Rezension über:

Jean-Luc Leleu: La Waffen-SS. Soldats Politiques en Guerre, Paris: Editions Perrin 2007, 1237 S., ISBN 978-2-262-02488-8, 29,80
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Peter Lieb
Sandhurst
Empfohlene Zitierweise:
Peter Lieb: Rezension von: Jean-Luc Leleu: La Waffen-SS. Soldats Politiques en Guerre, Paris: Editions Perrin 2007, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 6 [15.06.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/06/14597.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Jean-Luc Leleu: La Waffen-SS

Textgröße: A A A

Weltweit dürfte wohl kaum eine militärische Organisation gleichzeitig soviel Faszination, Hass und Kontroverse hervorrufen wie die Waffen-SS. In englischsprachigen Ländern (aber nicht nur dort) stößt dieses Thema nach wie vor auf ein ungebrochenes Interesse. Paradoxerweise ist das akademische Wissen über diese Organisation jedoch sehr gering. Die Erstauflage des bekannten Standardwerks von Bernd Wegner liegt nun schon fast dreißig Jahre zurück [1] und seitdem fristet die Waffen-SS trotz des aktuellen Booms der Militärgeschichte eher ein Mauerblümchendasein. [2] Nun liegt endlich eine neue große Studie aus der Feder von Jean-Luc Leleu vor, einem jungen französischen Forscher am Centre de Recherche d'Histoire Quantitative in Caen.

Leleus Arbeit kann man als Fortsetzung von Wegners "Hitlers Politische Soldaten" verstehen, wie schon der Buchtitel zeigt. Thema ist die Geschichte der Waffen-SS im Krieg - ein Aspekt, den Wegner damals ausklammerte. Im Gegensatz zu Wegner konnte Leleu auch auf zahlreiche SS-Akten aus dem Prager Kriegsarchiv (Vojenský Historický Archίv) zurückgreifen, die bis 1989/90 für westliche Forscher gesperrt waren. Daneben konsultierte er die Akten aus dem Bundesarchiv in Berlin und Freiburg im Breisgau, aber auch aus weiteren Archiven in Frankreich, Kanada und den USA. Das Resultat dieser intensiven Forschung ist ein über 1.200 Seiten dickes Werk, das trotz des Umfangs stets lesenswert bleibt und in dem der Autor nie seine Kernfragen aus dem Blick verliert.

Leleus Arbeit gliedert sich in sechs große Themenblöcke: Erstens die militärische Expansion der SS; zweitens die Ressource Mensch und die einzelnen SS-Soldaten; drittens die Organisation, Ausrüstung und Ausbildung im militärischen Bereich; viertens die Indoktrination; fünftens der eigentliche Kampfeinsatz im Krieg; und schließlich sechstens der militärische Wert und das verbrecherische Verhalten der Waffen-SS. In seiner Untersuchung widerlegt oder relativiert Leleu mehrere Mythen, die sich seit 1945 um die Waffen-SS ranken, vor allem ihre militärische Effizienz, ihren Fanatismus und ihren durchweg verbrecherischen Charakter. Leleu konzentriert sich bei der Beantwortung dieser Fragen vorrangig auf die "deutschen" Waffen-SS-Divisionen sowie geografisch auf Westeuropa.

Das große Ziel des Reichsführers-SS Heinrich Himmler war die Schaffung einer Nationalsozialistischen Volksarmee. Keine Organisation mochte dies so idealtypisch verkörpern wie die Waffen-SS. Die Expansion der Waffen-SS in der zweiten Kriegshälfte sieht Leleu daher als rein politischen und nicht als militärischen Akt. Mittels Propaganda sollte gezeigt werden, dass die Waffen-SS eine militärische Elite darstellte und nahezu unbesiegbar war. Diesen Mythos gilt es zu relativieren. Bis Kriegsmitte nämlich zeigten die Divisionen der Waffen-SS zumeist unbefriedigende Leistungen auf dem Schlachtfeld. Erst nach ihrer Motorisierung ab 1942/43 und ihrem Einsatz als strategischer Feuerwehr (Charkov 1943, Tscherkassy und Normandie 1944) wurde die Waffen-SS teilweise ihrem elitären militärischen Anspruch gerecht. Dies gilt aber nur für die sogenannten "Stammdivisionen" wie die "Leibstandarte", "Das Reich" oder "Totenkopf" und deren "Ableger", die "Hitlerjugend" und mit Einschränkungen die "Hohenstaufen" und "Frundsberg". Politisch ging die Rechnung Himmlers auf: Im Laufe des Krieges gewann die Waffen-SS gegenüber dem Heer immer mehr an Terrain. Je schlechter die militärischen Aussichten wurden, desto stärker konnte sich die Waffen-SS als letztes Bollwerk des Regimes profilieren. Militärisch hingegen hatte dieser politische Erfolg katastrophale Folgen. Zwar waren die Einsätze der Waffen-SS zumeist kurz und von längeren Ruhephasen unterbrochen. Doch dafür waren die Kämpfe umso erbitterter und forderten hohe Verluste. Nach der Normandie-Schlacht war die Waffen-SS als militärische Elite zerschlagen. Das zeigen die Misserfolge der SS-Divisionen in den Ardennen 1944/45. Besonders aussagekräftig ist dabei der mit Statistiken untermauerte Vergleich der daran beteiligten 9. SS-Panzerdivision "Hohenstaufen" mit der 12. und der 62. Volksgrenadierdivision, also mit einer leistungsfähigen und einer durchschnittlichen Wehrmachtsdivision. Überraschenderweise war die "Hohenstaufen" zu diesem Zeitpunkt weder in der Bewaffnung noch in der personellen Ausstattung bevorzugt, ja vielmehr gegenüber den beiden Wehrmachtsdivisionen benachteiligt.

Das Kernmerkmal der Expansion der Waffen-SS waren die Doppel- bzw. Parallelhierarchien zum Heer mit eigenen Panzer- bzw. Armeekorps und später sogar einer eigenen Panzerarmee. Auch aus diesem Grund stellt die Waffen-SS für Leleu keine herkömmliche militärische Institution dar. Die Parallelhierarchie bot der SS weitgehende Unabhängigkeit vom Heer, denn sie konnte zumeist schalten und walten, wie sie wollte. Nicht zuletzt deswegen war das Verhältnis von Wehrmacht und Waffen-SS immer wieder von Spannungen sowie kleineren Reibereien gekennzeichnet - allerdings längst nicht in dem Maße, wie ehemalige Wehrmachtsangehörige nach dem Krieg glauben machen wollten. Die Wehrmacht ihrerseits versuchte nämlich mit der Dauer des Kriegs dieser Konkurrenz dadurch zu begegnen, dass sie sich in mancher Hinsicht immer mehr der Waffen-SS annäherte, nicht zuletzt in der Frage der politischen Indoktrination der Soldaten. Dabei übersah die Wehrmacht aber, dass diese politische Ausrichtung bei den einzelnen Soldaten der Waffen-SS zwar sicherlich auf starken Anklang stieß, jedoch nie in dem Umfang, wie Himmler sich dies gewünscht hätte.

Berüchtigt ist die Waffen-SS bis heute für die von ihr begangenen Verbrechen. Hierfür ist vor allem das kleine Dorf Oradour-sur-Glane im Limousin zum Symbol geworden. Leleu vermeidet bei dieser Diskussion das in der Wissenschaft mittlerweile inflationär gebrauchte Wort "Kriegsverbrechen" und ersetzt es durch "violence extralégale". Da die deutschen Kriegsverbrechen in Westeuropa seit 1945 zumeist akribisch aufgearbeitet wurden, konzentriert sich Leleu geografisch auf diese Region, namentlich den Westfeldzug von 1940 [3] und die Invasionskämpfe von 1944. Zunächst stellt der Autor klar, dass sich nur eine Minderheit aller SS-Soldaten an den Kriegsverbrechen in Westeuropa schuldhaft beteiligte. Zudem weist er auf frappierende Unterschiede zwischen den einzelnen Divisionen bei der Anzahl der Verbrechen hin. So ist von der 10. SS-Panzerdivision "Frundsberg" während ihres fast zwanzig Monate dauernden Einsatzes im Westen nur eine kleine Zahl von "extralegalen" Exekutionen in der Normandie überliefert, während die "Totenkopf"-Division in nur wenigen Tagen während des Feldzugs 1940 Hunderte von Zivilisten und Gefangenen hinschlachtete. Doch auch hier mahnt Leleu zur Differenzierung, denn selbst bei dieser berüchtigten Division waren die Verbrechen höchst unterschiedlich auf die einzelnen Einheiten verteilt. Eine solch vorbildlich differenzierte Sichtweise würde man sich gerne einmal bei einigen deutschen "Militärhistorikern" wie Hannes Heer oder Armin Nolzen wünschen.

Am Gesamtresultat lässt Leleu keinen Zweifel aufkommen: Die Waffen-SS beging im Westen Kriegsverbrechen in einer Zahl, die weit über den "üblichen" Rahmen bei bewaffneten Konflikten hinausging. Der Grund hierfür lag in einer Kultur des Hasses und der Härte, die eng mit der Ideologie des Nationalsozialismus verknüpft war. Für die Verbrechen im Westen macht Leleu aber zwei andere Gründe aus: Für die Exzesse der "Totenkopf" während des Westfeldzugs 1940 spielte ein übersteigerter Korpsgeist eine Rolle sowie der Wunsch, sich als junge Truppe auf dem Schlachtfeld Respekt von der Wehrmacht zu erwerben. Die blutigen Repressalien 1944 hingegen ordnet Leleu in die immer härter werdende deutsche Besatzungspolitik ein, wobei die Wehrmacht hier eine nicht unbeträchtliche Rolle spielte.

Hier sieht der Rezensent die einzige kleinere Schwachstelle der Studie. Der Autor glaubt, im Grad der Brutalisierung 1944 nicht einen Unterschied zwischen Waffen-SS und Wehrmacht, sondern zwischen Eliteverbänden und Nichteliteverbänden ausmachen zu können. Diese Trennlinie zu ziehen, ist für Frankreich 1944 zweifellos richtig, doch man kann es drehen und wenden, wie man will: Der Unterschied zwischen Einheiten von Wehrmacht und Waffen-SS bestand nach wie vor. Bei aller Härte, die elitäre Wehrmachtseinheiten in der Partisanenbekämpfung an den Tag legen konnten, blieben nicht nur die Dimensionen kleiner. Im Gegensatz zur Waffen-SS tötete die Wehrmacht auf diesem Kriegsschauplatz auch keine Frauen und Kinder. Die einzige Ausnahme bildete das Massaker in Vassieux-en-Vercors am 21. Juli 1944 mit insgesamt 72 Opfern. Die Täter waren Fallschirmjäger der "Kampfgruppe Schäfer", angeführt vom Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD (KdS) in Lyon. Das heißt: Auch hier spielte die NS-Ideologie oder genauer gesagt jene von Leleu ausgemachte Kultur der Härte und des Hasses eine Rolle. Das gleiche Muster lässt sich auch bei der Partisanenbekämpfung in Italien ausmachen, wo mit der 16. SS-Panzergrenadierdivision "Reichsführer-SS" und der Fallschirm-Panzerdivision "Hermann Göring" zwei stark NS-indoktrinierte Einheiten deutlich mehr Verbrechen begingen als elitäre Wehrmachtseinheiten. [4]

Insgesamt urteilt Leleu, dass der immense Aufwand für den Aufbau dieses "Sonderheeres" Waffen-SS letztlich nicht die militärischen Teilerfolge rechtfertigte. Die Waffen-SS bildete im 'Dritten Reich' stets ein Politikum, ihre Angehörigen waren nicht nur Hitlers, sondern vor allem Himmlers Soldaten. Wie Bernd Wegner in den 1980er Jahren, so hat Leleu mit dieser Studie einen Meilenstein in der Erforschung der Waffen-SS vorgelegt. Zu Recht ist diese Arbeit in Frankreich bereits mehrmals ausgezeichnet worden, ist sie doch ein Musterbeispiel moderner ausgewogener Militärgeschichte frei von politischer Voreingenommenheit, moralischem Zeigefinger und Pauschalurteilen. Eine Übersetzung des Buches vom Französischen ins Deutsche ist ein absolutes Muss und es bleibt zu hoffen, dass sich trotz der 1.200 Seiten schnellstmöglich ein Verlag hierzu findet.


Anmerkungen:

[1] Bernd Wegner: Hitlers Politische Soldaten. Die Waffen-SS 1933-1945, Paderborn u.a. 51997 (Erstauflage 1982).

[2] Aspekte des Komplexes Waffen-SS werden behandelt bei Ronald Smelser / Enrico Syring (Hg.): Die SS-Elite unter dem Totenkopf. 30 Lebensläufe, Paderborn u.a. 2000; Martin Cüppers: Wegbereiter der Shoah. Die Waffen-SS, der Kommandostab Reichsführer-SS und die Judenvernichtung 1939-1945, Darmstadt 2005; Peter Lieb: Konventioneller Krieg oder NS-Weltanschauungskrieg. Kriegführung und Partisanenbekämpfung in Frankreich 1943/44, München 2007.

[3] Leleu hat schon in früheren Untersuchungen zahlreiche bisher unbekannte Verbrechen der "Totenkopf" im Frankreichfeldzug 1940 aufgedeckt. Vgl. Jean-Luc Leleu: La division SS-Totenkopf face à la population civile du nord de la France en mai 1940, in: Revue du Nord 83 (2001), 821-840.

[4] Siehe hierzu die bald erscheinende Studie von Carlo Gentile.

Peter Lieb