Rezension über:

Dirk Riedel: Ordnungshüter und Massenmörder im Dienst der "Volksgemeinschaft": Der KZ-Kommandant Hans Loritz (= Geschichte der Konzentrationslager 1933-1945; Bd. 12), Berlin: Metropol 2010, 424 S., ISBN 978-3-940938-63-3, EUR 24,00
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Rezension von:
Bastian Hein
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Bastian Hein: Rezension von: Dirk Riedel: Ordnungshüter und Massenmörder im Dienst der "Volksgemeinschaft": Der KZ-Kommandant Hans Loritz, Berlin: Metropol 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 2 [15.02.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/02/19165.html


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Dirk Riedel: Ordnungshüter und Massenmörder im Dienst der "Volksgemeinschaft": Der KZ-Kommandant Hans Loritz

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Spätestens seit der Goldhagen-Debatte und dem Streit um die "Wehrmachtsausstellung" zieht die sogenannte Neue Täterforschung enorme Aufmerksamkeit auf sich. Ebenso ungebrochen ist der Trend zu auflagenstarken NS-Biografien, wie sie zuletzt Peter Longerich zu Himmler und Goebbels vorgelegt hat. Da scheint eine Biografie zu einem KZ-Kommandanten zunächst wenig außergewöhnlich. Dass dieser Eindruck trügt, wird spätestens dann klar, wenn man sich vor Augen hält, dass Dirk Riedels 2009 abgeschlossene Dissertation die bislang einzige Lebensgeschichte eines KZ-Kommandanten ist, die geschichtswissenschaftlichen Standards genügt. Bislang lagen neben kürzeren Skizzen "nur" eine Gruppenbiografie zu allen KZ-Kommandanten, eine moraltheologische Arbeit zu Rudolf Höss und eine Studie zum Führungspersonal der Kommandanturstäbe vor. [1]

Karin Orth, die Verfasserin des letztgenannten Werks, hat die These aufgestellt, dass angesichts des Mangels an Ego-Dokumenten zu der von ihr untersuchten Gruppe [2] die klassisch-biografische Methode nicht anwendbar sei. Riedel tritt mit dem Anspruch an, den Gegenbeweis zu führen (26) und hat sich dazu der Mühe unterzogen, aus nicht weniger als 35 Archiven Quellenfragmente zusammenzutragen. Neben einem fünfbändigen "Nachlass", den er in den Aktenresten des KZ Dachau gefunden hat, räumt Riedel vor allem der nachträglich entstandenen Opfer-Überlieferung einen hohen Stellenwert ein. Diese Grundsatzentscheidung, die auch damit zu erklären ist, dass der Autor langjähriger Mitarbeiter der Gedenkstätte Dachau ist, führt dazu, dass die Beschreibung der Taten Loritz' eine bedrückende Anschaulichkeit und Dichte gewinnt.

In fünf großen Kapiteln, die nach den wichtigsten "Tatorten" Loritz' benannt sind, zeichnet Riedel den Werdegang seines Protagonisten nach. 1895 wurde dieser in Augsburg als Sohn eines Polizisten geboren. Nach der Volksschule erlernte er zunächst das Bäckerhandwerk und arbeitete einige Jahre in diesem Beruf, bevor er sich 1914 freiwillig zum Dienst im Ersten Weltkrieg meldete. Nach mehreren Auszeichnungen und Verwundungen wechselte Loritz 1917 als Bordschütze zur Fliegertruppe. 1918 wurde er über Frankreich abgeschossen und blieb bis 1920 in Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Rückkehr gelang ihm zunächst die soziale Reintegration. Er wurde städtischer Polizist, heiratete und bekam einen Sohn. Auf die "schiefe Bahn" geriet Loritz, als er aus einer Motorradeinheit in den Streifendienst zurückversetzt wurde. Nach dieser Kränkung häuften sich Fehlzeiten und Disziplinarstrafen, bis Loritz 1928 aus der Polizei ausschied und in den Dienst der Augsburger Stadtwerke wechselte. 1930 trat der anscheinend bis dahin weitgehend unpolitische Mann - hinsichtlich der frühen politischen Prägung Loritz' muss Riedel angesichts der Quellenlage teilweise auf Spekulationen zurückgreifen (32-33, 46) -unter dem Einfluss eines Freundes und Kollegen in die NSDAP und die SS ein. Hier fand er Bestätigung und stieg dank seiner vielfach bewiesenen Brutalität im Kampf gegen politische Gegner aber auch Abweichler aus den eigenen Reihen rasch zum Führer eines Sturmbanns, 1933 sogar einer Standarte auf. Als er sich jedoch im Zuge der 'Machtergreifung' gegenüber den Augsburger SA- und Parteiführern zurückgesetzt fühlte, reagierte er erneut undiszipliniert und wurde nach Dachau strafversetzt.

Hier führte Loritz zunächst ein "Hilfswerklager" für SS-Angehörige, die aus Österreich geflüchtet waren, wo die NS-Bewegung seit Juni 1933 verboten war. Im Rahmen dieser Tätigkeit lernte er Theodor Eicke kennen, den Kommandanten des benachbarten KZ. Als er wieder einmal mit einem Vorgesetzten über Kreuz geriet, bewarb sich Loritz 1934 bei Eicke, der mittlerweile von Himmler zum "Inspekteur der Konzentrationslager" befördert worden war. Im Sommer 1934 wurde Loritz Kommandant im KZ Esterwegen. In diesem von der SA übernommenen Lager führte er das System ein, das Eicke in Dachau entwickelt hatte. Die Häftlinge erlebten ihn als "Bestie in Menschengestalt" (117), der geringste Vergehen gegen die Lagerordnung mit grausamsten Folterstrafen ahndete und die Ermordung von mindestens 21 Menschen durch seine Untergebenen deckte.

Eicke dagegen lobte das von Loritz etablierte "mustergültige Gefangenenlager" und machte ihn im April 1936 zum Kommandanten des "Modelllagers" (139) Dachau. Hier etablierte Loritz ein noch grausameres Regiment als im Emsland. Unter anderem führte er 1937 das sogenannte Pfahlhängen als Folter ein. An Weihnachten 1938 ließ er die Häftlinge auf dem Appellplatz um einen geschmückten Christbaum antreten. Während sie singen mussten, ließ Loritz rund 20 von ihnen blutig prügeln. Allerdings war Loritz, Riedel zufolge, kein gemeiner Sadist, der die Qualen der Opfer persönlich genoss. Vielmehr war er mittlerweile ein hundertprozentig überzeugter Nationalsozialist, der in den Lagerinsassen wohl tatsächlich gefährliche "Volksfeinde" sah, deren Widerstandsgeist mit "Härte" gebrochen werden musste. Zunehmend selbstverständlich wurde es dem im KZ allmächtigen Kommandanten, sich für seine Leistungen selbst zu belohnen - etwa indem er sich von Häftlingen 1938/39 eine feudale Villa in St. Gilgen am Wolfgangsee bauen ließ.

Nachdem Loritz 1939 eine Zeit lang als Abschnittsführer bei der in Österreich nach dem "Anschluss" neu zu schaffenden Allgemeinen SS eingesetzt worden war, holte ihn Eicke kurz nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wieder ins KZ-System zurück. Als Kommandant von Sachsenhausen betrieb Loritz nun den Übergang von der Misshandlung zur Ermordung vieler Häftlinge mit. Als ihm 1941 die Aufgabe gestellt wurde, rund 10.000 sowjetische Kriegsgefangene zu ermorden, die Gestapo und SD als kommunistische "Kommissare" "selektiert" hatten, erfand Loritz mit seinen Mitarbeitern eine perfide getarnte "Genickschussvorrichtung", in der die arglosen Opfer hingerichtet wurden wie die Lämmer (257-273).

Allerdings übertrieb Loritz seinen korrupten und protzigen Lebensstil nun derart, dass er 1942 denunziert und nach Norwegen strafversetzt wurde. Hier organisierte er ein Lagersystem, in dem verschleppte Partisanen aus Jugoslawien sich zu Tode arbeiten mussten. Im April 1945 setzte sich Loritz, mittlerweile SS-Oberführer, ins neutrale Schweden ab. Als er von dort nach Deutschland ausgewiesen wurde und seine Tarnung aufflog, nahm er sich im Januar 1946 das Leben.

Obwohl, wie bereits erwähnt, manches Detail z. B. aus dem Privatleben Loritz' oder aus seiner Stellung in der deutschen "Volksgemeinschaft" aufgrund der Quellenlage blass bleibt, ist es Riedel insgesamt gelungen, Karin Orths These zu widerlegen. Sein Buch stellt einen der Protagonisten des KZ-Systems in gut lesbarer Form vor und bietet dank der biografischen Nahperspektive teilweise erschütternde Impressionen aus dem Innenleben des "Orts des Terrors". Der multikausale Ansatz zur Erklärung der Tatmotivation Loritz', den Riedel abschließend bietet (348-356), überzeugt weit mehr als eindimensionale Thesen im Stil von Goldhagen.


Anmerkungen:

[1] Tom Segev: Die Soldaten des Bösen. Zur Geschichte der KZ-Kommandanten, Reinbek bei Hamburg 1992; Manfred Deselaers: "Und Sie hatten nie Gewissensbisse?" Die Biografie von Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz, und die Frage nach seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, Leipzig 1997; Karin Orth: Die Konzentrationslager-SS. Sozialstrukturelle Analysen und biographische Studien, Göttingen 2000.

[2] Als "Einzelstücke" bemerkenswert v.a. Rudolf Höß: Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen, hg. von Martin Broszat, München 222009 und Günter Morsch (Hg.): Von der Sachsenburg nach Sachsenhausen. Bilder aus dem Fotoalbum eines KZ-Kommandanten, Berlin 2007.

Bastian Hein