Patrick Schmidt: Wandelbare Traditionen - Tradierter Wandel. Zünftische Erinnerungskulturen in der Frühen Neuzeit (= Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit; Bd. 36), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2009, 486 S., ISBN 978-3-412-20302-3, EUR 59,90
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Die vorliegende Arbeit, eine an der Universität Gießen verfasste Dissertation, untersucht frühneuzeitliche zünftische Erinnerungskulturen am Beispiel der Reichsstädte Frankfurt am Main, Nürnberg, Köln und Straßburg. Dieses Buch stellt somit einen Versuch dar, die Zunft- bzw. Handwerksgeschichte mit einem der großen Themen der Neuen Kulturgeschichte, das sich insbesondere in Anlehnung an die Forschungen von Jan und Aleida Assmann entwickelt hat, auf systematische Weise zu verknüpfen. Dies impliziert in weiterer Folge eine Konzentration auf Quellen, die von der sozial- und wirtschaftshistorischen Handwerksgeschichte der letzten Jahrzehnte nur wenig Beachtung gefunden haben, beispielsweise die sogenannten Zunftaltertümer. Schmidt zieht auch gängige Quellengattungen wie beispielsweise Meisterbücher heran, gewinnt diesen aber neue Aspekte ab.
Der Autor geht in seiner Arbeit davon aus, "dass zünftischer Erinnerung und Identität bewusste und aktive Konstruktionsleistungen zugrunde lagen, die stets von neuem vollzogen werden mussten, um der eigenen Zunft Stabilität und Kohäsion zu verleihen" (15). Damit thematisiert diese Arbeit die Frage, wie es um die Gruppenkohäsion im frühneuzeitlichen Handwerk bestellt war und welche Rolle Zünfte dabei spielten. Überspitzt formuliert, hat die ältere Forschung in Zünften eine das Leben, die Interessen und die Mentalitäten ihrer Mitglieder bestimmende Gruppe gesehen. Die Frühe Neuzeit wurde als Periode einer zunehmenden Lockerung dieser umfassenden Bindung betrachtet, was bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als Verfall der Zünfte interpretiert worden ist. Die jüngere Forschung wiederum hat die Bedeutung der Zünfte für die Handwerker in zweierlei Hinsicht relativiert: Zum einen fanden gewichtige Teile der gewerblichen Produktion außerhalb zünftischer Regulierung statt, und zum anderen waren Handwerksmeister eben mehr als Zunftmitglieder. Die Frage nach der Bedeutung der Zünfte in der Frühen Neuzeit, nach den Veränderungen bzw. Unterschieden dieser Bedeutung hat ein neues Forschungsfeld eröffnet, das die Identitäten von Zunftmitgliedern untersucht. Diese wiederum sind ohne eine Diskussion von Erinnerungskulturen nicht zu klären, weshalb die Untersuchung von Themen, die in der sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Handwerksgeschichte eher stiefmütterlich behandelt worden sind, wie beispielsweise die Rituale des Totengedenkens, durchaus folgerichtig ist.
Der Autor bestätigt, dass ein größerer Teil der zünftischen Texte dem unmittelbaren Verwandlungshandeln diente, zeigt aber auch, dass dies gleichwohl in vielen Fällen die Voraussetzung für zünftische Erinnerungskulturen war. Das pragmatische Gedächtnis ist demnach nicht trennscharf vom kulturellen Gedächtnis abzugrenzen. Damit verbunden war die Selektivität zünftischen Erinnerns. Es wurde, so Schmidt, bewusst ausgewählt, "welche Begebenheiten oder Personen langfristig in das kulturelle Gedächtnis der Zunft eingehen und damit ihr Selbstbild prägen sollten, und welche nicht" (424). Die Frage der Selektivität bezieht sich aber natürlich auch darauf, wer über die soziale Memoria im Zunfthandwerk entschied: Letztlich waren zünftische Erinnerungskulturen maßgeblich von den zünftischen Eliten abhängig. Diese kontrollierten die offizielle zünftische Schriftlichkeit, scheinen aber auch häufiger als Stifter in Erscheinung getreten zu sein. Dieser zentrale Aspekt, der bislang noch kaum erforscht worden ist, wird von Schmidt in vielen Bereichen diskutiert, kann aber schon aufgrund der Quellenproblematik kaum erschöpfend behandelt werden.
Variationsbreite und Wandel zünftischer Erinnerungskulturen werden in dieser Arbeit nicht nur durch den Untersuchungszeitraum (17. und 18. Jahrhundert) in den Blick genommen, sondern auch durch die ausgewählten empirischen Beispiele. Mit den Städten Köln, Frankfurt am Main, Straßburg und Nürnberg wurden eine katholische und drei protestantische Städte gewählt, was auf die Bedeutung der Reformation für Erinnerungskulturen und die zur Verfügung stehenden Erinnerungsmedien verweist. Schmidt bestätigt dabei konfessionelle Unterschiede zünftischer Erinnerungskulturen, wenn er auf den Stellenwert von Wappenabbildungen, Porträts usw. in den Meisterbüchern der protestantischen Städte sowie auf die Bedeutung von Ursprungserzählungen im Unterschied zu den Kölner Beispielen verweist. Deutlich wird dieser konfessionelle Faktor auch bei Kapital- und Objektstiftungen, die sich in den Zünften der protestantischen Städte im Unterschied zu Köln häufig nachweisen lassen und die für Schmidt den "'Königsweg in das Gedächtnis der Zunft'" (425) darstellen.
Darüber hinaus stehen mit Straßburg und Köln zwei Städte mit politischen Zünften, also politisch einflussreichen, in ihrer Mitgliederstruktur aber äußerst heterogenen und über das Handwerk hinausreichenden Gruppen, den Städten Nürnberg und Frankfurt gegenüber, wo das Handwerk politisch in deutlich geringerem Maße Einfluss auszuüben vermochte. Dass die heterogene Struktur der Straßburger Zünfte die Ausbildung spezifischer Erinnerungskulturen nicht begünstigt hat, wird grundsätzlich bestätigt, wenngleich Schmidt deutlich macht, dass das Straßburger Handwerk stärker in die städtische Erinnerungskultur integriert war als etwa jenes in Frankfurt oder Nürnberg, wo die vielfältigen memorialen Praktiken, wie sie sich in der zünftischen Überlieferung finden, eine gewissermaßen kompensatorische Funktion in den patrizisch geprägten politischen Kulturen dieser Städte erfüllen sollten.
Insgesamt gesehen, ist Schmidts Versuch, eine zentrale Perspektive der Neuen Kulturgeschichte auf das Feld der Handwerksgeschichte zu übertragen, als geglückt zu bezeichnen. Der Autor argumentiert vorsichtig und vermeidet allzu weit reichende oder voreilige Schlussfolgerungen. Schließlich entsteht damit beim Leser auch ein Bild davon, was auf Grundlage des vorhandenen Materials gesagt werden kann und was nicht. Gelegentlich mag sich dem sozialhistorisch geschulten Leser die Frage nach der Repräsentativität einzelner gewählter Beispiele aufdrängen, aber ein herkömmliches Verständnis von Repräsentativität wäre für eine kulturhistorisch angelegte Untersuchung nicht adäquat. Zugleich bieten zahlreiche Aspekte von Schmidts Untersuchung Anknüpfungspunkte für die sozialhistorisch ausgerichtete Handwerksgeschichte, was beispielsweise bei den Stiftungen deutlich wird.
Thomas Buchner