Emily Baragwanath: Motivation and Narrative in Herodotus (= Oxford Classical Monographs), Oxford: Oxford University Press 2008, xii + 374 S., ISBN 978-0-19-923129-4, GBP 65,00
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In der Einleitung seiner Historien nennt Herodot als sein Ziel, die großen und erstaunlichen Taten von Griechen und Barbaren nicht "ruhmlos" werden zu lassen. Dieses hehre Ziel steht oft in Spannung, wenn nicht sogar in scharfem Kontrast zu seiner Analyse und Darstellung der menschlichen - oft nicht schmeichelhaften - Motive, die hinter diesen Taten stehen. Darauf hat schon Plutarch in seiner Schrift de malignitate Herodoti hingewiesen und diese Spannung als Irreführung (apate) des Lesers interpretiert.
Emily Baragwanath liefert eine andere Erklärung. Sie sieht in den Brüchen, Inkongruenzen und Leerstellen - etwa in der Charakterisierung des Kroisos als tief religiösen Menschen auf der einen und seiner "gottlosen" Behandlung seines Bruders Pantaleon auf der anderen Seite (1, 92) - eine Aufforderung an den Leser, bei der Lektüre innezuhalten und über das frühere Geschehen nochmals zu reflektieren. Herodots Adressaten seien aufmerksame Leser oder geschulte Zuhörer, die implizit aufgefordert sind, eine aktive Stellung zu beziehen.
Als Nagelprobe für ihre an Wolfgang Isers "reader response theory" angelehnte These interpretiert Baragwanath - überzeugend - in ihrem 1. Kapitel die Geschichte von den "tyrannenfeindlichen" Alkmeoniden von Herodots Leugnen ihres Verrates bei Salamis (6, 121) als Signal, sich der Familiengeschichte der Alkmeoniden und ihrer Beziehungen zu verschiedenen Despoten und Tyrannen zu erinnern. [1]
In den folgenden Kapiteln wird die These weiter entwickelt. Baragwanath untersucht vor allem zweierlei: das häufig zu beobachtende Phänomen, dass Herodot seinen Lesern mehrere Motive präsentiert, sowie die Wirkung, die durch die Präsentation von unterschiedlichen Perspektiven (durch verschiedene Sprecher, Kontexte, Zeitstufen etc.) entstehen.
Im 2. Kapitel ("The Homeric background") arbeitet Baragwanath Parallelen zwischen Herodots und Homers Erzählstrategien (etwas übertrieben als "Homer was the only model available" (35) charakterisiert) heraus, insbesondere was die Verwendung eines (scheinbar) allwissenden Erzählers und die Darstellung der Motive von Personen durch Auswahl von psychologisch stimmigen Details anbelangt.
Wie schon M. R. Christ [2] gezeigt hat, sind gerade die "enquiring kings" bei Herodot ein Modell für den Leser, um zu einem besseren Verständnis der Motive und der Handlung zu gelangen. Dieser metatextuelle Bezug wird vor allem an Hand von Leonidas´ Verhalten gegenüber den Thebanern im 3. Kapitel ("Construction of motives and the historian´s persona") anschaulich gemacht.
Dass sich Herodot der Probleme beim Aufspüren und Herausarbeiten von Motiven durchaus bewusst war, zeigt Baragwanath in Kapitel 4 ("Problematized motivation in the Samian and Persian logoi (Book III)"). Vom Leser erkannte Motive sollen eine Dissonanz von Intention und Aktion der Handlungsträger aufzeigen. Hier möchte Baragwanath einen signifikanten Unterschied zu Thukydides ausmachen, bei dem die Kongruenz von Absicht und Handlung durchgängig gegeben ist. Dagegen konfrontiere Herodot den Leser geradezu mit Lücken zwischen der Motivation und der Handlung. Nach Meinung des Rezensenten wird diese korrekte Beobachtung aber zu sehr verallgemeinert. Auch Thukydides nennt gelegentlich mehr als nur ein Motiv, wie umgekehrt auch bei Herodot nicht immer Lücken oder Brüche zwischen Intention und Handlung zu erkennen sind.
In Kapitel 5 ("For better, for worse ...: motivation in the Athenian logoi [Books I, V, and VI] ") untersucht Baragwanath eine schon oft kommentierte Technik Herodots genauer: seine Präsentation von divergierenden Alternativen. Wie schon Plutarch bemerkt hat, neigt Herodot zu polarisierenden Erklärungen (von F. Hartog als "Regel von der Mitte" bezeichnet) - allerdings nicht, wie Plutarch wollte, um Lob und Tadel zu verteilen, sondern, wie Baragwanath interpretiert, um den Leser aufzufordern, die unvereinbaren Alternativen selbst zu einem kohärenten Bild zusammen zu schauen oder eine eigene Perspektive zu entwickeln.
In den nächsten Kapiteln untersucht Baragwanath vor allem die Rolle der Rhetorik in der Frage der Motive: Inwieweit bilden die Reden von Gruppen (6: "'For freedom´s sake ...': motivation in the Ionian Revolt [Books V-VI]" und 7: "To medize or not to medize ...: compulsion and negative motives [Books VII-IX]") und Personen vielleicht nur teilweise genannte Motive ab?
Überzeugend wird argumentiert, dass z. B. die athenische Ablehnung des Medismos aus noblen Gründen in ihrer eigenen Rede (8, 144) durch andere Aussagen (wie 9, 11) für den aufmerksamen Leser als bloße Rhetorik entlarvt und konterkariert werden soll. Wie Baragwanath richtig folgert, lassen sich Motive bei Herodot nicht unmittelbar aus dem, was gesagt wird, ablesen.
Die letzten beiden Kapitel sind zwei zentralen Gestalten der Historien, Xerxes und Themistokles, gewidmet. Von der Schwierigkeit, zwischen dem Erzähler, der die Sichtweise seines Protagonisten einnimmt, und dem Erzähler, der mit seinem Protagonisten sympathisiert, zu trennen, und von der Differenz, die zwischen den einer Person zugeschriebenen Motiven und der Erklärung des Handelns derselben Person besteht, handelt Kapitel 8 ("Xerxes: motivation and explanation [Books VII-IX])".
Zuletzt (9: "Themistocles: constructions of motivation [Books VII-IX])" bespricht Baragwanath die Möglichkeiten eines "unreliable narrator", die wechselnden Perspektiven und die Bedeutung einer retrospektiven Sichtweise. Hier versucht Baragwanath etwa, Herodots laues Lob der Verdienste des Themistokles in ein helleres Licht zu stellen. Ein geschultes Auditorium hätte seine sukzessive Beschreibung der verschiedenen Aktionen des Themistokles in das Bild eines planvoll agierenden Strategen überführt, was dann bei ihm größere Wirkung erzielt als ein explizit ausgesprochenes Lob (das etwa Themistokles´ Rivalen Aristeides zuteil geworden ist). Ob mit dieser Aufgabe das Publikum nicht doch überfordert war?
Baragwanath hat ein gutes und stimulierendes Buch geschrieben. Herodot wird nicht nur, wie üblich, als ein Meister der Erzählkunst, sondern auch als ein scharfsinniger und planvoller Historiker porträtiert. In Baragwanaths Sichtweise erscheint er als ein Autor, der über die souveräne Beherrschung aller literarischen Techniken hinaus auch mit den epistemologischen Beschränkungen und methodischen Problemen der Geschichtswissenschaft bestens vertraut ist.
In diesem überaus suggestiven Bild stecken aber auch Probleme. Herodot der Autor und Herodot der Historiker gehen nach Baragwanath vollständig ineinander auf. Dadurch werden aber wichtige Fragen ausgeblendet (oder jedenfalls unter- oder nachgeordnet): Wie war Herodots eigene Meinung? Gab es nicht auch persönliche oder gar politische Motive bei der Auswahl und der Präsentation der Geschichten? [3] Wie war die Wirkung von Herodots Schilderung - etwa der Manöver eines Themistokles vor Salamis - auf die Hörer- und Leserschaft (und zwar nicht nur die athenische, an die Baragwanath zugegebenermaßen gelegentlich denkt)?
Nach Baragwanath forderte Herodot von seinen Lesern, dass sie Diskrepanzen zwischen Herodots eigener Aussage und dem Argumentationsgang bzw. der Beschreibung eines Geschehens bemerken und bewerten. Man fragt sich, warum Herodot dies nicht deutlicher gesagt hat. Und was sollte Herodots eigenes Motiv sein, die Dinge in dieser verschlüsselten Art und Weise darzustellen? Anders herum gefragt: spielt Herodot wirklich mit offenen Karten? Dieser Rezensent glaubt: nein.
Anmerkungen:
[1] Isers (und Baragwanaths) Haltung unterscheidet sich aber etwa von E. Badians "subtle silences" (Herodotus on Alexander I of Macedon: A Study in Some Subtle Silences. In: S. Hornblower (Hrsg.): Greek Historiography, 1994, 107-30) insofern, als Hornblower in dieser Sichtweise nicht bewusst etwas unterdrückt und damit eine bestimmte andere Sichtweise fördern will.
[2] Herodotean Kings and Historical Inquiry. In: Classical Antiquity 13 (1994), 167-202.
[3] Vgl. etwa zuletzt dazu: Elizabeth Irwin: Herodotus and Samos: Personal or Political? In: Classical World 102 (2009), 395-416.
Klaus Geus