Sibylle Schnyder: Tötung und Diebstahl. Delikt und Strafe in der gelehrten Strafrechtsliteratur des 16. Jahrhunderts (= Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Fallstudien; Bd. 9), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2010, 209 S., ISBN 978-3-412-20545-4, EUR 29,90
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Im Jahr 1993 legte die Deutsche Forschungsgemeinschaft einen Forschungsschwerpunkt auf, der antrat die bis dahin teils noch holzschnittartigen Vorstellungen vom Prozess der "Entstehung des öffentlichen Strafrechts" durch ein differenzierteres Bild zu ersetzen. Im Laufe der Forschungen wurde die Zielsetzung dahingehend präzisiert, die Wege zur Durchsetzung eines staatlichen Strafanspruchs nachzuvollziehen. Eine Vielzahl von Veröffentlichungen ist in und um diesen internationalen und interdisziplinären Forschungszusammenhang und seine Publikationsreihen erschienen. Sie beleuchten die Konjunkturen und Formen öffentlichen Strafens in den Gesellschaften Alteuropas seit der Spätantike, untersuchen auch andere, etwa kirchliche und soziale Sanktionsformen und Praktiken der Konfliktregulierung in ihrem gesellschaftlich-historischen Kontext oder behandeln, wie Sibylle Schnyder es in ihrer juristischen Dissertation (Basel 2008) tut, rechtliche und theologische Diskurse, in denen der Gedanke eines öffentlichen und hoheitlichen Strafrechts sich herausbildete.
Schnyder nimmt innerhalb des Themenspektrums einen wichtigen Zeitraum in den Blick: das 16. Jahrhundert. Häufig wird es als eine Übergangszeit charakterisiert, in der im Reich die Rezeption des römischen Rechts auf der normativen Ebene mit dem Erlass der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. (Carolina) im Jahr 1532 einen Meilenstein erreicht hatte, die Rechtspraxis jedoch weiterhin von gemeinrechtlichen Gewohnheiten durchdrungen blieb. Die Arbeit Schnyders zeigt, dass die Charakterisierung als Übergangszeit auch für Gebiete in Europas Süden bzw. Südwesten zutreffend ist.
Inhaltlich zielt die Autorin darauf ab, "einen Eindruck des Strafrechtsverständnisses" (15) in der juristischen, kanonistischen und moraltheologischen Literatur der Zeit (mit Rückgriffen bis ins 13. Jahrhundert) zu vermitteln. Die behandelten Autoren stammen aus dem spanisch-italienisch-französisch-niederländischen Raum und stehen mehr oder weniger stark mit der spanischen Spätscholastik in Verbindung.
Konkret fragt Schnyder, wie die ausgewählten Autoren das Verhältnis von Delikt und Strafe beschreiben. Sie bearbeitet dieses Thema beispielhaft an der Behandlung der beiden gravierenden Vergehen Tötung und Diebstahl in deren Schriften. Sie untersucht die zeitgenössischen Begriffsbestimmungen von Delikt und Strafe und arbeitet heraus, wie Fragen der Zurechnung und der Strafzwecke diskutiert wurden, welche Positionen es zu Tatbestandsmerkmalen, Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen gab und was die Autoren zu Strafarten und zur Strafzumessung schrieben.
Die Autorin gliedert ihre Arbeit übersichtlich in sechs Teile. Auf die kurze Einleitung (1.) folgt ein kleineres Kapitel zu den untersuchten Schriftgattungen und Autoren (2.), dann ein größeres zum Delikt (3.), eines zur Strafe (4.), eines zur "Proportionalität von Delikt und Strafe" (5.) und schließlich eine prägnant formulierte, knappe Zusammenfassung (6.).
Wie sich erst beim Lesen der Arbeit in Gänze herausstellt, trägt die Autorin unmittelbar zum Kernpunkt des übergeordneten Forschungszusammenhangs bei. An vielen Stellen zeigt Schnyder auf, dass Delikte von den gelehrten Autoren des 16. Jahrhunderts unter anderem als Vergehen gegen die respublica bzw. den Fürsten und das allgemeine Wohl (bonum commune) gesehen werden. Die Ahndung von Straftaten wird in diesem Zusammenhang zur "Staatsnotwendigkeit" (118). Die staatstheoretischen Überlegungen der Zeit begünstigten es, die hoheitliche Strafbefugnis aus der Natur des Staates oder von Gott abzuleiten. Nur einige der Autoren sehen die öffentliche Strafgewalt als von den Bürgern übertragen an. Generell wird die Privatstrafe oder -rache (vindicta privata) in Frage gestellt und nur die öffentliche Strafe (vindicta publica) als erlaubt angesehen.
Laut Schnyder haben die untersuchten Gelehrten des 16. Jahrhunderts die "theoretischen Grundlagen für die Begründung einer hoheitlichen Strafkompetenz" (190) geschaffen. Die Autorin weist aber ebenso auf die Herausforderung hin, die für die Verfasser darin bestand, "die Theorie von der ausschließlichen und selbständigen öffentlichen Strafe mit den Tatsachen des Rechtsalltags zu vereinen" (134). Schließlich war die Praxis noch immer stark von gemeinrechtlichen Gewohnheiten und der Privatjustiz geprägt. Aus diesem Spannungsfeld lassen sich abschwächende Positionen erklären. So setzen etwa viele Autoren für Begnadigungen, die einzig dem obersten Fürsten vorbehalten sein sollten, die Einwilligung der Geschädigten bzw. der Hinterbliebenen voraus. Auf diese Weise relativieren sie die "staatliche Gnade" (137). Einige sehen den Friedensschluss zwischen Opfer und Täter als Strafmilderungsgrund an, der eine poena extraordinaria erlaubt, die milder ist als die gesetzlich vorgesehene Leibes- oder Lebensstrafe.
Als weitere wichtige Ergebnisse der Studie sind folgende Punkte zu sehen: Die geschilderten Auffassungen von der Bindung der Strafgewalt an die respublica bzw. den Fürsten im Interesse des bonum commune hatten bedeutsame Folgen für die Lehre von den Strafzwecken. Gegenüber älteren Vorstellungen von der Vergeltung und Wiederherstellung der göttlichen und irdischen Ordnung wird im 16. Jahrhundert der Präventions- und Besserungszweck der Strafe in den Vordergrund gerückt.
Als allgemein anerkannt galt die Strafzumessung gemäß der Schuld, wenn auch einige Autoren Ausnahmen zum Zwecke der utilitas reipublicae sahen. Breit diskutiert wurden Entschuldigungs- und Strafmilderungsgründe. Die Debatte zeichnete sich durch eine "Vielfalt von Meinungen und Auffassungen" (190) aus und dokumentiert so die Lebendigkeit der Strafrechtswissenschaft des 16. Jahrhunderts.
Als Vergleichspunkt zu den vorgestellten Positionen dienen Schnyder in der Regel Aussagen des Thomas von Aquin. Weitere Einflüsse und Anregungen müssen aber als denkbar und wahrscheinlich angesehen werden. So erinnert die Denkfigur der Verletzung der respublica durch ein crimen an die Vorstellung der Verletzung der ecclesia durch die manifeste Sünde, wie sie zum Beispiel in Quellen des 10. Jahrhunderts zu finden ist, etwa in dem pseudoaugustinischen Trakat "De vera et falsa penitentia" oder bei Regino von Prüm. Dort wird zum Ausgleich satisfactio oder emendatio (öffentliche Genugtuung) gefordert.
Hinweise auf einige neuere Arbeiten, die ähnliche Fragen behandeln oder die Übergangsphase des 16. Jahrhunderts auch von der Seite der Gerichtspraxis her stärker erhellen, wären vielleicht wünschenswert gewesen. So hat zum Beispiel Susanne Pohl 2003 einen Aufsatz veröffentlicht, der sowohl den gelehrten Diskurs wie auch seine Anwendung in der gerichtlichen Praxis behandelt. [1]
Diese Hinweise sollen aber nicht in Frage stellen, dass Schnyder ein informatives und für die Fragen des DFG-Schwerpunkts wichtiges Buch geschrieben hat. Es ist gut lesbar, wenn sich auch Leser ohne solide Lateinkenntnisse mehr Übersetzungen und Paraphrasen der lateinischen Zitate wünschen werden. Es erhellt Aspekte der dynamischen Rechtskultur des 16. Jahrhunderts, insbesondere juristische Denkfiguren und Debatten. Die strafrechtlichen Überlegungen, die es aufzeigt, erlauben auch ein tiefer gehendes Verständnis leicht zugänglicher normativer Texte, etwa der Carolina.
Anmerkung:
[1] Susanne Pohl: Schuldmildernde Umstände im römischen Recht. Die Verhandlungen des Totschlags im Herzogtum Württemberg im 16. Jahrhundert, in: Harriet Rudolph, Helga Schnabel-Schüle (Hgg.): Justiz = Justice = Justitia? Rahmenbedingungen von Strafjustiz im frühneuzeitlichen Europa, Trier 2003, 235-256.
Friederike Neumann