Rezension über:

Markus Fleischhauer: Der NS-Gau Thüringen 1939-1945. Eine Struktur- und Funktionsgeschichte (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe; Bd. 28), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2010, 403 S., ISBN 978-3-412-20447-1, EUR 49,90
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Rezension von:
Bernhard Gotto
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Bernhard Gotto: Rezension von: Markus Fleischhauer: Der NS-Gau Thüringen 1939-1945. Eine Struktur- und Funktionsgeschichte, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 2 [15.02.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/02/18001.html


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Markus Fleischhauer: Der NS-Gau Thüringen 1939-1945

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Wenn ein Autor im Untertitel eines Werkes über den Nationalsozialismus von "Struktur" und "Funktion" spricht, dann dämmern unwillkürlich Erinnerungen an kategoriale Auseinandersetzungen herauf, die in den 1970er und 1980er Jahren erbittert geführt wurden. In der Tat signalisiert der Untertitel, dass der Autor sich der Frage nach Funktionsmechanismen und Herrschaftstechniken der NS-Diktatur zuwendet. Diesen billigt der Autor ein relativ hohes Maß an Effizienz und Praktikabilität zu und sucht die Gründe dafür in den regionalen Mittelinstanzen. Das ist nicht ganz so neu, wie die ausgesprochen kenntnisreiche Einleitung vorgibt, denn niemand würde heute das 'Dritte Reich' noch als Kompetenzenwirrwarr abtun. Dessen ungeachtet hebt sich der engere Untersuchungsgegenstand Fleischhauers, die Organisation der Aufrüstung und Kriegswirtschaft, deutlich von "weicheren" Themen kulturgeschichtlich inspirierter Zugriffe ab. Diese Wahl ist höchst plausibel, weil tiefere Einsichten auf diesem neuralgischen Feld die immer wieder festgestellten Mobilisierungserfolge des Regimes konkret zu erklären versprechen. Ebenso konsequent ist die Entscheidung, das Schwergewicht der Untersuchung auf die Kriegsphase zu legen.

Das Buch ist in fünf Teile gegliedert: Zunächst analysiert Fleischhauer die strukturelle Entwicklung der NS-Gaue zu funktionalen Ordnungseinheiten im Aufbau des NS-Staates bis 1939. Besonderes Augenmerk legt er dabei auf Thüringen und untersucht dort die Herausbildung von neuartigen politisch-administrativen Steuerungsinstrumenten. Der dritte und vierte Teil vertiefen diese Perspektive. In ihnen analysiert der Autor die Organisation von Kriegswirtschaft und Rüstung in Thüringen; diese Abschnitte sind chronologisch strukturiert und durch die Zäsur von 1942 voneinander getrennt, perspektivisch und argumentativ bilden sie aber eine Einheit und den analytischen Kern der Dissertation. Flankiert wird er von zwei Großkapiteln, die auf zwei Politikfeldern Problemlösungsstrategien und die Steuerungskapazitäten im Detail untersuchen, und zwar die Evakuierungen nach und aus Thüringen sowie kriegswirtschaftliche Mobilisierungsstrategien der Rüstungsdienststellen. An und für sich ist dieser Aufbau stringent. Aber die chronologischen Hauptteile haben eine inhaltliche Binnengliederung, während die einem strukturellen Zugriff folgenden Abschnitte chronologisch untergliedert sind. In der Folge argumentiert der Autor in allen Großkapiteln auf ähnlichen Feldern in ähnlicher Weise. Seine Thesen gewinnen dadurch an Überzeugungskraft, der Lesefluss leidet dagegen unter Redundanzen.

Fleischhauer fokussiert seine Organisationsanalyse auf den von Rüdiger Hachtmann entlehnten Begriff der "neuen Staatlichkeit" (83). [1] Darunter versteht er institutionsübergreifende Foren und Kommunikationskanäle, die Vertreter von Reichs-, Staats- und Kommunalbehörden, der NSDAP, von Sonderbehörden und aus Wirtschaftsorganisationen zusammenführten. Sie konnten institutionalisiert oder informell organisiert sein, ihr Zweck bestand darin, in der Mittelinstanz Steuerungsdefizite auszugleichen, die aus widerstreitenden Kompetenzzuweisungen erwuchsen. Sie ersetzten die bestehenden Institutionen nicht, drängten sie jedoch in den Hintergrund: "Informelle Beziehungen und neue Gremien im Gau Thüringen bildeten jene Orte, an denen Politik gemacht wurde." (98)

Die Mittelinstanz verwandelte das in den Chefetagen des Führerstaats angerichtete Chaos wieder in zielgerichtete Herrschaft, so lautet zugespitzt die Hauptthese des Buches (246 f., 359). Voraussetzung dafür war, dass alle Macht außerhalb der Wehrmacht in Thüringen an der Spitze bei Gauleiter und Multifunktionär Fritz Sauckel zusammenlief. Dank seiner Funktion als Entscheidungskompetenz und letzte Appellationsinstanz gab es kein dauerhaftes lähmendes Patt in Machtkämpfen zwischen rivalisierenden Instanzen. Dazu trug Sauckels integrierender, kommunikativer Führungsstil und sein Organisationsgeschick in erheblichem Maße bei. Das allein hätte aber nicht ausgereicht, um die NS-Herrschaft in Thüringen so effizient zu machen. Sauckel konnte sich darauf verlassen, dass die staatlichen, parteiseitigen, militärischen und wirtschaftlichen Eliten seines Herrschaftsgebietes seinen politischen Zielvorgaben im Wesentlichen folgten. Dabei riskierten sie keinen Konflikt, denn Sauckel vertrat rigoros die NS-Ideologeme, welche er mit unbedingter Führertreue gegenüber Hitler und konsequenter Interessenpolitik für Thüringen verband.

Seine Kernthese veranschaulicht Fleischhauer an zahlreichen Beispielen. Akribisch schildert er unzählige Koordinierungsstäbe, Kommunikationskanäle, Netzwerkstrukturen und Steuerungsinstanzen. Ihr stilprägendes Vorbild schuf sich Sauckel in der Vierjahresplanorganisation. Manche reichten über Thüringen hinaus, wie etwa der informelle Arbeitskreis mittel- und süddeutscher Provinzial- bzw. Landesernährungsämter, die ab Oktober 1942 regelmäßig Erfahrungen und Problemlösungsstrategien austauschten, obwohl sie deswegen den Unmut des Reichsernährungsministeriums auf sich zogen. Die meisten waren jedoch auf Gauebene organisiert, beispielsweise der Führungsstab Wirtschaft oder der Munitionsausschuss. Herausragende Bedeutung hatte der RV-Ausschuss, den Sauckel in seiner Eigenschaft als Reichsverteidigungskommissar einberief. Er vereinte praktisch alle kriegswirtschaftlich relevanten Funktionsträger des Reichsverteidigungsbezirks und diente als "Basis für modernes Konfliktmanagement und Interessenabgleich" (141). Ein kleiner Führungsstab fungierte als Steuerungsorgan. Das Koordinationszentrum für alle Präventions- und Rettungsmaßnahmen im Luftkrieg bildete der Gaueinsatzstab, der einen Unterbau in Form analog zusammengesetzter Gremien auf der Lokal- und Kreisebene besaß. Das gemeinsame Kennzeichen all dieser Steuerungsgremien war, dass sie erstens die Ebenen von Staat, Wehrmacht, Partei und Wirtschaft zusammenführten und daher im Idealfall deren materielle und personelle Ressourcen für ein gemeinsames Ziel mobilisieren konnten. Dies gilt vor allem für die ehrenamtlichen Funktionäre der NSDAP und ihrer Nebenorganisationen, die ein erhebliches Reservoir an Arbeitskraft bereithielten. Zweitens verarbeiteten diese Runden in hohem Maße praktische, vor Ort gewonnene Erfahrungen.

Aus diesen Gründen ist es sehr plausibel, dass Fleischhauer ihnen so großen Stellenwert beimisst und der NS-Herrschaftsorganisation ein gutes Zeugnis ausstellt. Leider wird nur selten klar, welche konkreten Effizienzgewinne das viele Koordinieren und Kommunizieren abwarf. Ein Beispiel sind die sogenannten "Stilllegungsaktionen", also Betriebsschließungen, die das Ziel hatten, Arbeitskräfte, Material und Maschinen in die Rüstungswirtschaft zu lenken. Durch ein koordiniertes Vorgehen zwischen Bezirkswirtschaftsamt, Landesarbeitsamt und Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz sank die Zahl der Einsprüche von betroffenen Firmen zwar deutlich, eine nennenswerte Zahl einsatzfähiger Arbeitskräfte kam dabei aber nicht heraus (208-211, 254 f.). Häufig erfährt der Leser jedoch nur, welche Gremien es gab, wer daran beteiligt war und über welche Themen sie wie häufig sprachen. Was dabei herauskam, bleibt oft im Dunkeln. So bleibt die Frage nach konkreten Mobilisierungserfolgen unbeantwortet.

Der Autor zeichnet das Bild eines hochkommunikativen, dynamischen und flexiblen Herrschaftsapparates. Diese Charakterisierung ist stimmig und trifft zweifelsohne nicht nur auf Thüringen zu. Doch wie neu ist diese Form der Staatlichkeit? Koordination zwischen Behörden unterschiedlicher Machtprovenienz, regionale Feinabstimmung und Erfahrungsaustausch sind keine Erfindungen der Nationalsozialisten, sondern Kennzeichen moderner Bürokratien in komplexen Industriegesellschaften. Auch Sauckels Regionalpolitik bediente sich machtpolitischer Arrondierungstechniken, die nicht nur unter den Rahmenbedingungen der NS-Diktatur vorstellbar sind. Sein Beispiel zeigt, dass auch Nationalsozialisten zu erfolgreichem Politikmanagement fähig waren. Die Herausbildung einer ausgeprägten Territorialherrschaft Sauckels betont der Autor überdeutlich; dass sie keineswegs "hermetisch abgeriegelt" (359) war, belegt das Buch selbst an vielen Stellen.

Insgesamt hat Fleischhauer eine überzeugende, weit über Thüringen hinausweisende Studie vorgelegt, in der eine Menge Fleiß, Scharfsinn und Überzeugungskraft stecken. Ärgerlich ist, dass er in den zahlreichen Quellenbelegen zwar den genauen Provenienznachweis, nicht aber Absender, Adressat und Datum nennt. Über weite organisationsgeschichtliche Strecken strapaziert der Autor die Geduld seiner Leser. Davon sollte sich aber niemand abschrecken lassen, denn tiefere Einsichten in das Organisationsgeflecht und die Funktionsweisen des NS-Regimes im Krieg finden sich in kaum einem anderen Werk.


Anmerkung:

[1] Rüdiger Hachtmann: "Neue Staatlichkeit" im NS-System - Überlegungen zu einer systematischen Theorie des NS-Herrschaftssystems und ihrer Anwendung auf die mittlere Ebene der Gaue, in: Jürgen John / Horst Möller / Thomas Schaarschmitt (Hgg.): Die NS-Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen "Führerstaat", München 2007, 56-79.

Bernhard Gotto