Rezension über:

Markus Schauer: Aeneas dux in Vergils Aeneis. Eine literarische Fiktion in augusteischer Zeit (= Zetemata. Monographien zur klassischen Altertumswissenschaft; Heft 128), München: C.H.Beck 2007, 304 S., ISBN 978-3-406-56483-3, EUR 64,00
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Massimo Rivoltella
Istituto di Filologia Classica e Papirologia, Università Cattolica del Sacro Cuore, Milano
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Massimo Rivoltella: Rezension von: Markus Schauer: Aeneas dux in Vergils Aeneis. Eine literarische Fiktion in augusteischer Zeit, München: C.H.Beck 2007, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 11 [15.11.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/11/13810.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Markus Schauer: Aeneas dux in Vergils Aeneis

Textgröße: A A A

Mit Markus Schauers Buch liegt eine neue Interpretation der Aeneis und ihrer Hauptfigur als dux vor. Der Autor versucht, einzelne Züge und Aspekte des als Führungsfigur gedeuteten Aeneas mit Augustus in Verbindung zu bringen. Wünscht der Verfasser zu bestimmen, worin die zwei Figuren übereinstimmen, dann begibt er sich auf ein unsicheres, obwohl schon von vielen anderen durchstreiftes Terrain; es ist nämlich eine verbreitete Überzeugung bei Philologen, dass sich die Rolle des Augustus in der Aeneis nicht nur auf die Stellen, wo er deutlich angeführt wird, beschränkt (VI, 791-807; VIII, 671-728), sondern dass die Figur des princeps in der des Aeneas auftaucht: Die ältesten systematischen Beispiele dieser Interpretation, welche allegorischer Art ist, sind schon in Studien aus den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zu finden. [1]

Im ersten Buchteil (Augustus und Vergil) verweist Schauer ausführlich auf die Ansätze der Aeneis-Philologie, die sein Werk inspiriert haben. Dabei bezieht er sich einerseits auf die Harvard School und die European School sowie andererseits auf die symbolistische und typologische Deutung und schließlich auf die von der ästhetischen Destruktion inspirierten Aeneis-Interpretationen. Dem Pluralismus der exegetischen Vorbilder folgt ein Methodenpluralismus. Allerdings erklärt Schauer, dass er vor allem der Ansicht ist, "den werkästhetischen mit dem diskurstheoretischen Ansatz zu verknüpfen" (34). Im vorliegenden Fall bedeutet dies, "aus dem Epos Vergils die Konzeption der Führungsfigur Aeneas vor dem Hintergrund der epischen Gesellschaftsstrukturen und Wertvorstellungen herauszuarbeiten, um ein entsprechendes Äquivalent und eine sinnvolle Bezugsebene zur augusteischen princeps-Konzeption zu gewinnen" (35).

Der zweite Teil (Die Aeneis) konzentriert sich auf die Analyse der epischen Welt Vergils, d.h. des Kontexts, in welchem Aeneas wirksam wird. Er besteht aus drei Kapiteln. Das erste befasst sich mit dem translatio-Troiae-Motiv und befragt die Formen der Kontinuität zwischen Troja und der latinischen Völkergemeinschaft, in welcher die Troer integriert weiterleben. Aeneas wird grundsätzlich als Vermittler- und Integrationsfigur interpretiert, dessen Aufgaben und Leistungen die folgenden sind: Die Vereinigung der Stadtgötter Trojas mit seinen Hausgöttern, die Verbindung seiner Familie mit den fliehenden Troern, die Verschmelzung von Troern und Latinern zu einem Volk. Das zweite Kapitel zeichnet eine politisch-diplomatische Landkarte des Mittelmeers, durch die Aeneas sich bewegt, und zeigt, dass seine Auswahl der künftigen Heimat an göttlicher Bestimmung und an genealogischen Prämissen orientiert ist. Das dritte beschäftigt sich mit den göttlichen Kräften, die Aeneas' Handeln beeinflussen. Der effektive Handlungsspielraum der 'großen Männer' ist - wie Schauer darlegt - paradoxerweise beschränkter als der der 'kleinen Männer', die aus dem Volk stammen. In der Regel sind tatsächlich nur die Ersten den fata unterworfen, die Jupiter unparteiisch verkündet und verwaltet und die Götter und Menschen höchstens verzögern, aber nicht verhindern können, während die Zweiten, die nicht dem Schicksal unterworfen sind, dem Zufall überlassen bleiben.

Im dritten Teil (Aeneas) befasst sich Schauer zuerst mit der Darstellung des Protagonisten der Aeneis als dux in einer Entwicklungsperspektive (The 'making of a leader'). Der Autor demonstriert, dass nicht von einer charakterlichen Entwicklung des Aeneas - vom Anfang bis zum Ende des Epos wechseln furor und rationales Verhalten beim Helden je nach den Umständen -, sondern von einem tieferen Bewusstsein der allmählichen Enthüllung der fata gesprochen werden kann. Im zweiten Kapitel (Troerführer Aeneas) stellt Schauer die Frage nach Aeneas' Führungsstellung, Führungsaufgaben und Führungsstil. Dux ohne Prunk und Insignien der Macht, beeindruckt er durch sein Charisma alle, die ihn treffen. Er agiert als sternenkundiger Flottenführer, mit einer kultischen Rolle betrauter Städtegründer, sorgender Feldherr, der womöglich den Krieg vermeiden will; cura, vigilantia und Mitleid sind die wichtigsten 'Herrschertugenden' des Aeneas.

Der Kern des vierten Teils (Ergebnisse) ist der Vergleich zwischen Augustus und Aeneas. Parallelen zwischen den zwei Figuren sind nach Schauer die auctoritas als Fundament der politischen Macht, die Ablehnung von Königstiteln und des imperium, die wichtige Führungsrolle der gesamten Familie. Diesen Parallelen stehen genauso bedeutende Unterschiede entgegen: Im Gegensatz zum Augustus der Res gestae kennt Aeneas Abweichungen von seiner Führungspflicht, wie u.a. das karthagische Abenteuer zeigt, fehlt es an Eigeninitiative und Entschlossenheit und überlässt er sich der unüberwindbaren Herrschaft der fata. Die Aeneis ist deshalb eine Spiegelung der Vielstimmigkeit.

Folgerichtige Methode, Beherrschung der Texte und der Literatur sowie überzeugende Behandlung der unterschiedlichen Argumente machen es schwierig, Schauers Standpunkt nicht zuzustimmen. Erstaunlich ist unter den benannten Parallelen zwischen Aeneas und Augustus nur die relativ geringe Bedeutung der sittlichen Werte, wie pietas, fides, iustitia und clementia, die beide Figuren bezeugen. Drei von diesen sittlichen Werten kennzeichnen Aeneas im Portät des Helden, das Ilionaeus Dido skizziert: Rex erat Aeneas nobis, quo iustior alter/ nec pietate fuit nec bello maior et armis (Aen. 544-5). In den Res gestae (34) erinnert Augustus daran, dass Senat und Volk ihm einen goldenen Schild präsentierten, auf dem eine Inschrift virtus, clementia, iustitia und pietas als Tugenden des princeps herausstellte. Die Figur des Aeneas spielt daher die Rolle eines ethischen Archetyps als Begründer einer sittlichen Tradition, auf die Augustus selbst sich bezog. [2]


Anmerkungen:

[1] Vgl. z. B. John Colin Dunlop: History of Roman Literature, III, London 1826, 144 ff., der Aeneas als Allegorie des Augustus, Turnus des Antonius, Dido der Kleopatra, usw. betrachtet. Ähnlich Douglas Laurel Drew: The Allegory of the Aeneid, Oxford 1927.

[2] Vgl. Antonio La Penna: L'impossibile giustificazione della storia: un'interpretazione di Virgilio, Roma 2005, 73f.

Massimo Rivoltella