Paul Powers: Intent in Islamic Law. Motive and Meaning in Medieval Sunnī Fiqh (= Studies in Islamic Law and Society; Vol. 25), Leiden / Boston: Brill 2006, xii + 236 S., ISBN 978-90-04-14592-4, EUR 94,00
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Umfangreichere Studien und Monographien, die die Entwicklungsgeschichte und die Binnendifferenzierung und -ausprägung wichtiger Grundbegriffe klassischer islamischer Rechtstheorie untersuchen, gibt es nur wenige. Dies ist umso erstaunlicher, als dieses Defizit bereits seit längerer Zeit als Problem erkannt ist: Die akademische Beschäftigung mit klassischem islamischen Recht kann der Usurpation durch fundamentalistische oder andere essentialistisch geprägte Bestrebungen oft nur wenig entgegensetzen.
Eine wichtige Lücke wird hier durch die vorliegende Monographie geschlossen. Sie beschäftigt sich damit, in welcher Weise die Berücksichtigung der Intention einer Handlung im islamischen Recht konzeptionalisiert wird. "Seinem Wesen nach hat Recht, ob nun säkular oder religiös begründet, das Ziel, menschliche Handlungen zu regulieren. In den meisten Rechtssystemen begreift man unter menschlichen Handlungen etwas, was eine subjektive Komponente involviert. Manchmal bildet diese nur eine Nuance, manchmal ist sie von entscheidender Wichtigkeit" (1). In diesem Kontext ist die Bedeutung der Intention auch im islamischen Recht zu sehen: "Intention ist ein zentrales Anliegen für das islamische Recht, und Recht ist ein zentrales Anliegen für die meisten muslimischen Gesellschaften" (2).
Ein wesentliches Ergebnis von Powers Studie sei hier gleich erwähnt: Eine Theorie von Intentionalität, die in umfassender Weise dieselben Bereiche abdeckt wie der englische Begriff 'intent', gibt es im islamischen Recht nicht. Das heißt aber nicht, dass es nicht ein diesem Bereich durchaus äquivalentes Theoriegebäude gibt. Vielmehr sind bestimmte Anwendungsbereiche zu unterscheiden, in denen die Intention einer Handlungsweise analysiert wird. In diesen Kontexten wird Intention verschieden konzeptionalisiert, und oft begegnen wir auch unterschiedlichen Terminologien.
Durch diesen wichtigen, auf einer Analyse von Rechtsliteratur basierenden Befund, kann Powers Studie einen Beitrag dazu leisten, auch in einem weiteren Kontext den Import "westlich" geprägter Kategorien bei der Analyse islamischer Geistesgeschichte methodisch zu hinterfragen. Wenn für Theoriegebäude etwa zum Begriff der "Intention" oder - um einen in der deutschsprachigen Islamwissenschaft vielbeachteten Begriff zu nennen - der "Gesinnungsethik" kein Äquivalent im Diskurs des autochthonen islamischen dogmatischen Schrifttums besteht, deutet dies keineswegs notwendig auf eine Abwesenheit der relevanten funktionalen Komponenten. Vielmehr ist zu prüfen, inwieweit diese Komponenten im Kontext autochthoner Theoriebildung in anderen Kontexten thematisiert und entsprechend integriert werden. Die scheinbare Absenz bestimmter analytischer Kategorien im islamischen dogmatischen Schrifttum weist keineswegs darauf hin, dass diese nicht konzeptualisiert werden oder gar überhaupt nicht präsent sind. Vielmehr handelt es sich hier in vielen Fällen um eine methodische Blindheit der Analyse, die nicht berücksichtigt, dass - bedingt auch durch eine genetisch-historische Verwandtschaft - islamische Dogmatik zwar viele, keineswegs aber alle, aus der "christlich-abendländischen" Tradition und den hieraus erwachsenen modernen Theoriegebäuden vertrauten analytischen Kategorien teilt.
Powers Studie untersucht also, in welcher Weise 'intention' in verschiedenen Kontexten des islamischen Rechst analysiert wird. Der Bereich, in dem die Rolle von Intention (hier meist arab. niyya) bisher am meisten Aufmerksamkeit in der Sekundärliteratur erfahren hat, ist das islamische Ritual. Zwei Kapitel der Monographie (25-96) beschäftigen sich mit der Rolle von niyya im Kontext des islamischen Rituals. Es ist evident, dass die Bedeutung von niyya im islamischen Ritual die Hinfälligkeit bestimmter Stereotypen belegt, die betonen, dass die Wichtigkeit von Ritualen in der islamischen Religion als einen Beleg für deren Mangel an Spiritualität zu werten sei. Dem setzt die Studie eine Auswahl von verschiedenen Primärquellen entnommenen Analysen entgegen, mit deren Hilfe muslimische Theoretiker das Verhältnis von niyya und ritueller Handlung zu fassen suchten. Diese Analysen werden in den Kontext moderner Theorieansätze zur Performativität von Ritualen gestellt.
Eine hiervon deutlich unterschiedene Sphäre bildet das Vertragsrecht. In diesem Rechtsbereich, der soziale Aktionen zu regeln bestrebt ist, benutzen islamische Juristen folglich ganz andere Analysekategorien. "Es wird weithin angenommen, dass Intentionen vorhanden sind. Sie werden reguliert und wie auch andere Handlungselemente identifiziert. Für Verträge im islamischen Recht sind Sprechakte von zentraler Bedeutung, performative Äußerungen, die ein bestimmtes Ziel verfolgen." (98). Für die Hermeneutik von Vertragstexten ist die Bewertung der Intention ein wesentliches Anliegen, und bestimmte Interpretationsregeln stehen den Juristen als Standardrepertoire zur Verfügung. Ein weiterer untersuchter Bereich ist das Personenstatutsrecht, also v.a. Ehe- und Erbrecht. Dieser Bereich islamischen Rechts nimmt in modernen Staaten der islamischen Welt eine Sonderstellung ein: Auch Staaten, die ein weitgehend säkularisiertes Rechtssystem kennen, greifen in diesem Bereich auf isolierte Elemente des traditionellen islamisches Recht zurück (123). Insbesondere im Eherecht betonen islamische Juristen den bindenden Charakter performativer Sprechakte, also von bestimmten Formeln, die Bedeutung der Intention wird dabei bewusst zurückgedrängt.
Im letzten Kapitel wird dann das Strafrecht untersucht, wo der Bestimmung der Intention aus naheliegenden Gründen innerhalb der verschiedensten Kulturen eine besondere Bedeutung zukommt. "Islamische Juristen behandeln Intention als einen entscheidenden Faktor, um Übergriffe zu definieren und Strafen festzulegen. ... . Jedoch messen sie der Intention per se keine rechtliche Bedeutung bei wie sie es - zumindest in gewissem Umfang - im Kontext von Ritualen, Verträgen und Familienrecht tun. Vielmehr basiert ihre Identifikation von subjektiven Zuständen im strafrechtlich relevanten Situationen auf indirekter objektiver Evidenz. Die Juristen erkennen des weiteren an, dass ihrer Fähigkeit, die Intentionen von Menschen zu erkennen und zu bewerten, Grenzen gesetzt sind." (169-170).
Im Rahmen des Strafrechtes bilden die im Koran festgelegten ḥudūd-Strafen einen spezifisch durch die islamische Religion begründeten Sonderbereich: In Falle der zugehörigen Tatbestände wird der Intention des Handelnden aus prinzipiellen Erwägungen heraus keine Bedeutung beigelegt, eine nachgewiesene Verfehlung im Bereich der durch den Koran sanktionierten Tatbestände ist unabhängig von ihrer Motivation als schuldhaft zu werten.
In einem abschliessenden Kapitel rekapituliert die Studie nochmals, dass eine kohärente Theorie von Intention bei muslimischen Juristen fehlt, wohl aber eine fragmentierende Deutung dieses Konzeptes verfolgt werden kann. Unter den von Powers untersuchten 'westlichen' Theorieansätzen zu Konzeptionalisierungen von Intention bei muslimischen Juristen hebt Powers v.a. Brinkley Messicks Begriff eines 'culturally specific foundationalism' als geeignet hervor, wichtige Aspekte des untersuchten Phänomens auch generalisierend interpretieren zu können.
Wie bereits betont, liegt ein großes Verdienst von Powers Studie darin, dass sie für den untersuchten Begriff die begrenzte Deutungsfähigkeit generalisierender Interpretation, die auf "westlichen" Erwartungshorizonten beruhen, aufzeigen konnte. Wie die Studie zeigen konnte, verfügen muslimische Juristen über ausgearbeitete Theorien für Teilbereiche. Hier mag man bedauern, dass Powers keinen Versuch unternimmt, die Theorien islamischer Juristen im Kontext der von diesen selbst wahrgenommenen Zusammenhänge zu situieren. Auch wenn die Studie ein weitaus umfangreicheres Spektrum an Quellentexten berücksichtigt als viele andere dies tun, hätten doch ausführliche Analysen oder Paraphrasen des untersuchten Quellenmaterials der in Powers Studie erfolgten Infragestellung importierter externer Interpretationsschemata mehr Nachdruck verleihen können. Eine solche ausführlichere Zusammenstellung der ausgewerteten Quellenmaterialien hätte die Ausgangsbasis für eine weitergehende Rekonstruktion, historische Einordnung und Neubewertung der autochthonen Diskussionskontexte bilden können.
Powers Studie zum Begriff der Intention im islamischen Recht leistet also einen bedeutenden Beitrag auf dem Weg zu einem stärker differenzierenden Verständnis islamisch geprägter Rechtssysteme in ihren historischen Entwicklungen - und man mag v.a. bedauern, dass der Autor den von ihm vertretenen Forschungsansatz nicht noch entschlossener (d.h. in erster Linie: in Gestalt einer noch wesentlich umfangreicheren Monographie) beschritten hat.
Heidrun Eichner