Susanne Lepsius / Thomas Wetzstein (Hgg.): Als die Welt in die Akten kam. Prozeßschriftgut im europäischen Mittelalter (= Rechtsprechung. Materialien und Studien; Bd. 27), Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2008, VIII + 490 S., ISBN 978-3-465-04028-6, EUR 98,00
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Die Quellenlage ist unübersichtlich und die Forschungslage schlecht, aber die Materie lohnt die Beschäftigung. Dies könnte über fast allen Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes stehen, der sich im Zuge des allgemein wachsenden Interesses an Fragen der mittelalterlichen Rechtssprechung mit der schriftlichen Überlieferung der europäischen Gerichtslandschaft befasst. Der Band versucht eine "systematische Hinwendung zu den Quellengrundlagen" (VII), wobei die Herausgeber den Referenten einen Leitfaden an die Hand gegeben haben, der merklich zur Homogenität der Aufsätze beigetragen hat. Der Fragenkatalog (487f.) differenziert 1. nach Herkunft und Genese, 2. nach den Überlieferungskontexten und 3. nach den inneren Merkmalen des Überlieferten und steckt so den Rahmen ab, in dem das Prozessschriftgut des Mittelalters zu verorten ist.
Thomas Wetzstein diskutiert einführend (1-27) die grundlegende Problematik des Quellentyps. Ausgehend von der Konzilskonstitution "Quoniam contra falsam" (Liber Extra, 2.19.11), die erstmals verbindlich festlegt, welche Teile eines Prozesses schriftlich festgehalten werden müssen, beschreibt er die Bedeutung der Schrift (nicht nur) im mittelalterlichen Gerichtsprozess. Er thematisiert die Probleme im Umgang mit dieser "sperrigen Quellengattung" (12) und fordert entsprechende methodische Vorsicht bei der Auswertung ein. Neben Fragen nach einer Typologie steht die Suche nach der "raison d'être" der Quellen (23).
Richard H. Helmholz widmet sich der Rezeptionsgeschichte der genannten Konzilskonstitution in England (31-49). In den ersten Jahren nach dem IV. Lateranum lässt sich noch kein Einfluss auf die Protokollierung von Prozessen in England feststellen, obwohl die Konstitution ohne Zweifel bekannt gewesen ist. Zwar hat sie später unbestreitbar Einfluss auf das englische Rechtsleben gehabt, indem sie die Entstehung des öffentlichen Notariats in England begünstigte. Trotzdem stand am Ende ein Kompromiss: Die lokale gerichtliche Praxis bestimmte in vielerlei Hinsicht die tatsächliche Implementierung von "Quoniam" in das englische Gerichtsverfahren.
Marita Blattmann stellt anhand der Aufzeichnungen des Ingelheimer Ortsgerichts "Beobachtungen zum Schrifteinsatz an einem deutschen Niedergericht um 1400" an (51-91). An zahlreichen Beispielen zeigt sie nicht nur auf, welche Rechtsinhalte verhandelt wurden, sondern diskutiert auch Fragen nach Anlage und Zweck der Bücher. So kann sie nicht zuletzt das Normen- und Wertegefüge, mit dem die Schöffen operierten aus den Quellen erarbeiten, und die Rolle der Haderbücher als "Erinnerungsstütze, Terminkontrollbuch und Hilfsmittel zur Gebühreneinhebung" (83) herausstellen.
Petra Schulte wendet sich einem italienischen Beispiel zum Schrifteinsatz im mittelalterlichen Rechtsleben zu (95-138). Anhand der juristischen Überlieferung des Klosters S. Abbondio in Como versucht sie den Charakter der überlieferten Prozessakten zu klären, indem sie diese unter dem Fernziel einer "umfassende[n] Darstellung des Comasker Zivilprozesses" (104) mit den Statuten der Justiz- und Kaufleutekonsuln in Como abgleicht. Zweck der Verschriftlichung war einmal mehr, Gerechtigkeit durchzusetzen und die Transparenz richterlichen Handelns zu gewährleisten (101).
Daniel L. Smail nimmt mit Marseille ein Beispiel aus den französischen Gegenden des ius scriptum in den Blick (139-169), das sich durch eine außerordentlich reichhaltige Überlieferung an Prozessakten auszeichnet. Wie Marita Blattmann stellt auch Smail fest, dass nur ein kleiner Teil der Prozesse überhaupt bis zu einem Urteil geführt wurde. Ein Teil des Prozessschriftguts muss als "non-functional" (151) bezeichnet werden, als reines Nebenprodukt von Statuskämpfen vor Gericht.
Christina Deutsch kehrt mit den "Acta, Registra und Manualia consistorii" des Regensburger geistlichen Gerichts (173-195) in den deutschsprachigen Raum zurück und stellt die Frage nach Aufzeichnungspraxis, Informationsstruktur und -organisation der gerichtlichen Dokumente. In Regensburg waren zwischen 1480 und 1540 mit Domkapitelgericht und Generalvikariat zwei zeitlich aufeinander folgende gerichtliche Institutionen an der Entstehung des Prozessschriftgutes beteiligt. Durch Analyse und Vergleich der Aufzeichnungspraxis der beiden Gerichte wird deutlich, dass die Mikrostruktur der Aufzeichnungen, etwa das verwendete Prozessregisterformular, eine überinstitutionelle Relevanz behaupten kann und sich in den Akten beider Gerichte wiederfindet. Demgegenüber ist die Makrostruktur der Register, etwa der Aufbau der Bücher, von der ausstellenden Institution abhängig. Die Gerichtspraxis spiegelt sich in Anlage und Organisation des Prozessschriftguts wider.
Hans-Jörg Gilomen wendet sich "Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Verfahren der Basler Konzilsrota" zu (197-251). Die institutionellen Besonderheiten der audientia causarum in Basel hatten Auswirkungen auf die Verschriftlichungsintensität der verhandelten Fälle. Gilomen kann zeigen, dass das Verfahren vor der Basler Rota fast ausschließlich schriftlich geführt wurde, während Mündlichkeit vor allem formelhaft, etwa bei Vereidigungen, der Verlesung von Schriftsätzen oder "in einer zugespitzten Situation" (249) zum Einsatz kam.
Thomas Scharff befasst sich mit den "Funktionen des Prozeßschriftguts der kirchlichen Inquisition in Italien" (255-273). Ihm geht es besonders um "Formen und Funktionen" (255) der Schriftlichkeit im Inquisitionsverfahren. In den Prozessakten festgehalten wurde nur, was für den Inquisitor nützlich war, während Verfahrenssicherheit für die Parteien weniger im Interesse der Dokumentation lag. Zudem hatte die Schriftlichkeit eine symbolische Funktion, indem sie die Macht der Inquisitoren über die Angeklagten demonstrierte.
Julien Théry wendet sich zwei Beweissammlungen aus dem Inquisitionsprozess gegen den Bischof Donosdeo de' Malavolti zu und veranschaulicht daran die aktive Nutzung der päpstlichen Inquisitionsgerichtsbarkeit durch lokale Adelsparteien (275-345). Das mittelalterliche Inquisitionsverfahren ermöglichte dem Papst, aufgrund reiner Denunziation gegen eine Person tätig zu werden, es bot sich gerade deshalb aber auch als Mittel zur Lösung lokaler, politisch motivierter Konflikte an. In Siena hatten die Piccolomini als Gegner der Malavolti sich mit dem päpstlichen Inquisitionsprozess auf diese neue Strategie verlegt und den bürokratischen Apparat der Kirche für ihre Zwecke eingeschaltet.
Christine Magin widmet sich der Schriftlichkeit am Kammergericht Kaiser Friedrichs III. (349-387) und stellt die verschiedenen Typen von Gerichtsprotokollen und Urteilsbüchern vor. Magin kann an diesem Material einmal mehr belegen, dass der sich verstetigende und intensivierende Gerichtsbetrieb am Kammergericht zu einer zunehmenden Normierung und Ausdifferenzierung der Prozessakten und Schriftstücke führte.
Susanne Lepsius schließt mit ihrem Beitrag über die "Luccheser Notare und Richter im Syndikatsprozeß" (389-473) den Band ab, indem sie sich den Strategien der städtischen Statutengeber zuwendet, die Form und korrekte Anfertigung der Aufzeichnungen sowie die Sanktionierung von Pflichtverstößen zu regeln. Der Syndikatsprozess diente auch als Kontroll- und Sanktionsinstrument für Richter und Notare und bewirkte eine breite Akzeptanz der statutarischen Verschriftlichungs- und Archivierungsgebote.
Diese Aufsatzsammlung ist mehr als die Summe ihrer Teile. Die verschiedenen Perspektiven auf das Forschungsproblem Prozessschriftgut schaffen einen Überblick über die Möglichkeiten, mit diesen Quellen zu arbeiten und haben gemeinsam geradezu Handbuchcharakter. Dazu trägt bei, dass fast jeder Beitrag mit zahlreichen Abbildungen der Quellen ausgestattet ist, die in einigen Fällen sogar transkribiert worden sind.
Kerstin Hitzbleck