Peter Jelavich: Berlin Alexanderplatz. Radio, Film and the Death of Weimar Culture (= Weimar and Now: German Cultural Criticism; 37), Oakland: University of California Press 2006, xvi + 300 S., ISBN 978-0-520-24363-7, GBP 26,95
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Mehrfach schon ist die "Weimarer Kultur" Gegenstand großer Geschichtsschreibung gewesen, zu nennen sind nur Peter Gays "Die Republik der Außenseiter", Walter Laqueurs "Weimar. Die Kultur der Republik", Jost Hermands und Frank Trommlers "Die Kultur der Weimarer Republik" und Hans-Ulrich Gumbrechts "1926". Das neue Buch von Peter Jelavich "Berlin Alexanderplatz. Radio, Film, and the Death of Weimar Culture" lässt sich schon jetzt - wie auch sein Vorgänger "Berlin Cabaret" - in diese Reihe stellen.
Lange Zeit wurde die politische Geschichte der Weimarer Republik ausschließlich von ihrem Anfang oder ihrem Ende her gelesen. Die Einseitigkeit dieser Perspektiven hat Detlev Peukert, der in seiner eigenen Interpretation die historische Kontinuität betonte, völlig zu Recht kritisiert. [1] So vorherrschend aber die Verfallsperspektive in der politischen Geschichtsschreibung war, so wenig fragten demgegenüber die kulturhistorischen Meistererzählungen nach dem Ende der Weimarer Kultur. Wie selbstverständlich brechen sie mit dem Jahr 1933 ab. "Berlin Alexanderplatz" gelingt es, diese Interpretationen durch eine neue, originelle Sichtweise zu erweitern, indem es sich auf den Untergang der Weimarer Kultur konzentriert und diesen bereits auf das Jahr 1931 datiert. Damit ist das Buch mehr als "nur" eine weitere Kulturgeschichte der Weimarer Republik. Vielmehr setzt es Kultur und Politik, den Untergang der Weimarer Kultur und den Aufstieg des Nationalsozialismus zueinander in Beziehung.
Anhand der drei Versionen von Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" - dem Buch von 1929, dem Hörspiel von 1930 und dem Film von 1931 [2] - die Jelavich als roter Faden seiner Untersuchung dienen, zeigt er, wie im Verlauf der späten 20er und frühen 30er Jahre die Kultur im Zeichen einer "fear psychosis" (xii) zunehmend ihre Freiheit und ihr kritisches Potenzial verlor. Je eine Version von "Berlin Alexanderplatz" markiert Anfang, Mitte und Schluss des Buches. In den anderen vier Kapiteln geht Jelavich auf das breitere kulturelle und politische Umfeld ein. Er zeigt, dass die von Döblin in seinem Roman gesellschaftskritisch behandelten Themen Großstadt, Politik, Sexualität und Kommerzialisierung in Hörspiel und Film fast völlig fehlten. Jelavich, dessen Studie sich auch als Beitrag zum Forschungsfeld Intermedialität versteht, analysiert deshalb zunächst die unterschiedlichen Arbeitsweisen und -bedingungen der verschiedenen Medien und ihrer Vermarktung. Zentral für ihn ist der Einfluss der Zensur in all ihren Formen: Da Romane nicht zensiert wurden, konnte Döblin in diesem Medium am innovativsten und subversivsten sein. Das Radio hingegen blieb über die gesamte Dauer der Weimarer Republik ein staatliches Monopol in den Händen einer konservativen, bildungsbürgerlichen Bürokratie. Verpflichtet darauf unpolitisch zu sein, entlarvt Jelavich wie rückwärtsgewandt, konservativ und antirepublikanisch es in Wirklichkeit war. Dazwischen angesiedelt war der Film, der als einziges nichtstaatliches Medium der Zensur unterlag.
Doch die Medien hatten nicht nur mit unterschiedlichen Formen der Zensur zu kämpfen, die Zensur insgesamt veränderte sich. Wie Jelavich zeigt, versuchten die Kulturschaffenden mit Beginn der 1930er Jahre zunehmend staatlichen Eingriffen durch Selbstzensur zuvorzukommen. Den ersten großen Wendepunkt sieht er in der verhinderten Ausstrahlung des 1931 vom deutschen Kulturradio produzierten Hörspiels "Die Geschichte vom Franz Biberkopf", dessen Sendetermin erst überstürzt verschoben und dann nicht wieder aufgegriffen wurde. Jelavich verfolgt detailliert wie Panik und Angst infolge des überraschend erfolgreichen Abschneidens der Nationalsozialisten bei den Reichstagswahlen 1930 den Kulturbetrieb zunehmend lahm legten. In "Die Geschichte vom Franz Biberkopf" sieht er das erste Opfer des Nationalsozialismus im Bereich des Radios. Wenn es den Nationalsozialisten letztlich auch nicht gelang, das Radio für ihre Zwecke zu instrumentalisieren - Hitlers Stimme war zum ersten Mal 1933 im Äther zu hören - so konnte es sich unter diesen Bedingungen allerdings auch nicht zu einer prorepublikanischen Instanz entwickeln.
Den zweiten Wendepunkt setzt Jelavich mit dem Jahre 1931, in dem der Film "Im Westen nichts Neues" verboten wurde. War dieser zunächst ohne Einwände von der Filmprüfstelle freigegeben worden, so führte der massive öffentliche Protest vor allem nationalsozialistischer Kreise schließlich zu einem nachträglichen Verbot. Danach war die Atmosphäre derart angespannt, dass mitunter selbst harmlose Komödien und Abenteuerfilme nicht erscheinen durften. Wenige Tage nach "Im Westen nichts Neues" wurde auch Döblins eher konservatives Drama "Die Ehe" verboten: Da das Theater offiziell nicht der Zensur unterlag - ein widerrechtliches Vorgehen. Am Ende dieser Entwicklung steht der Film "Berlin Alexanderplatz", der, vollkommen gesäubert und mit Happy End versehen, eine dem Roman diametral entgegen gesetzte Botschaft propagierte. Noch deutlicher als im Fall des Hörspiels scheiterte der Film nicht an einem direkten, staatlichen Eingriff - er passierte die Zensur mühelos - sondern an der Selbstzensur eingeschüchterter Intellektueller und Kulturschaffender.
Jelavichs Buch - fraglos state of the art - steht in der Tradition einer Kulturgeschichte, die in Deutschland kaum noch praktiziert wird, die jedoch von deutschstämmigen Emigranten wie Peter Gay oder Carl Schorske - dem Lehrer Jelavichs - über den Atlantik verpflanzt wurde. "Berlin Alexanderplatz" zeigt, dass diese weniger methodenfixierte, aber viel Wert auf Erzählung legende Kulturgeschichte nach wie vor berechtigt und zu großen Leistungen fähig ist. Die wissenschaftliche Tradition der Studie und die Bedeutung, die Döblins Werk in ihr einnimmt, sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es hier um mehr als die so genannte Hochkultur geht. Zum einen bettet Jelavich seine kulturelle Analyse souverän in den politischen und sozialen Zeithintergrund ein, zum anderen thematisiert er Kultur als Arena widerstreitender gesellschaftlicher Gruppen und Ansprüche, was er gekonnt an Döblin selbst aufzeigt, der den so arroganten wie hoffnungslosen Abwehrkampf des elitären Bildungsbürgertums gegen die kommerzielle und demokratische Populärkultur polemisch kommentierte.
Kurz: Während Eberhard Kolb fand, dass in der Geschichte Weimars "die kulturelle Szene und das politische Leben [...] in einem seltsam unvermittelten Verhältnis zueinander" [3] stehen, so stellt Jelavich hier genau diese Verbindung her und zeigt wie fruchtbar kulturhistorische Untersuchungen auch für das Verständnis politischer Entwicklungen sein können. Wie der Roman von Döblin so kann auch Peter Jelavichs "Berlin Alexanderplatz" deshalb als Standardlektüre zur Weimarer Republik empfohlen werden. Jelavich präsentiert eine gedrängte, zugespitzte Geschichte der Weimarer Kultur, auf die er - obwohl und gerade auch weil er sie von ihrem Ende her liest - eine neue Perspektive eröffnet. Dass Jelavich dies alles auch noch sehr fesselnd erzählt, macht dieses Buch nichts weniger als brillant.
Anmerkungen:
[1] Detlev Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987.
[2] Das Hörspiel von 1930 "Die Geschichte vom Franz Biberkopf" - in den 50er Jahren erstmals im Rundfunk gesendet - erschien 1987 im Klett Verlag in der Reihe "Cotta's Hörbühne", ist aber vergriffen. Auf CD erhältlich ist eine 2007 vom SWR produzierte neue Version des Hörspiels. Der Film von Phil Jutzi mit Heinrich George soll 2008 als DVD erscheinen. Das Drehbuch in der Edition Text + Kritik: Alfred Döblin / Hans Wilhelm / Phil Jutzi: Berlin Alexanderplatz. Drehbuch von Alfred Döblin und Hans Wilhelm zu Phil Jutzis Film von 1931, München 1996.
[3] Eberhard Kolb: Die Weimarer Republik, 4. Aufl., München 1998, 92.
Tobias Becker