen Rezeption im lateinischen Abendland vergleichsweise gut erforscht. Auch über wichtige Aspekte der Rezeption des Averroes als Gallionsfigur der (Re-)Konstruktion einer fiktiven Genealogie des arabischen Rationalismus sind wir durch Anke von Kügelgens Studie Averroes und die arabischen Moderne (Leiden 1994) seit mittlerweile mehr als einem Jahrzehnt gut unterrichtet.
Im Falle der Mu'tazila, einer theologische Richtung, die seit dem 2. Jahrhundert islamischer Zeitrechnung maßgeblich an der Herausbildung einer argumentativ orientierten islamischen Dogmatik beteiligt war, stehen wir vor einem wesentlich komplexeren Problem: Zunächst ist es bereits die Evaluierung und Rekonstruktion des historischen Gedankenguts der Mu'tazila selbst, die noch immer eine Herausforderung für die Forschung bildet. Darüber hinaus hat die moderne arabische Rezeption "der Mu'tazila" zur Herausbildung einer "Neo-Mu'tazila" geführt. Die von Thomas Hildebrandt vorgelegte Studie widmet sich nun dieser Neo-Mu'tazila. Aufbauend auf von Kügelgens Ergebnissen verfeinert sie deren methodisches Repertoire, um das facettenreiche schillernde Phänomen der Neo-Mu'tazila interpretieren zu können. Was haben wir nun unter diesem Begriff zu verstehen?
Eine grundlegende Einführung bietet hier das erste Kapitel "Neo-Mu'tazilismus. Zu Geschichte und Problematik einer Kategorie" (13-89). Dieses Kapitel zeigt, wie der Begriff des Neo-Mu'tazilismus zunächst als eine Kategorie orientalistischer Forschung gebildet wird. Ganz im Geiste des ausgehenden 19. Jahrhunderts dient er dabei zunächst als eine Projektionsfläche für rationalistische Denkmuster westlicher Forscher. Der hierin begründete Enthusiasmus für die zu diesem Zeitpunkt noch völlig unerforschte theologische Schule der Mu'tazila wird dabei zu einem wichtigen Motor bei ihrer wissenschaftlichen Erforschung. Im Kontext akademischer Forschung resultiert hieraus dann eine zunehmende Objektivierung und Dekonstruktion der anfänglichen Projektionen.
Zwischenzeitlich hatten aber diese Projektionen sowie Interpretationen, die prominente reformorientierte islamische Denker verschiedenster Ausrichtung als Neo-Mu'taziliten beschrieben, weitergehende Auswirkungen gehabt. Sie hatten dazu geführt, dass die Rezeption der Mu'tazila in der arabischen und islamischen Welt weit über den Kontext akademischer Forschung hinaus ein Eigenleben zu führen begann. Unabhängig von historischen Verbindungen existierte die Neo-Mu'tazila somit als eigenständige moderne Geistesströmung, auch wenn ihr konzeptioneller Inhalt zunächst noch völlig unbestimmt war. Neben einer Renaissance der akademischen Beschäftigung mit der Mu'tazila führte dies in der arabischen Welt dazu, dass der (Neo-)Mu'tazilismus als eine neuzeitliche Denkrichtung im Diskurs moderner islamischer Intellektueller etabliert wurde.
Die Bezeichnung "Neo-Mu'tazilismus" verbreitete sich dabei zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst ausgehend von einigen Bemerkungen Ignaz Goldzihers, Bernard Michels und Muṣṭafā 'Abd al-Rāziqs. Zu diesem Zeitpunkt ist es paradoxerweiser vor allem der (aš'aritische) Reformtheologe Muḥammad 'Abduh, der als Prototyp dieser neuen Mu'tazila gesehen wird. Der Begriff "Mu'tazila" wird hierbei in völlig unbestimmter Weise als Äquivalent von vernunftbegründeten Reformbemühungen verstanden. Vollends etabliert wird der Begriff durch einen 1957 erschienenen langen Artikel von Robert Caspar, der die mittlerweile einsetzende akademische Beschäftigung mit neu zugänglichen mu'tazilitischen Texten in der arabischen Welt als Beleg für die Verbreitung neo-mu'tazilitisch geprägter theologischer Reformbestrebungen im Islam wertet. Eine weitere Etappe wird schließlich markiert durch das (vor allem an amerikanischen Hochschulen präsente) Buch "Defenders of Reason in Islam. Mu'tazilism from Medieval School to Modern Symbol" von Richard C. Martin und Mark R. Woodward (Oxford 1997). Die eklatanten inhaltlichen und methodischen Schwächen dieses Werkes arbeitet Hildebrandt deutlich heraus.
Ohne dem leidigen Jargon einer Orientalism-Debatte auch nur nahezukommen, trägt insbesondere dieses erste Kapitel dazu bei, dass Hildebrandts Studie in methodisch beispielhafter Weise die Problematik der wechselseitigen Konstituierung von Forschungsinteresse und Forschungsgegenstand im Kontext orientalistischer Forschung beleuchten kann.
Ergänzt wird diese Einführung durch drei weitere Kapitel, die einen Überblick geben über die historische Entwicklung der Mu'tazila sowie über die westliche und arabische akademische Forschung dazu. Im zweiten Hauptteil der Studie wird dann anhand von ausführlicheren Einzeldarstellungen nachgezeichnet, wie verschiedene moderne arabische Intellektuelle die historische Rolle der Mu'tazila interpretiert und als Projektionsfläche eigener Gedankengänge nutzbar gemacht haben. In verschiedene weltanschauliche Lager sortiert, werden die Positionen der behandelten Autoren dann anhand von charakteristischen Problemstellungen vorgestellt.
Zunächst beschrieben wird u.a. das Verhältnis des "arabischen Liberalismus" zu mu'tazilitischem Gedankengut, die Sicht auf die Mu'tazila als Idealtyp liberaler Kulturideale im Kreis um Ṭāhir al-Ǧazā'irī und die Bewertung der historischen Entwicklung der Mu'tazila bei Aḥmad Amīn. Ein weiterer Abschnitt ist dem Verhältnis zwischen dem historisch-materialistischen Denken bei arabischen Intellektuellen und der Beschäftigung mit der Mu'tazila gewidmet. Zur Sprache kommen hierbei allgemein die Interpretation der Mu'tazila in einer historischen Perspektive, die Interpretation mu'tazilitischen Denkens als Wegbereiter eines philosophischen Materialismus bei Ḥusain Murūwa und die Theorie der Erschaffenheit des Koran als Vorstufe einer historisch-kritischen Theorie bei Rašīd Ḫayyūn.
Auch im Kontext der Politisierung und Ideologisierung des islamischen Dogmas begegnen wir der Mu'tazila: Nach einer allgemeinen Darstellung von Strategien, die in der modernen politischen Lektüre und Instrumentalisierung des kalām zu beobachten sind, behandelt die Studie Ḥasan Ḥanafī mit seinem Projekt eines "linken Islam" und die Konstruktion einer aufgeklärt nationalistischen Richtung des Islam bei Muḥammad 'Amāra. Eine Sonderstellung nimmt die Interpretation der Mu'tazila im Kontext eines radikal kalifatsorientierten Islamismus bei Amīn Nāyif Ḏiyāb ein. Weitere Interpretationskontexte sind die literaturwissenschaftliche Koranexegese, die Wertephilosophie und die Bewertung der pro-mu'tazilitischen inquisitorischen Aktivität im Kontext der miḥna.
Hildebrandts Studie behandelt eine äußerst komplexe und weitgespannte Thematik. Eine besondere Stärke der Studie liegt darin, dass sie detailliert und kenntnisreich ein komplexes Konstrukt in überschaubare Themenbereiche auflöst und analysiert. Auch dort, wo die Studie zur Orientierung des Lesers Überblicksdarstellungen einfügt, die auf wenigen Seiten große Zeiträume überspannen, lösen die dabei unvermeidlichen Vereinfachungen nur in seltenen Fällen Irritationen aus.
Die Diskontinuitäten zwischen vorkolonialer und moderner islamischer Geistesgeschichte haben dazu geführt, dass die Aneignung des islamischen Erbes durch moderne islamische Denker oft auf starker Simplifizierung historischer Zusammenhänge beruht. Hierin besteht ein generelles Problem bei der Erforschung des modernen islambezogenen Diskurses in der islamischen Welt: Insbesondere eine textimmanente Erforschung dieses Diskurses darf sich durch die dort allgegenwärtigen Simplifizierungen nicht dazu verführen lassen, ihrerseits die Komplexität der Bezüge zu vernachlässigen, innerhalb derer dieser Diskurs situiert ist. Hildebrandts Studie gelingt es, dem Leser einen sehr überzeugenden Eindruck davon zu vermitteln, dass und wie diese Problemstellung erfolgreich bewältigt werden kann.
Heidrun Eichner