Rezension über:

Harald Winkel: Herrschaft und Memoria. Die Wettiner und ihre Hausklöster im Mittelalter (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde; Bd. 32), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2010, 386 S., ISBN 978-3-86583-439-3, EUR 59,00
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Rezension von:
Stefan Pätzold
Stadtarchiv Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Martina Giese
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Pätzold: Rezension von: Harald Winkel: Herrschaft und Memoria. Die Wettiner und ihre Hausklöster im Mittelalter, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 2 [15.02.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/02/18930.html


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Harald Winkel: Herrschaft und Memoria

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Zu den Charakteristika eines Hausklosters zählen, so schreibt Harald Winkel in seiner 2006 eingereichten Marburger Dissertation, unter anderem die Gründung und Ausstattung durch Angehörige eines Adelsgeschlechts, die Beherbergung des Stiftergrabes und die Pflege des Seelengedächtnisses sowie der genealogischen Traditionen für die Stifterfamilie (14 f.). Die Hausklöster der mittelalterlichen Wettiner will Winkel daher "speziell unter dem Gesichtspunkt des aufeinander bezogenen symbiotischen Verhältnisses zwischen der geistlichen Institution einerseits und der [...] Stifterfamilie auf der anderen Seite" in den Blick nehmen (16 f.). Besonders liegt ihm daran, durch eine systematische Analyse ihres "jeweiligen intentionalen, mentalitäts- und bewusstseinsgeschichtlichen Aussagehorizonts" "die möglichen intentionalen Prägungen" der in den geistlichen Instituten entstandenen Schrift- und Sachquellen herauszuarbeiten (18).

Um diese Ziele zu erreichen untersucht Harald Winkel nach einer thematisch-methodischen Einleitung (Kap. 1, 11-19) für die Zeit vom späten 10. bis zum 15. Jahrhundert die drei wichtigsten wettinischen Hausklöster sowie die dort entstandenen schriftlichen und dinglichen Memorialzeugnisse. Ausführlich behandelt werden das Nonnenkloster Gerbstedt (Kap. 2, 21-67), das Augustiner-Chorherrenstift Lauterberg (Kap. 3, 69-140) und das Zisterzienserkloster Altzelle (Kap. 4, 141-299). Die in diesen Kapiteln gewonnenen Erkenntnisse werden in einem Resümee (Kap. 5, 301-316) zusammengefasst. Ein Anhang mit acht genealogischen Tafeln, einer Übersichtskarte zum wettinischen Einflussbereich und einem Urkundenfaksimile sowie Abkürzungs-, Quellen- und Literaturverzeichnisse, ferner Personen- und Ortsverzeichnisse beschließen die Arbeit (317-386).

Durch seine Fragestellungen und den methodischen Ansatz ordnet Winkel seine Arbeit in den Kontext der jüngeren mediävistischen Adels-, Memorial- und Mentalitätsforschung ein. Intensiv beschäftigt ihn dabei die seit den 1980er Jahren kontrovers diskutierte Frage nach dem Erkenntniswert der adligen 'Hausüberlieferung' klösterlicher Herkunft (14). In diesem Zusammenhang kommt Winkel zu folgenden grundsätzlichen Ergebnissen: 1.) Die als Hausüberlieferung bezeichneten Quellen wurden zumeist während einer Krisensituation im Rahmen einer intensivierten Erfüllung der Hausklosterfunktionen geschaffen. 2.) Der jeweiligen "Bedürfnislage der Klöster und Stifte" entsprach "die intentionale Formgebung" der Quellen (315). 3.) Diese "intentionsgeleitete Formung" (314) erlaubt Erkenntnisse über die Entstehung der Hausüberlieferung, das Verhältnis von Adelsgeschlecht und Hausklosterkonvent sowie "das dynastische Selbstverständnis der wettinischen Herrschaftsträger und das monastische Selbstverständnis ihrer verschiedenen Hausklöster" (301). 4.) In dem zuletzt genannten Aspekt wird der "spezifische Aussagewert" der Quellen als "Bewusstseinszeugnisse" besonders deutlich (301).

Der Weg, den Winkel in seiner zuverlässig recherchierten und faktenreichen Dissertation zurücklegt, ist zu weit, als dass er hier eingehend beschrieben werden könnte. Drei knapp skizzierte Beispiele müssen genügen, um Charakteristika seines Vorgehens zu verdeutlichen. So betrachtet Winkel vier Altzeller Stiftergrabmäler aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts als Memorialbilder, die vom Mönchskonvent in Auftrag gegeben wurden. Die Grabplastiken können, meint Winkel, "in der Reaktion der Zisterzienser auf die Stiftung des Klarissenklosters [gemeint ist Seußlitz im Jahr 1268] durch Heinrich den Erlauchten ihre Erklärung finden" (362). Die Stiftung des Klarissenklosters in Seußlitz durch den Markgrafen hatten die Altzeller Zisterzienser als "potentielle Gefährdung ihrer Vorrangstellung als Hauskloster der Wettiner" aufgefasst (234). Ebenfalls als ein "Mittel der Krisenbewältigung" sieht Winkel die so genannte "Reformatio" an, eine um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert im Interesse des Hausklosters Gerbstedt gefälschte Urkunde, die - "unter besonderer Herausstellung der Bedeutung der wettinischen Stifterfamilie" - "klosterintern" wirken sollte (57), indem sie den Konvent zur Verteidigung seiner Selbständigkeit und Rechte bewog. Winkel betrachtet das Stück deshalb als "Manifestation des monastischen Selbstverständnisses" (303).

Großen Raum nimmt in Winkels Buch schließlich die "Genealogia Wettinensis" ein. Sie entstand seiner Ansicht nach wohl zwischen 1211 und 1217 während einer Krise des Augustiner-Chorherrenstifts St. Peter auf dem Lauterberg. Wie die Reformatio sollte sie "intern" (122) wirken. Winkel stellt sich das so vor: Um der "Statusgefährdung" (313) zu begegnen, intensivierte die Kanonikergemeinschaft ihr Gebetsgedenken für die Stifterfamilie und "erbrachte auf diese Weise den Nachweis ihrer Existenz, führte ihre Zweckbestimmung vor und besann sich ihres Selbstverständnisses" (131). "Bei diesen Vorgängen darf man eine Reorganisation des gesamten Gedächtniswesens erwarten [...]. Hier ist der Schritt zur Abfassung eines außerliturgischen Schriftzeugnisses hausklösterlicher Historiographie [...] nicht mehr weit" (132 f.). Diese Sicht der Dinge hatte Harald Winkel bereits in einem 1999 erschienenen Aufsatz - teilweise wortgleich - dargestellt.[1] Sie wurde 2007 von Stefan Pätzold eingehend diskutiert und infrage gestellt.[2] Darauf geht Winkel aber nur kurz in einer Fußnote ein (122 A. 549).

Gerade am Beispiel der Genealogie wird nun deutlich, dass Winkel keineswegs alle denkbaren Entstehungsumstände der von ihm behandelten Quellen berücksichtigt und abwägt. Wäre es aber nicht auch einlässlich zu prüfen, ob die Genealogie als eine wettinische "Auftragsarbeit" für einen "klosterexternen" Zweck verfasst wurde? Überdies bleibt die Pragmatik ihrer Entstehung bei Winkels Deutung ebenso schemenhaft wie die konkrete Vorstellung von ihrem intendierten "internen" Wirken. Und: Winkels Erkenntnis leitendes Interesse gilt zunächst (wenn auch nicht ausschließlich) den Hausklosterkonventen und ihrem Selbstverständnis. Diese Perspektive prägt seine Interpretationen. Sie folgen häufig dem bereits skizzierten Schema, dem zufolge der jeweils betroffene Konvent auf eine Krise mit der Schaffung von Texten oder Dingen reagiert habe, deren "intentionale Formung" der Entstehungssituation und dem klösterlichen Selbstverständnis Rechnung trügen.

Fazit: Harald Winkel hat eine beeindruckende, sehr solide Arbeit vorgelegt, die mit einer Fülle interessanter Beobachtungen aufwartet. Sein Buch wird freilich weitere Diskussionen auslösen, wenn es darum geht, die wettinische Hausüberlieferung zu verstehen. Aber das ist ja "die Eigenschaft des Geistes, dass er den Geist ewig anregt" (Goethe).


Anmerkungen:

[1] Harald Winkel: Die Genealogia Wettinensis. Ein Zeugnis dynastischen und monastischen Selbstverständnisses im Hochmittelalter, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 70 (1999), 1-31.

[2] Stefan Pätzold: Adel - Stift - Chronik. Die Hausüberlieferung der frühen Wettiner, in: Nathalie Kruppa (Hg.): Adlige - Stifter - Mönche. Zum Verhältnis zwischen Klöstern und mittelalterlichem Adel (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; 227), Göttingen 2007, 135-182, hier 154-170.

Stefan Pätzold