Rezension über:

Lucia Raspe: Jüdische Hagiographie im mittelalterlichen Aschkenas (= Texts and Studies in Medieval and Early Modern Judaism; 19), Tübingen: Mohr Siebeck 2006, 403 S., ISBN 978-3-16-148575-6, EUR 109,00
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Rezension von:
Christoph Cluse
Arye Maimon-Institut für Geschichte der Juden, Universität Trier
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Christoph Cluse: Rezension von: Lucia Raspe: Jüdische Hagiographie im mittelalterlichen Aschkenas, Tübingen: Mohr Siebeck 2006, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 2 [15.02.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/02/11537.html


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Lucia Raspe: Jüdische Hagiographie im mittelalterlichen Aschkenas

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Kannte das aschkenasische Judentum des Mittelalters eine Heiligenverehrung? Sicher kaum, wenn wir den Begriff in Analogie zum Heiligenkult der christlichen Umwelt definieren. Wohl aber existiert eine hagiographische Literatur, von der "aufgrund handschriftlicher Evidenz seit dem 15. Jahrhundert gesprochen werden [kann]" (1) und die im 19. Jahrhundert in Osteuropa zur Entfaltung gelangte (4). Die vorliegende Studie, die aus Raspes Frankfurter Dissertation von 2003/2004 erwachsen ist, fragt anhand sorgfältig ausgewählter Beispiele nach dem Entstehungskontext und "Sitz im Leben" dieser jüdisch-hagiographischen Erzähltexte.

Die Autorin bietet zunächst (1. Kapitel) einen Forschungsüberblick sowie eine Orientierung über die Grundbegriffe. Als Hagiographie kommen demnach "Texte in Betracht, die sich einerseits durch die Bezugnahme auf eine als historisch aufgefasste Figur an einem spezifischen Ort und in einer spezifischen Zeit [...] verankern und deren narrative Struktur andererseits einen Einbruch des Jenseitigen in das Diesseitige zum Angelpunkt hat, wie er für Sagen kennzeichnend ist, die diesen Einbruch aber nicht bedrohlich auffassen, sondern ihn als Legenden in eine religiöse Perspektive integrieren, welche ihn sinngebend als Wunder begreift, und die in diesem Akt den Heiligen als Heiligen konstituieren" (78).

Ausgangspunkt der Textauswahl ist die Überlieferung am Übergang von der handschriftlichen zur gedruckten Tradition, markiert durch den Druck der hebräischen Erzählsammlung Schalschelet haqabbala des Gedalja ibn Jachja (Venedig 1587) und des jiddischen Mayse bukh (Basel 1602). Zur Klärung der Abhängigkeitsverhältnisse hat Raspe zudem erstmals systematisch die Hs. Moskau, Günzburg 652 verglichen - eine für Ibn Jachja "selbst angefertigte und von diesem überarbeitete Abschrift aus den 1560er Jahren" (87). Immer wieder werden auch andere Handschriften berücksichtigt, die nicht selten bislang völlig unbekanntes Material bieten. Vier Erzählungen, die sowohl bei Ibn Jachja als auch im Mayse bukh belegt sind, stehen im Mittelpunkt der Untersuchung (2.-5. Kapitel). In allen Fällen kommt die Autorin zu neuen und teils überraschenden Ergebnissen (6. Kapitel). Erschlossen wird das Material durch vier Register: Stellen; Handschriften; Autoren; Sachen, Personen und Orte.

Die Verehrung der Regensburger Juden für einen Rabbi Amram (2. Kapitel), der auf ihrem Friedhof begraben liege, dessen Torarolle die Gemeinde besitze und der ihnen zu helfen vermöge, ist seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts sicher bezeugt. Die Amram-Legende nimmt auf komplexe Weise Bezug auf die christliche Legende um den Regensburger Heiligen Emmeram - durch die Übernahme zentraler Erzählmotive ebenso wie durch die polemische Inversion des Emmeramkultes (denn dem Versuch der Christen, diesen jüdischen Heiligen für sich zu usurpieren, begegneten die Juden dadurch, dass sie Amrams Leichnam gegen den eines Gehängten austauschten).

Einen ganz anderen Bezug zur christlichen Umwelt weist die Legende um Amnon von Mainz auf (3. Kapitel); christliche Quellen sind dafür nicht auszumachen. Für diese mayse zog der Basler Redaktor Schalschelet haqabbala heran, obwohl ihm eine ältere, jiddische Fassung vorlag. Letztlich gehen beide zurück auf eine Erzählung Efraims von Regensburg (zweite Hälfte 12. Jahrhundert). Ungeachtet dieser Zuweisung an einen "Autor" kann Raspe aber auch Spuren mündlicher Überlieferung nachweisen; insbesondere erscheint ein zentrales Erzählmotiv schon in Megillat Achima'az (Süditalien, 11. Jahrhundert). Während die Amnon-Erzählung insbesondere in der historischen Forschung als martyrologischer Text gilt, macht die Autorin gute Gründe dafür geltend, in Amnon weniger einen Märtyrer denn einen "Bekenner" zu sehen.

Die Erzählung über "Raschi und Gottfried von Bouillon" (4. Kapitel) scheint durch den Bezug auf den Kreuzzug von 1096 am stärksten den Charakter einer "historischen" Legende zu tragen. Doch weit gefehlt: Im Gegensatz zu Ibn Jachja und dem Mayse bukh von 1602 kommen spätere Mayse bukh-Drucke sowie auch die Mayse nissim des Wormser Gelehrten Juspa Schammes ohne den Namen Gottfrieds von Bouillon aus, den Ibn Jachja aus anderer Quelle sekundär einführt und dessen Assoziation mit dem Morden im Rheinland 1096 sich bei näherem Hinsehen ebenfalls als Schimäre erweist. Im Mittelpunkt der Erzählung steht, hagiographisch gesehen, "nicht die Genugtuung über die Niederlage der Kreuzfahrer", sondern die prophetische Gabe Raschis (241).

Die mayse von Schimon b. Jizchak "den Großen" von Mainz, dessen von Christen entführter Sohn zum Papst aufsteigt (5. Kapitel), fehlt in Schalschelet haqabbala, obwohl sie in der Moskauer Handschrift enthalten ist. Die Vielfalt der Varianten (vermehrt um eine sephardische Fassung) geht, wie Raspe zeigt, auf das multikulturelle Milieu der Juden Oberitaliens im 16. Jahrhundert zurück, wo die Erzählung noch um diese Zeit in mündlicher Überlieferung kursiert haben muss. R. Schimon (um 1000) galt nach dem Nürnberger (sogenannten "Mainzer") Memorbuch als Fürsprecher der Gemeinden, der u. a. "antijüdische Maßnahmen (gzerot) abwehrte". Raspe weist nach, dass dies auf die narrative Stilisierung seiner Figur am Beispiel des talmudischen Weisen Schimon b. Jochai zurückzuführen ist - ob Schimon von Mainz tatsächlich je eine Verfolgung abgewendet hat, wissen wir also nicht (316).

Die aus historischer Sicht wichtigsten Resultate der vorliegenden Studie betreffen zunächst die Entstehungskontexte der ausgewählten Erzählungen. Deren Anlässe sind nun gerade nicht in historischen Ereignissen zu suchen - dem ersten Kreuzzug etwa oder die Judenvertreibung von Mainz im Jahre 1012 -, sondern im Kultus der Gemeinde, speziell in der jüdischen Liturgie. Dies gilt in besonderem Maße für Amnon von Mainz, auf den der (sicherlich ältere) Pijjut Unetanne toqef für Neujahr und den Versöhnungstag zurückgeführt wurde, und Schimon hagadol, der den Pijjut Wehu rachum für Rosch haschana schrieb. Die Erzählungen um diese Figuren sind zuerst in Pijjutkommentaren überliefert - ein Befund, der von Raspe in den Kapiteln 3.6 und 5.4 herausgearbeitet wird. Daneben lässt sich immer wieder das Bemühen beobachten, lokale Erinnerungsorte mit den hagiographischen Erzählungen zu verbinden. Ein zweiter wichtiger Befund betrifft die zentrale Rolle Oberitaliens im 16. Jahrhundert als "Schmelztiegel" und als "Ort regen kulturellen Austauschs" (324). Auf inhaltlicher Ebene thematisieren die untersuchten Erzählungen auf je unterschiedliche Weise das komplexe Verhältnis zur christlichen Umwelt im mittelalterlichen Aschkenas. Damit sind sie historische Dokumente in einem ganz anderen Sinne, als dies zunächst den Anschein hat.

Raspes Studie demonstriert auf hohem Niveau den Nutzen der modernen Erzählforschung für die historische Analyse; mit Gewinn berücksichtigt sie die hebräische und die jiddische Überlieferung als "zwei Seiten derselben Medaille" (79). Nicht zuletzt besticht sie durch gute Lesbarkeit, ein klares Untersuchungsdesign und die stringente Gedankenführung. Diese Disziplin führt dazu, dass manche Erzählungen des jüdischen Mittelalters noch zu untersuchen bleiben. Die Autorin hat dafür in der vorliegenden Dissertation sowie in ihren weiteren Aufsätzen zweifellos Maßstäbe gesetzt.

Christoph Cluse