Rezension über:

Christian Popp: Der Schatz der Kanonissen. Heilige und Reliquien im Frauenstift Gandersheim (= Studien zum Frauenstift Gandersheim und seinen Eigenklöstern; Bd. 3), Regensburg: Schnell & Steiner 2010, 231 S., ISBN 978-3-7954-2311-7, EUR 59,00
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Rezension von:
Monika E. Müller
Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel
Redaktionelle Betreuung:
Martina Giese
Empfohlene Zitierweise:
Monika E. Müller: Rezension von: Christian Popp: Der Schatz der Kanonissen. Heilige und Reliquien im Frauenstift Gandersheim, Regensburg: Schnell & Steiner 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 4 [15.04.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/04/18203.html


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Christian Popp: Der Schatz der Kanonissen

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Der 852 vom Sachsenherzog Liudolf und seiner Gemahlin Oda in Brunshausen gegründete Sanktimonialenkonvent wurde 881 nach Gandersheim verlegt. Durch seine Nähe zum ottonischen Herrscherhaus sowie seinen Besitz, die Privilegien und den einst überaus reichen Kirchenschatz gehörte das Damenstift zu den bedeutendsten des Reiches. Die Kleinodien sind größtenteils verloren. Erhalten haben sich jedoch zahlreiche Reliquien, die von der intensiven Verehrung der Heiligen durch die Stiftsdamen künden.

In Forschung und Öffentlichkeit war der Gandersheimer Reliquienschatz nahezu völlig in Vergessenheit geraten. Wichtige Schritte zur Behebung dieses Desiderats wurden 1995/97 mit der konservatorischen Sicherung der materiellen Überlieferung unternommen, außerdem mit der Publikation eines Tagungsbands zu Gandersheim und Essen mit Beiträgen über den Reliquienschatz sowie das älteste Gandersheimer Schatzverzeichnis. [1] Durch das von Hedwig Röckelein an der Georg-August-Universität Göttingen eingerichtete Forschungsprojekt "Frauenstift Gandersheim" waren dann die idealen Voraussetzungen für eine umfassende Aufarbeitung des Themas gegeben. In der vorliegenden Monographie präsentiert Christian Popp die Ergebnisse seines Teilprojekts über "Die Reliquien und Heiligen des Frauenstiftes Gandersheim" (2006-2008).

Das Buch umfasst vier Kapitel, die den Quellen und dem Forschungsstand, den Patronen der Stifterfamilie und dem Gandersheimer Heiligenhimmel von der Gründungs- und Blütephase in karolingischer und ottonischer Zeit bis in das 16. Jahrhundert gewidmet sind. Mit dem "Registrum chori ecclesie maioris Gandersemensis", einem liturgischen Regelwerk des 16. Jahrhunderts, wird im Anhang eine bedeutende, die Situation im Spätmittelalter widerspiegelnde Quelle ediert.

Im Kapitel über die Patrone der Stifterfamilie und die Gründungsheiligen (23-60) rekonstruiert Popp den historischen Kontext sowie den Erwerb der Reliquien von Papst Anastasius I. und Papst Innozenz I. durch das Herzogspaar Liudolf und Oda in Rom, außerdem die Kultgeschichte dieser Heiligen. Zu den Hauptpatronen des Damenstifts gehörten von der Gründung an auch Christus Salvator, Maria, Johannes Baptista und Stephanus. Sie sind in der urkundlichen und literarischen Überlieferung sowie durch Reliquien vertreten, darunter ein erstmals vorgestelltes Salvatortuch aus dem 8./9. Jahrhundert. Besonderes Ansehen dürfte dem Damenstift der Besitz zahlreicher weiterer Christusreliquien verliehen haben. Offensichtlich war auch die reiche Liturgie des Stifts zur Feier der Herrenfeste und zur Verehrung Mariens bis ins Spätmittelalter hinein davon geprägt.

Die Rolle des Hildesheimer Bischofs Altfrid (851-874) bei der Ausstattung des neuen Stifts mit materiellen Ressourcen oder spiritueller Betreuung sieht Popp im Gegensatz zur älteren Literatur eher gering an. Generell stellt er das Verhältnis Gandersheims zur Mutterdiözese in den Hintergrund oder nur kontrastiv dar und wertet den Reichtum des Stifts an Reliquien römischer Heiliger als distanzierendes Kriterium. Anmerken ließe sich hierzu, dass in jener Zeit die Romzentriertheit auch in Hildesheim ausgeprägt war (Bernwards Reise, Reliquien, Bernwardsäule, architektonische Bezüge). Wohlwollende Kontakte legen zudem die mutmaßliche Hildesheimer Herkunft der Gandersheimer Speciosa-Reliquie (131) und zahlreiche Weihehandlungen Hildesheimer Bischöfe im Stift nahe, darunter insbesondere Wigberts Münsterweihe von 881 oder Bernwards Neuweihe von 1007. Wigbert muss der Vita Bernwardi zufolge sogar als einflussreicher Förderer von Frömmigkeit und liturgischem Kult im Gandestift gelten.

Durch die Darstellung der Topographie des Gedenkens in Form von Altären, Grabstellen und liturgischer Memoria wird der Charakter der Gandersheimer Stiftskirche als Gedächtnisort der Liudolfinger deutlich. Vor allem die erste und zweite Generation der Stifterfamilie um den gleichsam zum "Ahnherrn" des Geschlechts stilisierten Liudolf und seine Gemahlin Oda profitierte demnach von einer bis ins Spätmittelalter nachweisbaren Jenseitsfürsorge und von der Platzierung der Grabstellen in der Nähe der wirkmächtigen Heiligenreliquien in den Altären.

Im Kapitel über den Reliquienschatz in ottonischer Zeit (61-98) stehen die in byzantinische Seide des 9./10. Jahrhunderts und andere Stoffe gehüllten Reliquienpäckchen erstmals im Zentrum einer umfassenden Analyse. Unter diesen Partikeln bilden 18 aufgrund ihrer homogenen seidenen Umhüllung und der Beschriftung der zugehörigen Authentiken durch dieselbe Schreiberhand eine Gruppe, die Popp zufolge im 10./11. Jahrhundert geschaffen oder neu konstituiert wurde. Weitere rund 100 Reliquien sind nicht mehr identifizierbar, jedoch aufgrund der gleichen Verpackung dieser Gruppe zuzuordnen. Ihre noble Hülle erhielten sie wahrscheinlich im Jahre 1007 anlässlich der Neuweihe der nach dem Brand von 971/72 wieder errichteten Gandersheimer Stiftskirche. Zugegen waren König Heinrich II., Bischof Bernward von Hildesheim als für die Weihe des Hauptaltars verantwortlicher Diözesan, elf weitere Bischöfe und wahrscheinlich die Äbtissin des Essener Kanonissenstifts. Durch die umsichtige Analyse der Kultgeschichte der identifizierbaren Heiligen rekonstruiert Popp den mutmaßlichen Herkunftsort ihrer Reliquien und lässt die Heiligenpartikel als Medien deutlich werden, durch deren Schenkung oder Tausch sich soziale und politische Netzwerke knüpfen oder stärken ließen.

Plausibel mutet Popps Hypothese über den Anlass der Reliquienumhüllung und die Beteiligung mehrerer der damals anwesenden Würdenträger als Stifter an, darunter vor allem der mit Gandersheim eng verbundene König. Brisante Fragen wie die nach der Schriftheimat der Authentiken und der Existenz eines Skriptoriums in Gandersheim klammert Popp nicht aus. Wünschenswert wäre allerdings auch eine explizite paläographische Absicherung der für die Cedulae zwar zutreffenden, jedoch nur lapidar vorgeschlagenen Datierung gewesen (vgl. die ähnlich lapidare Datierung auf Seite 131). Hierauf basieren immerhin die Schenkungshypothese und die Eingrenzung des Zeitfensters für die Analyse der Kultgeschichte.

Im abschließenden Kapitel über den Gandersheimer Heiligenhimmel (99-157) stellt Christian Popp Reliquien der Gandersheimer Altäre vor und solche, die ursprünglich wohl in mobilen Gefäßen oder nicht erhaltenen Schreinen geborgen waren. In diesem Zusammenhang präsentiert er ein bislang unbekanntes Bleireliquiar, von dessen Inhalt sich zum Beispiel ein vergoldetes Brustkreuz sowie Reliquien Marias und der Jungfrau Petronilla erhalten haben. Durch die umsichtige Aufarbeitung der Kultgeschichte eher selten verehrter Heiliger wie Primitivus und Speciosa kann Popp zudem die Herkunft der Reliquien aus Corvey beziehungsweise Hildesheim plausibel herleiten. Darüber hinaus stellt er die Organisation der Prozessionen und Heiltumsweisungen sowie die Topographie und Hierarchie der Altäre in der Stiftskirche mit Hilfe überlieferter Altartituli und des "Registrum chori" dar. Grenzen werden der Rekonstruktion nicht nur durch den Verlust zahlreicher Authentiken gesetzt, sondern auch durch die Eigenart mittelalterlicher liturgischer Quellen, präzise Informationen über Reliquien und ihren Aufbewahrungsort nur selten mitzuteilen.

Methodisch bedient sich Christian Popp einer interdisziplinären und komparatistischen Vorgehensweise. Er berücksichtigt unterschiedliche Quellengattungen sowie die in einem engen Beziehungsgeflecht zu Gandersheim stehenden Damenstifte Essen und Quedlinburg. Hinsichtlich der Vielfalt und des Umfangs des analysierten Materials geht Popp weit über das in den Vorarbeiten erreichte Maß hinaus. Vor allem durch die kundige und intensive Einbeziehung der liturgischen Quellen vermag er beeindruckende Ergebnisse zu präsentieren.

Die gedankliche Durchdringung und die gründliche Aufbereitung des Themas lassen wenig zu wünschen übrig. Hilfreich wäre ein Grundriss zur Illustration der Topographie von Altären und Prozessionswegen gewesen und die Publikation der Ergebnisse der Stoffanalysen in einem Anhang. Auch über die interessante Rolle der Kanoniker für die Kultpflege in Gandersheim hätte man gerne mehr erfahren. Dass der trotz aller liturgischen Überlieferung kaum zu übersehende Mangel an direkten Quellen häufig zu nicht mehr beweisbaren Hypothesen zwingt, ist Popp selbst bewusst (130, 138), und ihm nicht anzulasten. Anders hätte zum Beispiel das bislang wenig gewürdigte Reliquiencorpus aus ottonischer Zeit gar nicht sinnvoll in die Untersuchung einbezogen werden können. Überaus wertvoll sind die angemessen kommentierte Edition und die Tabellen, mittels derer die Gandersheimer Liturgie und Heiligenverehrung sehr übersichtlich dargestellt ist.

Die Kritik an einzelnen Punkten ändert nichts an der generellen Einschätzung dieser Monographie als glanzvoller und überaus gelungener Schlusspunkt eines Forschungsprojekts über das bedeutende Damenstift Gandersheim.


Anmerkung:

[1] Martin Hoernes / Hedwig Röckelein (Hgg.): Gandersheim und Essen. Vergleichende Untersuchungen zu sächsischen Frauenstiften, Essen 2006, darin die Beiträge: Klaus Gereon Beuckers: Das älteste Gandersheimer Schatzverzeichnis und der Gandersheimer Kirchenschatz des 10./11. Jahrhunderts, 97-129; Hedwig Röckelein: Gandersheimer Reliquienschätze - erste vorläufige Beobachtungen, 33-96.

Monika E. Müller