Rezension über:

Marline Otte: Jewish Identities in German Popular Entertainment, 1890-1933, Cambridge: Cambridge University Press 2006, xiv + 317 S., ISBN 978-0-521-85630-0, GBP 51,00
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Rezension von:
Tobias Becker
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Tobias Becker: Rezension von: Marline Otte: Jewish Identities in German Popular Entertainment, 1890-1933, Cambridge: Cambridge University Press 2006, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 2 [15.02.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/02/14175.html


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Marline Otte: Jewish Identities in German Popular Entertainment, 1890-1933

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Mit "Jewish Identities in German Popular Entertainment, 1890-1930" hat Marline Otte, Professorin an der Tulane University in New Orleans, ein für beide der im Titel genannten und, wie sie zeigt, eng miteinander verflochtenen Themen wichtiges Buch geschrieben. Zu Beginn kontrastiert sie die weitgehende Abwesenheit eines jüdisch geprägten kulturellen Lebens im heutigen Berlin mit der Bedeutung jüdischer Artisten Schauspieler, Autoren und Unternehmer für die Vergnügungskultur des kaiserzeitlichen und Weimarer Berlins. Otte zufolge stehen die vielen Beispiele für gelingendes jüdisches Leben im Bereich der populären Kultur im Widerspruch zu den häufig negativen Bildern, wie sie die Geschichtsschreibung zeichnet. Ihr wirft sie vor, entweder einzelne bedeutende jüdische Persönlichkeiten herauszugreifen oder einen "exclusive focus on Jewish victimhood" (5) einzunehmen. Auch kritisiert sie die deutsche Geschichtswissenschaft für ihre Konzentration auf das bürgerliche und proletarische Vereinswesen, ihre Fixierung auf Organisationen und Institutionen. Zu Recht, denn die kommerziell angebotene populäre Kultur war oftmals viel einflussreicher und erreichte weit größere Kreise. In der Tat wäre eine Studie gleich der hier vorgelegten, in der sich die Geschichte populärer Kultur mit der Geschichte des Judentums und Ansätze der Sozialgeschichte mit denen der Genderforschung und der "performance studies" kreuzen, im Mainstream der deutschen Geschichtswissenschaft noch immer undenkbar.

Um ihr ambitioniertes Programm, populäre Kultur und jüdische Identität zusammen zu denken, einzulösen, greift Otte drei Unterhaltungsformen heraus, die in ihrem Untersuchungszeitraum besonders populär waren und die verschiedene Phasen jüdischer Akkulturation verkörpern. Dementsprechend gliedert sich die Studie in drei Teile: Im ersten Teil steht der Wanderzirkus der Familie Blumenfeld im Mittelpunkt, im zweiten Teil das Jargon-Theater der Gebrüder Herrnfeld in Berlin und im dritten das Berliner Metropoltheater mit seinen jüdischen Stars, Autoren und Komponisten. Anstelle einer bloßen Aneinanderreihung einzelner Lebensläufe führt Otte knapp und konzis in das jeweilige Unterhaltungsformat, seine Geschichte, Bedingungen und Charakteristika ein. Sie untersucht die Interaktion jüdischer und nicht-jüdischer Akteure sowohl auf als auch vor der Bühne sowie die Inszenierung jüdischer Themen in den verschiedenen Aufführungsformen und berücksichtigt auch deren Rezeption in der Öffentlichkeit.

Der Zirkus, den Otte als "the first mass medium" (72) kennzeichnet, markiert eine Sphäre, in der jüdische Artisten und Unternehmer aufgrund ausgeprägter Familienbande unter sich blieben und am wenigsten zur Akkulturation neigten. Dennoch belegt das Beispiel der Familie Blumenfeld, dass selbst der Wanderzirkus jüdischen Artisten den sozialen Aufstieg zu Reichtum und gesellschaftlicher Anerkennung ermöglichen konnte. Mehr noch als der Zirkus boten die bislang kaum erforschten Berliner Jargon-Theater (Gebrüder Herrnfeld und Folies Caprice) einen Raum, in dem jüdische Akteure ihrer Sehnsucht dazuzugehören, den Schattenseiten der Assimilation und der Bedeutung von Religion und Familie in der modernen urbanen Welt Ausdruck verleihen konnten. Das Jargon-Theater suchte durch die Betonung eines gemeinsamen "bürgerlichen Wertehimmels", insbesondere durch die Bedeutung, die es der Familie zumaß, eine Gemeinschaft zwischen Juden und Nicht-Juden auf der Bühne und im Publikum herzustellen. Im Gegensatz zu dem Literaturwissenschaftler Peter Sprengel, der das Jargon-Theater als eine rein jüdische Angelegenheit sieht, zeigt Otte überzeugend, wie es eine Gemeinschaft jenseits von Religions- und Schichtzugehörigkeit kreierte. [1] Wo Sprengel sich ausschließlich auf die Texte der Bühnendramen konzentriert, berücksichtigt Otte die performative Qualität des Theaters, die Zusammensetzung des Publikums und den zeitgenössischen Kontext.

Neben ihren Ausführungen zum Jargon-Theater, ist auch Ottes Analyse der Jahresrevuen des Berliner Metropoltheaters und ihres Produktionskontextes vorbildhaft - zumal hinsichtlich der Rekonstruktion des zeitgenössischen Publikums. Dennoch zeigt sich hier ein Problem ihres Ansatzes, das gleichwohl unumgänglich ist, denn es besteht in der Untersuchung populärer Unterhaltung primär unter dem Gesichtspunkt jüdischer Identität. Wenn Otte den Zusammenstoß zwischen dem Sohn eines jüdischen Bankiers und einem nicht-jüdischen Industriellen im Metropoltheater als "one of the greatest scandals in Imperial Berlin" (205) charakterisiert, schießt sie nicht nur angesichts des Ausmaßes der Daily Telegraph-Affäre und ähnlicher Skandale über ihr Ziel hinaus. [2] Dergleichen richtet sich die Kritik am jüdischen Theater, die Otte anführt, weniger gegen die jüdischen Schauspieler und Theaterunternehmer als gegen das in den Augen bildungsbürgerlicher Kritiker (von denen viele selbst Juden waren) seichte, kommerzielle Geschäfts- und Unterhaltungstheater überhaupt. Die Kritik entspringt weniger dem Antisemitismus als einer sich bisweilen antisemitisch kleidenden, antimodernistischen Ablehnung der Massenkultur. Diese Einwände wiegen angesichts einer hervorragenden, genau recherchierten und aus den Quellen schöpfenden Studie aber nur gering. Wer die Schwierigkeit kennt, die zeitgenössische Populärkultur eines anderen kulturellen und sprachlichen Kontextes zu verstehen, kann ermessen, welcher Herausforderung sich eine historische Studie gegenübersieht. Dieser Herausforderung wird "Jewish Identities in German Popular Entertainment, 1890-1930" ohne Zweifel gerecht.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Otte die bislang kaum existierende Geschichtsschreibung über die deutsche Populärkultur um 1900 um wesentliche Aspekte und Ansätze bereichert und ihr zugleich viele Fragen mit auf den Weg gegeben hat. Sie zeigt, dass populäre Kultur nicht nur an sich ein wichtiges Forschungsfeld für Historiker ist, sondern dass sie darüber hinaus Aufschluss für eine Vielzahl von Fragestellungen liefern kann. Da ihr Untersuchungszeitraum vergleichsweise lang ist, wird deutlich, dass viele Phänomene, die häufig mit der Weimarer Republik assoziiert werden, bereits im Kaiserreich zu beobachten sind bzw. dort ihren Ursprung nahmen. Die Geschichte des deutschen Judentums bereichert Otte um wichtige Nuancen, die diese komplexer, vielschichtiger und noch interessanter macht. Zweifellos käme man für den gewählten Zeitraum zu anderen Ergebnissen, wenn man die Interaktion zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Akteuren in anderen gesellschaftlichen Bereichen studieren würde. Dennoch ist es wichtig zu zeigen, dass es zumindest eine Sphäre gab "in which German Jews demonstrated surprising ease in their interaction with the Gentile majority" (4). Ohne diesen Aspekt wäre das Bild jüdischen Lebens um 1900 genauso unvollständig wie eine Geschichte der deutschen Populärkultur, die auf jüdische Akteure verzichten wollte.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Peter Sprengel: Populäres jüdisches Theater in Berlin von 1877 bis 1933, Berlin 1997, 7.

[2] Zur Geschichte der Skandale im Kaiserreich sei nur auf die im Erscheinen begriffene Monografie Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien im Kaiserreich und Großbritannien 1880-1914, München 2009 von Frank Bösch, sowie auf dessen Aufsätze verwiesen.

Tobias Becker