Rezension über:

Harald Biermann: Ideologie statt Realpolitik. Kleindeutsche Liberale und auswärtige Politik vor der Reichsgründung (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; Bd. 146), Düsseldorf: Droste 2006, 335 S., ISBN 978-3-7700-5277-6, EUR 49,80
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Rezension von:
Christian Jansen
Institut für Geschichte und Kunstgeschichte, Technische Universität, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Christian Jansen: Rezension von: Harald Biermann: Ideologie statt Realpolitik. Kleindeutsche Liberale und auswärtige Politik vor der Reichsgründung, Düsseldorf: Droste 2006, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 1 [15.01.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/01/11584.html


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Harald Biermann: Ideologie statt Realpolitik

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Harald Biermanns Buch ist gut lesbar und lässt sich schnell konsumieren, da am Ende jedes Kapitels die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst werden. Es handelt von den außenpolitischen Überzeugungen und Konzeptionen späterer Nationalliberaler vor 1871. Die Grundthese ist, dass diese Vorstellungen sehr ideologisch und deshalb der komplizierten Gemengelage europäischer Politik nicht angemessen, also keineswegs - wie die Liberalen behaupteten - realistisch ("realpolitisch") waren. Da Liberale im Untersuchungszeitraum nicht an die Macht gelangten, blieb ihre Außenpolitik rein theoretisch. Im Mittelpunkt ihrer außenpolitischen Interventionen und Debatten stand immer die Nationalstaatsgründung, die sie sich nur auf kriegerischem Wege vorstellen konnten. Denn nur so seien Frankreich und Österreich, die beiden Hauptfeinde eines einigen und mächtigen Deutschland, auszuschalten. Dies ist alles richtig und insgesamt überzeugend herausgearbeitet, aber - anders als der Autor in seiner vollmundigen Einleitung behauptet - überhaupt nicht neu.

Der Autor bezieht durch einige Rückfälle in Bismarckkult (z.B. 204, 276) und sein geringes Verständnis für die schwierige Lage der Liberalen angesichts der äußerst aggressiven Politik Bismarcks eine konservative Position. Noch deutlicher verortet Biermann sich im Vorwort in der konservativen Szene Westdeutschlands. Diesem Netzwerk dankt der Autor u.a. dafür, dass seine Arbeit in Bonn als Habilitationsschrift angenommen wurde. Außerdem hat sie die Friedrich Naumann-Stiftung 2004 als beste Publikation zur Geschichte des Liberalismus ausgezeichnet [1], obwohl sie in mancher Hinsicht problematisch ist. Drei Kritikpunkte sollen näher begründet werden:

Erstens wird "auswärtige Politik", also der zentrale Gegenstand der Untersuchung, nicht definiert. In der Zeit vor der Nationalstaatsgründung gab es naturgemäß keine "deutsche" Außenpolitik, sondern nur die der 38 Einzelstaaten. Von ihren diplomatischen Aktivitäten galten die meisten der deutschen Einigung. Damit ist die Behauptung obsolet, das Verhältnis der Liberalen zur Außenpolitik sei kaum erforscht. Denn die Nationalstaatsgründung ist ein klassisches Thema der deutschen Geschichtswissenschaft. In den letzten Jahren wurde es vielfach unter neuen Fragestellungen behandelt. Die Autoren (z.B. Manfred Meyer, Alexa Geisthövel, Jürgen Müller, Andreas Biefang, Dietmar Klenke oder mich) nennt Biermann zwar. Aber ihre Thesen rezipiert er kaum. Nur im letzten Kapitel "Europa, die Welt und das neue Reich in nationalliberaler Perspektive" geht Biermann über diese Forschungen hinaus. Mit den liberalen Vorstellungen über die internationale Mächtekonstellation und die anderen europäischen Mächte betritt er Forschungsneuland; allerdings ein wenig ergiebiges, wegen der bekannten Verengung der liberalen Debatten auf Innenpolitik und nationale Einheit.

Zweitens hat Biermann die näher untersuchten Autoren nach nicht nachvollziehbaren Kriterien ausgewählt. Die Verwirrung beginnt damit, dass im Titel von "Kleindeutschen Liberalen" die Rede ist. Darunter versteht man im Allgemeinen alle, die wie die liberale Mehrheit in der Paulskirche einen Nationalstaat unter preußischer Führung ohne österreichische Territorien gründen wollten. In der Einleitung (16f.) konstruiert Biermann sein Sample jedoch vom Ende, nämlich von der nationalliberalen Fraktion im Norddeutschen Reichstag her. Zu den Protagonisten gehören acht Fraktionsmitglieder (v. Bennigsen, Braun, v. Unruh, v. Forckenbeck, Lasker, Miquel, Oetker und Twesten) sowie Freytag und Sybel, "die zwar keine bedeutenden Rollen im Norddeutschen Reichstag spielten", aber publizistisches Gewicht hatten. Hinzu kommen Oppenheim und Baumgarten, die allerdings erst in den 1870ern in den Reichstag einzogen. [2] Mit schwachen Argumenten werden außerdem Baumgarten und als "außenpolitische Vordenker" (19) Droysen, v. Rochau und Diezel ins Sample aufgenommen.

Sample-Bildung ist immer angreifbar, und es ist schwer, pragmatische und methodische Gesichtspunkte miteinander zu vereinbaren. Prinzipiell gibt es zwei Strategien: entweder die Funktionselite einer politischen Strömung anhand nachvollziehbarer Kriterien zu bestimmen [3] oder von gemeinsamen politischen Erfahrungen auszugehen. [4] Angesichts der von Biermann angeführten Kriterien muss man fragen: Warum nicht Mommsen, Siemens, Duncker, v. Hoverbeck, Bamberger, Ruge, Faucher, Treitschke oder Haym? Einige von ihnen tauchen im Text auf, obwohl sie in der Einleitung nicht genannt werden. Biermanns Untersuchung ist nicht theoretisch, sondern allein vom Material her strukturiert. Solch fröhlicher Positivismus ist in der deutschen Geschichtswissenschaft recht verbreitet. Von einer Habilitationsschrift erwartet man jedoch mehr methodische Reflexion. Besonders schräg ist die Hinzunahme des bereits 1858 verstorbenen Demokraten Gustav Diezel. Dieser interessante Publizist wird von Biermann differenziert gewürdigt. Er war jedoch weder ein "Kleindeutscher" noch ein Liberaler. Biermann selbst konstatiert, dass Diezel "das Zielen auf Kleindeutschland jedenfalls als Verderbnis" betrachtete (59). Warum zählt er ihn dennoch zu den "Vordenkern" der Nationalliberalen? [5]

Drittens leidet die Qualität unter dem selektiven Umgang mit der Sekundärliteratur. Biermann zitiert in den Fußnoten minutiös auch entlegene Aufsätze der älteren Generation, insbesondere von Hildebrand, Gall oder Nipperdey. Neuere Arbeiten verschweigt Biermann zwar nicht, aber rezipiert sie nicht ihrer Bedeutung entsprechend. Dies gilt etwa für die Schilderung der liberalen Debatten über den "italienischen Krieg" von 1859, für die Bewertung der liberalen Kriegssehnsucht oder des Verhältnisses der Liberalen zu Bismarck. So konstatiert Biermann, dass "Machtvergessenheit kein kennzeichnendes Signum [sic!] der kleindeutsch-orientierten [sic!] Liberalen" war (156). Allerdings wurde diese von ihm umständlich widerlegte These in den letzten Jahren in der Forschung überhaupt nicht vertreten.

Biermann korrigiert in den Fußnoten akribisch Detailfehler anderer Autoren. Man würde erwarten, dass er ebenso genau deren Ergebnisse berücksichtigte. Dies hätte auch seine Fragestellung schärfen und ihn auf wirkliche Desiderate bringen können, z.B. eine Untersuchung der außenpolitischen Positionen und Maximen der Liberalen zwischen 1867 und 1878, also in der "liberalen Ära", als sie sich zumindest im Vorhof der Macht befanden. Durch eine solche Ausweitung des Untersuchungsgegenstandes hätte sich auch die These von der ideologischen Aufladung der liberalen Außenpolitik überprüfen lassen. Ein anderes Desiderat sind die liberalen Vorstellungen zur Kolonialpolitik und zum Aufbau einer deutschen Marine. Denn die Vorgeschichte von Imperialismus und "Weltpolitik" beginnt bereits 1848. Spätestens in der Paulskirche bestand Einigkeit unter (fast) allen Liberalen, dass Deutschland einig, frei und mächtig werden müsse. Der Gegensatz zwischen Nationalliberalen und Fortschrittspartei bei der Spaltung von 1867 lag also gewiss nicht darin, dass die einen nationalistisch waren und die anderen nicht, wie auf Seite 215 behauptet wird.

Biermanns Buch ist eine quellennahe Studie mit zusätzlichen Belegen für bekannte Thesen. In der Würdigung Diezels und Twestens und im letzten Kapitel liegen neue Akzente, die sich jedoch nicht in eine stringente Argumentation fügen. Habilitationsschriften sollten keine zweiten Dissertationen, sondern Forschungssynthesen sein. Das heißt: nicht allein die Verarbeitung von möglichst viel Material ist wichtig, sondern auch die Reflexion des Forschungsstandes. Die Parlamentarismuskommission sollte darauf beharren, dass ihre Autoren die neueste Forschung berücksichtigen (zumal wenn diese in der eigenen Schriftenreihe erschienen ist) und Sachregister anfertigen.


Anmerkungen:

[1] Vgl. allerdings die reservierte Rezension im "Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung" 19 (2007), 289-291.

[2] Ebenso angreifbar ist die Begründung für die Auswahl der berücksichtigten Publikationen: Biermann beschränkt sich auf die, "die aus der Feder der hier namentlich identifizierten Protagonisten oder ihrem nächsten Umfeld stammen" (26). Das "nächste Umfeld" wäre näher zu definieren.

[3] Vgl. zum Beispiel Andreas Biefang: Politisches Bürgertum in Deutschland 1857-1868. Nationale Organisationen und Eliten, Düsseldorf 1994.

[4] Das war der methodische Ansatz meines Buches "Einheit, Macht und Freiheit. Die Paulskirchenlinke und die deutsche Politik in der nachrevolutionären Epoche (1849-1867)" (2. Aufl. Düsseldorf 2005).

[5] Eine weitere Ungereimtheit ist Biermanns Umgang mit dem süddeutschen Liberalismus. Kurz vor dem Ende seines Buches gibt es einen "Exkurs: Süddeutsche Preußenfreunde und Außenpolitik", in dem er Häusser, Hölder und Reyscher abhandelt. Ebenso hätte man dort die in den anderen Kapiteln behandelten Bamberger, Baumgarten, Diezel oder Rochau in den Blick nehmen können.

Christian Jansen