Rezension über:

Susanne Grötz / Ortwin Pelc (Hgg.): Der Konstrukteur der modernen Stadt. William Lindley in Hamburg und Europa 1808-1900, München / Hamburg: Dölling und Galitz 2008, 336 S., 165 Abb., ISBN 978-3-937-90477-1, EUR 29,80
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Rezension von:
Kerstin Renz
Institut für Architekturgeschichte, Universität Stuttgart
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Kerstin Renz: Rezension von: Susanne Grötz / Ortwin Pelc (Hgg.): Der Konstrukteur der modernen Stadt. William Lindley in Hamburg und Europa 1808-1900, München / Hamburg: Dölling und Galitz 2008, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 11 [15.11.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/11/15017.html


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Der Konstrukteur des Fortschritts

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Im 19. Jahrhundert kennt die europäische Großstadt gleich mehrere Plagen: unhaltbare Wohnverhältnisse der ärmeren Bevölkerung, Verkehrschaos, Fäkalgestank und Lärm, grassierende Seuchen wie Cholera und Typhus, dann wieder Feuersbrünste, die über alles hinwegfegen. Es sind die Ingenieure des viktorianischen Zeitalters, die den Geist des technischen Fortschritts aus der Flasche befreit haben. Noch vor der Institutionalisierung der Stadtplanung arbeiten sie in Europas Großstädten daran, ihn wieder in seine Schranken zu weisen. Einer dieser Ingenieure ist William Lindley. Ihm widmet das "Hamburgmuseum" eine Sonderausstellung zum 200. Geburtstag (1.10.2008-22.2.2009). Begleitend zur Ausstellung liegt nun in der Schriftenreihe des Hamburgischen Architekturarchivs der Aufsatzband "Konstrukteur der modernen Stadt. William Lindley in Hamburg und Europa 1808-1900" vor. Mit siebzehn Beiträgen überwiegend regional ansässiger Autoren gehört dieses Buch mit zu den ambitioniertesten Unternehmungen der letzten Jahre, in denen das wissenschaftliche Interesse verstärkt der Rolle des Ingenieurs für die Stadtentwicklung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gilt.

Ortwin Pelc klärt in seinem einführenden Beitrag die Etappen Hamburgs auf dem Weg zur modernen Großstadt. Janusgesichtiger Wendepunkt ist der Hamburger Stadtbrand von 1842. Er zerstört große Teile der Altstadt, löst aber zugleich einen Modernisierungsschub aus. In der Folge entsteht im wiederaufgebauten Hamburg unter Federführung Lindleys die erste moderne subterrane Infrastruktur mit (Schwemm-)kanalisation und Gasversorgung nach Londoner Vorbild. Cornelia Moeck-Schlömer illustriert Lindleys treibende Rolle für die Trinkwasserversorgung Hamburgs. Er scheitert bei dem Versuch, die Hamburger von der Notwendigkeit der zentralen Filtration zu überzeugen. Mit fatalen Folgen: Noch 1892 kann sich die Cholera in der Stadt ausbreiten. Die Technik- und Wirtschaftshistoriker Jürgen Bönig und Timo Engels umreißen die Entwicklung des Ingenieursberufes im 19. Jahrhundert. Lindley ist ihrer Einschätzung nach ein typischer "civil engineer", d.h. ein privatwirtschaftlich arbeitender Allrounder. Insbesondere auf dem Kontinent finden britische Ingenieure wie Lindley ihr Arbeitsumfeld. Es fehlt hier an erfahrenen Fachkräften, es fehlen die in England so erfolgreichen Ingenieursnetzwerke, die auf patriarchalisch geführten Unternehmerdynastien aufbauen. Männer wie Lindley punkten mit einem faszinierenden Vorsprung an empirisch erlangtem Wissen und sie tun dies in den unterschiedlichsten Fachbereichen. Wissenschaftlich gesehen agieren sie im luftleeren Raum, das Lehrgebäude vieler Fachbereiche der Ingenieurwissenschaft wird erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts errichtet.

Wie lässt sich Lindleys Arbeit vor diesem Hintergrund beurteilen? Wo noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts niemand nachrechnen, niemand Tabellen und Normalien zur Hand nehmen kann, entscheiden zumeist die Referenzen des Ingenieurs. Und hier kann Lindley vor und während seiner Hamburger Zeit einiges aufweisen:

Lindley ist Konstrukteur der ersten Bahnhofshalle Hamburgs und Verkehrsplaner der Eisenbahntrasse (1838-42 in Zusammenarbeit mit dem Architekten Alexis de Chateauneuf). Dass der Brite seine Funktion als Leiter der sogenannten Hamburger "Stadtwasserkunst" durchaus wörtlich nahm, lässt sich am Beitrag von Susanne Grötz ablesen. Sie zeichnet die Geschichte des Hamburger Wasch- und Badehauses vor dem Hintergrund der Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts nach. Mit dieser High-Tech-Version eines seit der Antike bekannten Bautyps am Schweinemarkt war Lindley 1850-55 eine städtische Dominante gelungen. Martin Kinzinger bewertet in einem bemerkenswerten Aufsatz die Stadtentwicklungsmaßnahmen Lindleys für den Hamburger Hammerbrook in den 1840er Jahren. Dieses in Hafennähe gelegene Gelände darf als erste systematisch geplante Stadtrandsiedlung Hamburgs gelten. Lindleys merkantile Interessen kommen bei diesem Projekt deutlich zutage: Als Anteilseigner der Grundstücksgesellschaft und Teilhaber der Eisenbahngesellschaft ist er Planer und Unternehmer in Personalunion.

Der um eine nüchterne Bewertung Lindleys bemühte Hermann Hipp befasst sich mit den 1857 erstellten Stadterweiterungsplänen des Ingenieurs für die nördlich der Innenstadt gelegenen Stadtteile Rotherbaum und Harvestehude. Und hier, so Hipp, zeigen sich exemplarisch alle Kriterien, die den wissenschaftlichen ( nicht den künstlerischen!) Städtebau des 19. Jahrhunderts ausmachen: eine wirtschaftliche und soziale Tendenzen einbeziehende Gesamtplanung, technisch auf der Höhe ihrer Zeit. Verwirklicht wurde davon nichts. Im wiederholten Scheitern Lindley'scher Projekte seit Mitte des Jahrhunderts erkennt Hipp den Wandel der politischen Verhältnisse in Hamburg. Vor der Verfassungsreform in Hamburg im Jahre 1849 ist Lindley Protegé eines anglophilen Senats, die Bauverwaltung ist zudem auf den Rat technischer Fachleute angewiesen. Nach der Reform wird es für Lindley ungleich schwerer, seine Projekte in Hamburg zu realisieren, Teile der gewählten Bürgerschaft wenden sich gegen Lindley, immer mehr drängt der akademisch gebildete Nachwuchs in Bauverwaltungen. "William Lindley im internationalen Verglich" ist am Ende des Bandes ein willkommener, weil perspektivisch breiter angelegter Beitrag des US-Stadtbauhistorikers David van Zanten. Er sieht die Stadtplanung Hamburgs nach dem großen Brand als "Bausatz", der in Wien, Frankfurt, Warschau und St. Petersburg - immer wieder mit Beteiligung Lindleys - wiederholt wurde. Die britische Industriestadt Leeds sieht der Autor dabei als Planungsbeispiel mit Modellcharakter. Van Zanten nennt William Lindley zu Recht einen Utilitaristen, der mit einer tatkräftigen Mischung aus Pragmatismus und Sozialutopismus die Verbesserungen urbaner Infrastruktur zu seiner Lebensaufgabe macht.

Das Phänomen Großstadt im 19. Jahrhundert besteht aus zwei Elementen: der sichtbaren Gebäude- und Infrastruktur und den Versorgungsnetzen unter Tage. Die Initiative der Herausgeber, die Verzahnung beider Strukturen in der Person Lindleys zu thematisieren, ist sehr zu begrüßen. Sie haben sich nicht davon abschrecken lassen, dass die obertägig sichtbaren Bauwerke Lindleys in Hamburg wie der alte Bahnhof, die Wasch- und Badeanstalt oder das Hammerbrook-Gelände abgerissen oder kriegszerstört sind. Hervorzuheben ist das zweiteilige Werkverzeichnis im Anhang, hier insbesondere Martin Kinzingers kommentierte Auflistung der Lindley-Projekte für Hamburg. Leider fehlt dem Aufsatzband eine Gliederung nach den Themenfeldern Tiefbau- Hochbau-Stadtplanung, die einen Überblick über die multipel angelegte Ingenieursleistung Lindleys und gerade damit die Einsicht in die Verzahnung dieser Bereiche erleichtert hätte. Der Leser wird kenntnisreich in die weitgehend nicht übertragbare Stadthistorie Hamburgs, nicht jedoch in die Usancen der überregional tätigen Ingenieurfirmen eingeführt - an dieser Stelle klafft in der Beitragsreihe eine Lücke. Zahlreiche bekannte Ingenieurfirmen waren zu Lindleys Zeit auf dem Kontinent tätig - seien es Ingenieurarchitekturfirmen wie die von Sidney Stott aus Lancastershire oder der vom Eisenbahnbau kommende Tausendsassa William Fairbairn - sie alle arbeiten als Unternehmer und civil engineers an den brennendsten Problemen der Zeit mit. Der personelle, technologische und dabei nicht nur europaweite, sondern weltweite Transfer von Ingenieurwissen und Ingenieurleistungen ist ein zentrales Merkmal der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts. Doch hier steht die Forschung noch am Anfang. War Lindley einer unter vielen? Die Antwort muss daher auch nach 336 Seiten lauten: Probably he was.

Kerstin Renz